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Ich weiß nicht, was ein Reis ist, ich weiß nur seinen Preis

Energie und Klima - Hunger und Geld. Die Finanzkrise erfasst die reale Ökonomie und die Natur

Im Juli-Informationsbrief von Weed (NGO für Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung) beschäftigt sich der Politikwissenschaftler Elmar Altvater mit den "globalen Risiken", die zuletzt vom Weltwirtschaftsforum wie auch der OECD nicht allein wegen einer kurzfristig konjunkturdämpfenden Wirkung benannt wurden. Was allenthalben mehr beunruhigte, das waren die destabilisierenden Auswirkungen der "globalen" Risiken für Weltökonomie und Weltzivilisation. Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte die Studie in ihrer Ausgabe vom 22. August leicht gekürzt.
Wir dokumentieren im Folgenden diesen zum "Dokument der Woche" deklarierten Beitrag.



Von Elmar Altvater *

Das einer kritisch-emanzipatorischen Weltsicht unverdächtige Weltwirtschaftsforum von Davos hat in diesem Jahr "globale Risiken" in der bislang zumeist als stabil gedeuteten neoliberalen Weltordnung ausgemacht. Die tatsächlich "systemischen" Risiken bedrohen die menschliche Sicherheit. Explizit werden erwähnt: (1) die Krisen der Finanzmärkte, die erstmals (nach der Schuldenkrise der "Dritten Welt" in den achtziger und der Finanzkrise der "Schwellenländer" in den neunziger Jahren) die Zentren der Weltökonomie, die USA und Großbritannien, aber auch Deutschland, Spanien und andere EU-Länder, erwischt haben; (2) ein wachsendes Gefälle bei Einkommen und Vermögen weltweit mit den Folgen von zunehmender Armut, Hunger sowie anderen "Mangelerscheinungen", unter denen Milliarden Menschen leiden; (3) die Energiekrise, weil das Öl zur Neige geht (Peakoil) und daher die Energiepreise alle Rekorde brechen; (4) ein gefährlicher Wandel des Klimas, dessen Auswirkungen für das humane Habitat dramatisch sind, man denke an den Verlust küstennaher Landstriche, an Dürreperioden und an den prognostizierbaren Mangel an Nahrungsmitteln.

Angesichts dieser allumfassenden Krise ist die Debatte um die Frage, ob die Finanzkrise überhaupt die reale Ökonomie erreichen könne oder ob nicht finanzielle und reale Sphäre der Ökonomie sowieso voneinander getrennt seien, ziemlich abgestanden. Vom Weltwirtschaftsforum wird die umfassende globale Krise zu vier "global risks" kleingeredet. Denn die neoliberale Elite, die sich in Davos ihr Stelldichein gibt, will keinen Systemwandel, sie will sich gegen die drohende vierfache Unbill versichern. Sie weiß - das ist teuer, hofft aber wohl darauf, die Versicherungskosten irgendwie abwälzen zu können.

Auch die realpolitisch orientierten Sicherheitskreise der Industrieländer feilen an Reaktionsmustern auf die zu erwartenden Krisenfolgen. Man fasst Interventionen - oder wie es im NATO-Jargon und EU-Reformvertrag heißt - militärisch abgesicherte "Missionen" ins Auge. Für die braucht man allerdings Rechtfertigungen. Dass diese durch plumpe Lügen konstruiert werden können, haben der ehemalige Verteidigungsminister Scharping bei der Präsentation des von Geheimdiensten erfundenen "Hufeisenplans" zur Begründung der Bombardierung Jugoslawiens oder die Israelis, Präsident Bush und viele andere mit der Fälschung der Übersetzung einer Rede des iranischen Präsidenten Ahmadineshad, in der dieser angeblich die Vernichtung Israels angekündigt hat, gezeigt. Rechtfertigungen sind im Zeitalter von Massenproduktion und -konsum massenhaft produzierbar, und sie werden von den Massenmedien verbreitet und von den Massen geglaubt - so lange, bis es zu spät ist. Siehe Jugoslawien, siehe Irak.

Können aber die Krisen weder versicherungstechnisch noch politisch und militärisch bewältigt werden, ist der gesellschaftliche Kollaps, wie einige Wissenschaftler (z.B. Jared Diamond) meinen, nicht ausgeschlossen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass Gesellschaften kollabieren, weil sie ihre Naturbasis aus ökonomischer Habgier und kurzsichtigen politischen Motiven vernichtet haben. Allerdings drohte bislang diese Gefahr niemals dem gesamten Planeten. Vom Untergang der Bewohner der Osterinseln und ihrer Kultur hat man, als die Tragödie stattfand, in Europa nichts gemerkt. Das ist heute anders. Die globalen Risiken bedrohen den Globus insgesamt. Die Industrieländer befinden sich im Epizentrum aller Krisen. Sie sind dafür hauptverantwortlich.

