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Wer zahlt nicht gern mit harter Währung?

35 Jahre Atomwaffensperrvertrag: Noch nie stand er so zur Disposition wie heute

Von Wolfgang Kötter*

Für den Kernwaffensperrvertrag, der am 5. März 1970 geschlossen wurde, könnte das 35-jährige Jubiläum das letzte sein, obwohl er als eine tragende Säule globaler Sicherheit gilt. Das nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende atomare Wettrüsten bescherte der Welt 60.000 nukleare Sprengköpfe und die vielfache Fähigkeit zur Selbstvernichtung. 1970 jedoch schien sich ein Zeitfenster der Möglichkeiten zu öffnen: Im "Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen", dem inzwischen 188 Staaten beigetreten sind, verpflichteten sich die Atommächte, ihr Vernichtungspotenzial nicht weiterzugeben, während die Nichtatomstaaten auf Kernwaffen verzichteten.

Noch zu Beginn der sechziger Jahre prophezeiten Experten für das folgende Jahrzehnt 15 bis 25 neue Kernwaffenstaaten, andere gar bis zu 50. Tatsächlich beschränkte sich die Zahl für Jahrzehnte auf fünf - die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China. Die nukleare Nichtverbreitung, wie sie 1970 im Atomwaffensperrvertrag festgeschrieben wurde, gewann als Norm der internationalen Beziehungen an Akzeptanz, auch wenn sie stets umstritten war und unterlaufen wurde.

So entwickelte das Apartheidregime in Südafrika heimlich sechs Atomsprengköpfe, die 1994 nach der Regierungsübernahme des ANC vernichtet wurden. Israel besitzt seit langem ein substanzielles Arsenal einsatzfähiger Nuklearwaffen. Indien und Pakistan erwarben außerhalb des Vertrages eine eigene Kernwaffenkapazität. Irak wurde zwar Vertragsmitglied, betrieb aber bis zum Golfkrieg 1991 ein Atomwaffenprogramm, das die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) anschließend eliminierte. Nach zahlreichen Vorwürfen wegen illegaler Aktivitäten verließ Nordkorea 2003 das Vertragsregime. Auch Ägypten, Iran, Libyen und Südkorea wurden Verstöße gegen die eingegangenen Verpflichtungen nachgewiesen - allerdings hat Tripolis inzwischen öffentlich allen Massenvernichtungswaffen entsagt, während Teheran zu erkennen gab, die Anreicherung von Uran zeitweilig aussetzen zu wollen.

Für das Nichtverbreitungsregime spricht auf jeden Fall, dass eine überwältigende Mehrheit der Staaten auf die atomare Option verzichtet hat, darunter auch solche, die temporär ihr Interesse an der ultimativen Waffe nicht verhehlen wollten wie Argentinien, Australien, Brasilien, Italien, Japan, Nigeria, Schweden, die Schweiz, Südkorea, Taiwan, nicht zuletzt die Bundesrepublik Deutschland. Auch Belarus, Kasachstan und die Ukraine schlugen das nukleare Erbe der UdSSR letztlich aus.

Die Lebensfähigkeit des Atomwaffensperrvertrages beruht auf einer fein austarierten Interessenbalance: Für ihren Verzicht auf Kernwaffen erhielten die Nicht-Atommächte Unterstützungszusagen bei der zivilen Nutzung der Kernenergie. Zugleich sicherten die Atommächte Schutz vor eventuellen Angriffen mit Nuklearwaffen zu und bekundeten ihre Bereitschaft, über atomare Abrüstung zu verhandeln. Das änderte nichts an den tiefen, sich heute zusehends verschärfenden Kontroversen über die wechselseitigen Verpflichtungen zwischen Atomwaffenmächten und Nichtnuklearstaaten.

Auf den im Abstand von fünf Jahre veranstalteten Überprüfungskonferenzen entlädt sich regelmäßig Streit über Kontrollfragen, Exportrestriktionen und Regularien für einen friedlichen Gebrauch der Kernenergie. Vorrangig entzündet sich der Disput an der Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung, weil die Kernwaffenmächte den Sperrvertrag vornehmlich als Lizenz für die Verewigung ihres Monopols betrachten und heute entschieden mehr Waffen besitzen als bei Vertragsabschluss 1970.

Als es 1995 um die unbefristete Vertragsverlängerung ging, akzeptierten die Nuklearmächte zwar einen Maßnahmenkatalog der atomaren Nichtweiterverbreitung und Abrüstung, den sie später auf ein gemeinsames 13-Punkte-Programm präzisierten. Inzwischen wird dieses Aktionsprogramm jedoch wie ein Stück Makulatur entsorgt, so dass es kaum verwundern kann, wenn die Nichtkernwaffenstaaten von "nuklearer Apartheid" sprechen.

