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Hiroshima und Nagasaki verpflichten: "Atomwaffenfrei bis 2020"

Eine Rede zum Hiroshimatag 2006 auf der Domplatte in Köln

Von Regina Hagen *

Zielen, schießen, töten. So ist die Abfolge im Krieg. Zielen, schießen, töten. In Tschetschenien. Im Irak. In Afghanistan. Und jetzt auch wieder in Israel und im Libanon. Schläge und Gegenschläge. Provokationen und Reaktionen. Macht und Ohnmacht. Bomben und Raketen.

Zielen, schießen, töten – die Bomben kennen keinen Unterschied. Militärposten oder Brücken, Elektrizitätswerke oder Einsatzzentralen, Flüchtlingstrecks oder Panzerkonvois – den Bomben ist es egal. Sie fliegen ins Ziel, das ihnen vorgegeben wird. Auch, wie vergangenes Wochenende geschehen, in ein Haus, das Dutzenden von Menschen Schutz bieten soll.

Die Kinder und Erwachsenen in Kana im Südlibanon wurden von einer Bombe zerfetzt, die Experten als „konventionell“ bezeichnen. „Konventionell“ - das heißt, sie war mit „normalem“ Sprengstoff gefüllt, nicht mit waffenfähigem Uran oder Plutonium.

Können wir uns den Schrecken ausmalen, wäre es anders gewesen? Ein Atombombeneinsatz im Nahen Osten? Es wäre vermutlich ganz ähnlich gewesen wie damals in Hiroshima und Nagasaki, vor 61 Jahren. Der Überlebende Kazuo Soda hat in Köln in den vergangenen Jahren immer wieder davon erzählt.

Ein Atomwaffeneinsatz im Nahen Osten? Unvorstellbar!
Unvorstellbar? Warum eigentlich?
Kapazitäten gibt es schließlich genug in der Region. Israel hat vermutlich mehr als 200 Atomsprengköpfe in seinem Arsenal, und die nötigen Trägersysteme stehen auch bereit. Pakistan, Indien und Russland sind nicht weit weg und ebenfalls nuklear gerüstet. Damit nicht genug: Die USA halten auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik im Süden der Türkei 90 Atombomben einsatzbereit.

Ja schon, mögen sie einwenden, aber ein Atomwaffeneinsatz durch die USA ist doch eine vollkommen absurde Vorstellung. Eigentlich schon, aber nicht so absurd, dass in den USA nicht darüber nachgedacht und dafür geplant würde.

Im vergangenen Jahr wurde der Entwurf einer Doktrin bekannt, die den Einsatz von Atomwaffen durch die amerikanischen Streitkräfte regeln sollte. Die Doktrin sieht sieben Einsatzszenarien vor, gegen Terror- und Verbrecherorganisationen ebenso wie gegen „ungefähr dreißig Nationen“, die angeblich Massenvernichtungswaffen besitzen. Unter anderem listet das Papier die folgenden Optionen auf:
  • Einsatz von Atomwaffen zur Abwehr „potentiell überlegener gegnerischer konventioneller Streitkräfte“;
  • Einsatz von Atomwaffen zur raschen Beendigung eines konventionellen Krieges zu Bedingungen, die für die USA vorteilhaft sind;
  • Einsatz von Atomwaffen, um den Erfolg amerikanischer und multilateraler Militäreinsätze zu sichern, und
  • Einsatz von Atomwaffen, um zu unterstreichen, dass die USA fähig und willens sind, Atomwaffen einzusetzen.
Nein, Sie haben sich nicht verhört: Der Generalstab des US-Militärs will mit einem Einsatz von Atomwaffen auch beweisen, dass die USA zum Einsatz der schrecklichsten aller Waffen durchaus bereit sind. Noch klarer lässt sich die Perversion nuklearer Rüstung wohl kaum beschreiben.

Zweierlei Maß

Dabei messen die USA stets mit selbst festgelegtem Maß.

Dem „Schurken“ Iran beispielsweise wird ohne Beweise ein militärisches Atomprogramm unterstellt. Ganz ist das leider nicht auszuschließen, und ich hoffe weiter, dass Präsident Ahmadinejad an Stelle nuklearer Forschung in Zukunft alternative Energien fördert. Der Aufbau einer militärischen Drohkulisse aber, mit der die USA vom Iran die Aufgabe seines zivilen Nuklearprogramms erzwingen wollen, hat keinerlei rechtliche Grundlage.

Ganz anders der Umgang mit Indien. Das Land ist selbst Atomwaffenstaat, wichtiger Faktor in der Region, dem Nichtverbreitungsvertrag nie beigetreten und in punkto Atom keineswegs kompromissbereit. Dennoch wird Indien als Gegenpol zu China von den USA hofiert und kriegt jetzt auch nukleare Zusammenarbeit geboten: Mit der Lieferung von Technologie, der Aufhebung sämtlicher Handelssanktionen sowie gemeinsamen Forschungsaktivitäten bekommt Indien in Zukunft alles was es braucht, um sein nukleares Waffenprogramm ganz massiv auszuweiten.

Dadurch wird die Rüstungsspirale immer weiter angeheizt. Indiens Erzfeind Pakistan, seinerseits nuklear gerüstet, reagiert mit dem Bau eines neuen Atommeilers, der nach Einschätzung von Experten die größtmögliche Plutoniumausbeute erlaubt. Für 40 bis 50 Atomwaffen pro Jahr sei der Reaktor geeignet – und Washington: schweigt dazu. Die übrigen nuklear Habenden bleiben auch nicht abseits. Die britische Regierung will ihr Arsenal komplett modernisieren. Frankreich modernisiert auch, und zu Beginn dieses Jahres drohte der französische Präsident unverhohlen mit einem Einsatz von Atomwaffen gegen das iranische Mullah-Regime. China baut aus, Russland erneuert, und Israel bleibt bei seiner nuklearen „Ambiguität“.