Ein Prozent des globalen Sozialprodukts

Denn was die Nationalstaaten, transnationale Konzerne oder spekulative Fonds des Nordens unternehmen, hat Folgen für alle anderen Weltregionen. Konsequenz: Die Souveränität von Staaten im globalen Süden wird eingeschränkt, die "Vulnerabilität" der Bevölkerungen größer. Sei es dass die Krisen der Finanzmärkte Jobs vernichten, die Armut und damit den Hunger steigern; sei es dass ökonomische und soziale Institutionen, die für die gesellschaftliche Stabilität wichtig sind, kollabieren; sei es dass infolge des Treibhauseffekts Landstriche zu Wüsten oder Siedlungsgbiete überschwemmt werden. Die vierfache Krise kann Gesellschaften ins soziale und politische Chaos versetzen.

Dass dann Konflikte ausgelöst werden, dass Migrationsströme anschwellen, deren Ausläufer auch die Outposts des globalen Nordens an der mexikanisch-amerikanischen Grenzen oder auf Lampedusa im Mittelmeer oder den Kanarischen Inseln erreichen, kann nicht verwundern. Dies nicht verhindert zu haben oder nicht verhindern zu können, wird als Ausdruck schwachen Regierungshandelns und als Staatsversagen interpretiert. So hat man die Rechtfertigung des (auch militärischen) Eingriffs von außen.

Die Staatenwelt mit guter Regierungsführung hält sich dann für befugt, die "Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect, kurz: R2P) für bedrohte Menschen zu übernehmen. Das R2P-Konzept wurde nach den völkerrechtlich nicht legitimierbaren Invasionen in Jugoslawien 1999 und im Irak 2003 entwickelt und 2005 von der UNO informell akzeptiert. Dabei rangiert ein vermeintlicher "Schutz der Menschenrechte", zuerst niedergelegt in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, vor dem Respekt gegenüber nationalstaatlicher Souveränität, die im Westfälischen Frieden von 1648 als Grundsatz der internationalen Ordnung etabliert wurde. Zwei tatsächlich ehrwürdige Rechtsprinzipien werden also in einen Gegensatz gebracht.

Kann man mit der "Schutzverantwortung" den "globalen Risiken" gerecht werden? Wohl kaum, denn diese Risiken sind erstens nicht voneinander unabhängig, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Der Klimawandel ist vor allem eine Folge der Verbrennung fossiler Energieträger, deren Emissionen sich als Treibhausgase in der Atmosphäre konzentrieren. Dafür sind zu mindestens 80 Prozent die "alten" Industrieländer in Nordamerika und Westeuropa verantwortlich. Auch heute noch stammt der größte Teil der CO2-Emissionen aus Auspuffs und Schloten der "reichen" Länder.

Der Anstieg der Erdmitteltemperatur hat, wie der Weltklimarat (IPCC) oder der Stern-Report darlegen, größte Naturschäden zur Folge. Sie reichen vom Abschmelzen der Eiskappen an den Polen und dem Anstieg des Meeresspiegels über den Verlust küstennaher Gebiete bis zu ungewöhnlichen Wetterphänomenen wie Hitzewellen oder zerstörerischen tropischen Stürmen. Das alles kostet - rechnet der Stern-Review vor - bis zu 20 Prozent des globalen Sozialprodukts. Die Menschheit wird also durch den energieintensiven Lebensstil und die fossile Produktionsweise der Reichen insgesamt ärmer - es sei denn, man beugt vor, indem in den Klimaschutz Geld investiert wird. Mit einer monetären Normierung des Klimawandels wird implizit unterstellt, dass die Schäden durch einen entsprechenden finanziellen Aufwand zu vermeiden, zu kompensieren oder zu beheben seien. Die monetären Maßzahlen, wie sie in vielen internationalen Reports zur Klimakrise und den davon verursachten Folgen zu finden sind, ergeben sich aus der Logik einer zum Fetisch verklärten Warenwelt.

Bertolt Brecht reimt im Lehrstück Die Maßnahme: "Ich weiß nicht, was ein Reis ist/ ich weiß nicht, wer das weiß?/ Ich weiß nicht, was ein Reis ist,/ ich weiß nur seinen Preis". Ob es sich nun um die Klimakatastrophe oder die Finanzkrise handelt - alles hat einen Preis, und der ist hoch.