Die fünf führenden Kernwaffenmächte lehnen derzeit multilaterale Verhandlungen über nukleare Abrüstung rundweg ab. Trotz des von den USA und Russland im SORT-Vertrag (s. Kasten) vereinbarten Abbaus von Nuklearwaffen, betreiben beide Staaten (ebenso die übrigen Kernwaffenmächte) eine qualitative atomare Aufrüstung. Die USA und China boykottieren beispielsweise den nuklearen Teststoppvertrag, um sich die Option zur Erprobung neuer Sprengköpfe offen zu halten. Diese Verweigerung hat wesentlich dazu beigetragen, die Norm der "Nichtweiterverbreitung" zu erschüttern, wird doch allen vor Augen gehalten, welchen Wert Atomwaffen als harte Währung der internationalen Beziehungen besitzen. Nur wer über die Superwaffe verfügt, erlangt in der Weltpolitik Akzeptanz - das ist die Botschaft, und sie wird verstanden. Hätte Bagdad die Bombe besessen, wäre dann der Irak angegriffen worden? Wer diese Frage stellt, sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass augenblicklich Kernkraftwerke oder Forschungsreaktoren in fast 60 Staaten betrieben werden - mindestens 40 davon verfügen über die industrielle und wissenschaftliche Infrastruktur, um in relativ kurzer Zeit Kernwaffen zu bauen.

Im nuklearen Discounter

Doch auch von innen heraus droht der Atomwaffensperrvertrag zu kollabieren. Die vorgesehene Regelung für eine friedliche Nutzung der Kernenergie erweist sich als Achillesferse des Nichtverbreitungsregimes. Zwar ist die Fabrikation von Atomwaffen verboten, erlaubt ist aber das Betreiben von Atomkraftwerken, inklusive der Urananreicherung, solange sie unter IAEA-Kontrolle steht. Diese Möglichkeit können potentielle Kernwaffenaspiranten ausnutzen und sich durch ein legales Programm mit Atomtechnologie und Spaltmaterial versorgen, um dann den Nichtverbreitungsvertrag zu kündigen und nukleare Sprengsätze zu bauen.

Alarmierend ist ebenfalls, dass ein weltweiter Atomschmuggel offenbar außer Kontrolle gerät. Seit 1995 wurden über 200 Vorfälle unerlaubten Handels mit Spaltstoffen dokumentiert. Ausgehend vom pakistanischen Atomwissenschaftler Abdul Quader Khan und weiteren Mittelsmännern, auch aus Deutschland, haben sich im "nuklearen Discounter" mutmaßlich Iran, Libyen und Nordkorea mit Know-how, Technologien und Ausrüstungen für den Bau von Kernwaffen versorgen können. Technische Anlagen für Gas-Ultrazentrifugen zur Urananreicherung werden in Malaysia und Südafrika hergestellt - Hunderte von Firmen aus über 20 Ländern erzielen in dem illegalen Beschaffungsnetzwerk Milliardenprofite. Außerdem ist das Verbreitungsrisiko längst kein zwischenstaatliches Problem mehr, da sich selbst terroristische Gruppierungen oder Bürgerkriegsparteien die Bombe beschaffen können.

Zweifelsfrei muss der Atomwaffensperrvertrag den Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden - nur wie? Für Jahrzehnte habe der Vertrag mit dazu beigetragen, eine "kaskadenartige Proliferation" von Atomwaffen zu verhindern, resümiert UN-Generalsekretär Kofi Annan. "Wenn wir jetzt keine neuen Maßnahmen ergreifen, werden wir uns vielleicht sehr bald einer solchen Kaskade gegenüber sehen." Ein Zusatzprotokoll, das den Inspektoren der IAEA weitgehende und kurzfristige Kontrollen gestattet, ist erst für 65 Staaten in Kraft getreten. Eine effektive Prävention gegen die Abzweigung oder den Diebstahl von spaltbarem Material sieht IAEA-Generaldirektor El-Baradei in einem multilateralen Umgang mit den "sensitiven Elementen" nuklearer Brennstoffkreisläufe. Das heißt, die Produktion neuen Spaltmaterials, die Kapazitäten zur Urananreicherung und Wiederaufbereitung von verbrannten Plutoniumbrennstäben sowie die Lagerung nuklearer Abfälle sollten in international verwalteten Zentren gemanagt werden. Ein weltweites Moratorium könnte die Zeit bis zu verbindlichen Vereinbarungen überbrücken.

Im Gegensatz zu diesen Bemühungen wollen die USA die vereinbarte Kooperation bei der friedlichen Nutzung von Kernenergie faktisch aufkündigen. Nach ihrem Verzicht auf Atomwaffen müssten die Nichtkernwaffenstaaten künftig auch der zivilen Nukleartechnologie weitgehend entsagen, heißt es. Besonders die Entwicklungsländer empfinden dies als doppelte Diskriminierung und weisen eine ausschließliche Abhängigkeit vom exklusiven Club der nuklearen Lieferländer zurück. Wer sich nicht arrangiert, dem drohen die USA mit ihrer präemptiven Politik der "Counterproliferation", die Geheimdienstaktionen, Luftangriffe und gegebenenfalls einen gewaltsamen Regimewechsel einschließt.