Wir nehmen die Bundesregierung in die Pflicht!

So wird das nukleare Nichtverbreitungsregime ständig weiter ausgehöhlt, von Abrüstung wagt kaum noch wer zu reden. Wir aber, wir geben nicht auf in unserem Kampf für die atomwaffenfreie Welt. Eine atomwaffenfreie Welt ist möglich, und hier gebe ich einige Tipps, was wir in Deutschland dazu beitragen können.

Ende der nuklearen Teilhabe in der NATO

NATO-Atomwaffen sind nicht nur in Incirlik in der Türkei gelagert, sondern an weiteren Standorten in Europa, darunter in Büchel und Ramstein in Rheinland-Pfalz. Das darf nicht so bleiben.
  • Wir fordern die deutsche Bundesregierung auf, sich unverzüglich für den Abzug aller Atomwaffen der USA aus Deutschland und Europa einzusetzen.
  • Wir fordern das Ende der nuklearen Teilhabe in der NATO. Und:
  • Wir fordern die Streichung der nuklearen Komponente aus dem Strategischen Konzept der Allianz.
Deutschland atomwaffenfrei bis 2020

Auch Deutschland hält Atomwaffen immer noch für unentbehrlich. Im Entwurf für das neue Weißbuch des deutschen Verteidigungsministers Jung steht wörtlich:
„… Das Abschreckungsdispositiv des Bündnisses wird in Zukunft neben konventionellen weiterhin auch nuklearer Mittel bedürfen. … Das gemeinsame Bekenntnis der Bündnispartner zur Kriegsverhinderung, die glaubwürdige Demonstration der Bündnissolidarität und das nukleare Streitkräftepotenzial erfordern auch in Zukunft deutsche Teilhabe an den nuklearen Aufgaben. Dazu gehören die Stationierung von verbündeten Nuklearstreitkräften auf deutschem Boden, die Beteiligung an Konsultationen, Planung sowie die Bereitstellung von Trägermitteln. …“

Bundesminister Jung braucht nicht nur Nachhilfe in deutscher Grammatik, er liegt in seinem Weißbuch auch juristisch falsch. Selbst der Laie weiß, dass Deutschland mit der nuklearen Teilhabe deutsches wie Völkerrecht verletzt, insbesondere den Nichtverbreitungsvertrag. Die Konsequenz kann demnach nur lauten:
  • Deutschland muss atomwaffenfrei werden.
  • Deutschland muss sich aktiv an Initiativen für eine atomwaffenfreie Welt bis zum Jahr 2020 beteiligen. Und:
  • Deutschlands vollständiger Verzicht auf die nukleare Option gehört noch in dieser Legislaturperiode ins deutsche Grundgesetz, also bis spätestens 2009.
Nuclear power powers the bomb: kompletter Verzicht auf zivile Atomenergie

Zum Schluss noch einige Bemerkungen zu einem Aspekt, den wir nicht ignorieren dürfen: den engen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Kernenergie und der Verbreitung von Atomwaffen in immer mehr Länder. Deutschland zum Beispiel hat alles, was es zum Bau der Bombe braucht: Plutonium aus der zivilen Wiederaufarbeitung, Technik, Wissen. Was uns von der Bombe trennt ist nicht das Können, sondern lediglich der Wille.

Wie brisant das Thema ist, zeigt der Streit um Urananreicherung im Iran. Die Anlage in Natanz soll nichts anderes tun als die deutsche Fabrik in Gronau. In Gronau wird Uran im großindustriellen Maßstab so angereichert, dass es danach für Brennelemente taugt. Nur wenige Änderungen wären nötig, um die Anlage auf hochangereichertes Uran umzustellen. Hochangereichertes Uran ist neben Plutonium der Stoff, aus dem die Bombe ist. Solange Atomkraftwerke laufen, besteht die Gefahr eines Unfalls, eines Terroranschlags – und einer heimlichen oder offenen militärischen Nutzung. Aus meiner Sicht ist daher klar:
  • Wir müssen unsere Atomkraftwerke abschalten.
  • Unsere Vorräte an Plutonium müssen schnell beseitigt werden.
  • Der Garchinger Forschungsreaktor mit hoch angereichertem Uran muss für niedrig angereichertes Uran umgebaut oder außer Betrieb genommen werden.
  • Die Atomfabrik in Garching ist stillzulegen.
Der bislang vereinbarte Atomausstieg reicht uns noch lange nicht aus.

Hiroshima und Nagasaki verpflichten

Wir sind heute hier zusammengekommen, um den Atombombenopfern auf Hiroshima und Nagasaki vor 61 Jahren zu gedenken. Keinesfalls dürfen wir beim Gedenken verharren. Das Erbe von Hiroshima, das Leiden der Überlebenden, das Wissen um den nuklearen Schrecken und unsere Verantwortung vor der jungen Generation verpflichtet uns zum Handeln.

Packen wir es gemeinsam an: Setzen Sie sich mit uns ein für eine atomwaffenfreie Welt bis 2020.

* Regina Hagen ist Koordinatorin von INESAP, dem International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation . Sie ist aktiv im Darmstädter Friedensforum und eine Sprecherin des deutschen Trägerkreises „Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!“, der die Kampagne „Abrüstung wagen – atomwaffenfrei bis 2020“ koordiniert. Auf internationaler Ebene ist sie im globalen Netzwerk zur Abschaffung von Atomwaffen „Abolition 2000“ Mitglied des Global Council sowie im zivilgesellschaftlichen Beirat der Bürgermeisterorganisation „Mayors for Peace“.


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