Sogar die Türkei

Die Gefahr eines Kernwaffenkrieges war nach Einschätzung von IAEA-Chef El-Baradei "noch nie so groß wie heute". Das Fenster zur Lösung des Atomproblems schließt sich rasant. Wenn es überhaupt noch eine Chance gibt, um zu verhindern, dass die internationalen Beziehungen zu einer nuklearen Wettkampfarena degenerieren, muss sofort gehandelt werden.

Im Mai treffen sich die Mitgliedsstaaten des Sperrvertrages zur nächsten Überprüfungskonferenz. Doch die Erfolgschancen stehen denkbar schlecht. Erstmals brachte der Vorbereitungsausschuss keine substanziellen Konferenzempfehlungen zustande. Vor allem die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich verhinderten jeglichen Verweis auf ihre Abrüstungsverpflichtungen. Dabei gibt es durchaus konkrete Handlungsvorschläge. So fordert Steve Andreasen, ehemaliger Direktor im Nationalen Sicherheitsrat der USA, drei Sofortmaßnahmen zur Rettung des Vertrages: Ratifikation des Teststoppvertrages; Reduzierung der amerikanischen und russischen Kernwaffen auf je 500 sowie eine Internationalisierung des nuklearen Brennstoffkreislaufs. Die Nuklearmächte müssten multilaterale Verhandlungen über Atomwaffen zulassen, den Nichtkernwaffenstaaten verbindliche Sicherheitsgarantien gewähren, auf einen nuklearen Ersteinsatz verzichten und kernwaffenfreie Zonen fördern.

An der Spitze des zivilgesellschaftlichen Kampfes gegen Atomwaffen steht die internationale Städte-Initiative Mayors for Peace (Bürgermeister für den Frieden), die auf eine Anregung von Tadatoshi Akiba, des Bürgermeisters von Hiroshima, zurückgeht. Die Organisation ruft die Einwohner der mehr als 690 Mitgliedsstädte in 110 Ländern zu Aktionen für nukleare Abrüstung auf. Auf einem "Völkergipfel" am Ort der Überprüfungskonferenz in New York sollen Bürgermeister und Bürger aus aller Welt den unverzüglichen Beginn von Abrüstungsverhandlungen einfordern. Ziel ist der Abschluss einer Atomwaffen-Konvention, deren bereits ausgearbeiteter Entwurf einen verbindlichen Zeitplan enthält, um bis 2020 eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen. Sollte die Konferenz die Forderung ignorieren, schlägt Tadatoshi Akiba vor, dass alle interessierten Staaten mit den Abrüstungsverhandlungen 60 Jahre nach dem ersten Atombombenabwurf beginnen: Am 6. August in Hiroshima.

Sollte all das scheitern, droht eine atomare Lawine loszubrechen. Staaten wie Ägypten, Algerien, Iran, Saudi-Arabien und Syrien, aber auch Brasilien, Japan, Südkorea, Taiwan und sogar die Türkei könnten den Weg zu eigenen Nuklearwaffen einschlagen.




SORT-Vertrag

Diese Abkommen über die Abrüstung strategischer Offensivwaffen (Strategic Offensive Reduction Treaty) wurde am 24. Mai 2002 von Wladimir Putin und George W. Bush in Moskau unterzeichnet und trat am 1. Juni 2003 in Kraft.

Die USA und Russland verpflichten sich darin, innerhalb von zehn Jahren ihre strategischen Kernwaffenpotenziale um zwei Drittel, auf je 1.700 bis 2.200 zu verringern. Problematisch dabei ist, dass die abgebauten Sprengköpfe nicht vernichtet, sondern eingelagert werden, so dass sie jederzeit für die Umrüstung auf neue Kernwaffen wie Mini-Nukes und Bunkerbrecher verwendet werden können. Außerdem gibt es keine Kontrollbestimmungen, und der Vertrag ist innerhalb von drei Monaten kündbar.





Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Hauptbestimmungen)

Artikel 1 Die Atomwaffenstaaten verpflichten sich, Kernwaffen nicht weiterzugeben und niemanden zu unterstützen oder zu ermutigen, derartige Waffen herzustellen oder zu erwerben.

Artikel 2 Die Nichtkernwaffenstaat verzichten auf Kernwaffen.

Artikel 3 Die Kontrolle erfolgt durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien.

Artikel 4Es gibt das Recht auf die zivile Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie und die Hilfe bei Ausrüstungen, Material und Informationen zur friedlichen Nutzung.

Artikel 5 Es gibt das Recht auf friedliche Kernexplosionen (obsolet, da aus Umweltgründen keine mehr stattfinden).

Artikel 6 Verpflichtung zu nuklearen Abrüstungsverhandlungen sowie zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung.

Artikel 7 Es gibt das Recht zur Bildung kernwaffenfreier Zonen.




Aus: Freitag 08, 25. Februar 2005


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