Nun kann buchhalterisch kalkuliert werden. Im 2006 erschienenen Stern-Report oder auch in den Sachstandsberichten des Weltklimarates wird vorgerechnet, dass der Verlust von 20 Prozent des globalen Sozialprodukts als Folge des Klimawandels vermieden werden kann, wenn ein Prozent des globalen Sozialprodukts für Klimaschutz präventiv aufgewendet wird. 20 Prozent Kosten kann man vermeiden mit einem Prozent für die Schutzmaßnahmen - offenbar ein gutes Geschäft.

Eine wirkliche Prävention jedoch ist nur möglich, wenn das Energieregime von der Quelle (der Gewinnung des Öls aus dem Boden) bis zur Senke (der Deponierung der Treibhausgase in der Atmosphäre) umgebaut wird, wenn also die Frage der Funktionsweise einer kapitalistischen Gesellschaft aufgeworfen wird. Gerade diese Frage aber vermeiden sowohl der "Global Risks"-Report als auch das Responsibility-to-Protect-Raster. Im Zweifelsfall erschöpft sich R2P im Wunsch nach einem militärischen Eingreifen des sich dazu legitimiert fühlenden Sachwalters der westlichen Zivilisation gegen die Schurken einer "bad governance".

Agrarbetriebe werden Spritdestille

Ein zweites Beispiel für die Zusammenhänge bietet die vor etwa einem Jahr ausgebrochene Finanzkrise. Sie hat Geldvermögensbesitzer auf der Suche nach renditeträchtigen Anlagen veranlasst, in Rohstoffe oder in Derivate von Rohstoffwerten zu investieren. Dass deren Preise in einer globalen Marktwirtschaft steigen, ist dann unvermeidlich. Also übt die Finanzspekulation mit ihrer Nachfrage nach Rohstoffwerten einen Einfluss auf die Preise fossiler Energie für den Auto-Motor und auf die Preise von biotischer Energie für die Ernährung von Menschen aus. Weil die fossilen und biotischen Energieträger zum Teil substituierbar sind, wird es bei steigenden Preisen für fossile Energie rentabel, Pflanzen als Bio-Energiequelle für Motoren zu nutzen: fuel instead of food.

Der Preisschub bei fossilen Energieträgern ist also eine Folge der finanziellen Spekulation, die die Ernährung der Menschen gefährdet. Dabei kommt der Spekulation zugute, dass sie von "fundamentalen" Tendenzen der Preissteigerung getragen wird. Das Öl hat den Höhepunkt der Förderung erreicht oder wird ihn sehr bald erreichen (Peakoil). Das Angebot lässt sich nach dem Peak nicht mehr dauerhaft steigern, bestenfalls kurzfristig. Doch ist dies mit einem hohen Kapitalaufwand für die Infrastruktur der Förderung (Tiefseebohrungen), den Transport in Pipelines und Tankschiffen, dessen militärische Sicherung und die Verarbeitung in Raffinerien verbunden. Zugleich wächst die Nachfrage nach fossiler Energie in der Welt. Denn am energieintensiven "amerikanischen way of life" lässt sich kaum rütteln und immer mehr Länder beanspruchen ebenfalls das Recht auf einen energieintensiven Lebensstil.

Doch immerhin: Wenn das Öl teurer wird, sinkt mit hoher Wahrscheinlichkeit trotz geringer Elastizität der Nachfrage der Verbrauch von Öl. Also hat die Ölpreissteigerung eine Verringerung der CO2-Emissionen zur Folge. Neoliberale Optimisten setzen darauf, dass marktbedingte Preissteigerungen bei Öl der beste Klimaschutz seien.

Doch wenn es dazu kommt, weil mehr Agrokraftstoffe in die Autotanks fließen, steigen in einer Marktwirtschaft die Preise für Nahrungsmittel. Dieser Trend wird unterstützt durch demografische Veränderungen, neue Ernährungsgewohnheiten besser gestellter Mittelklassen in der Welt, steigende Transportkosten und verteuerte Düngemittel wegen des Anstiegs der fossilen Energiepreise

Diesem Katalog hinzu fügen müsste man die Agrarsubventionen und die Exportpolitik von EU und USA, die Liberalisierung des Agrarhandels und dessen Unterwerfung unter das Regelwerk der WTO (auch wenn die Verhandlungen der Doha-Runde Ende Juli in Genf gescheitert sind), die daraus folgende Zerstörung einer autonomen Landwirtschaft und die Auslieferung der Agrarproduktion an große Agrarkonzerne. "Ernährungssouveränität" wird derart unterminiert, dass heute in vielen Ländern des Südens Nahrungsmittel so teuer sind, als wenn sie in Luxusboutiquen verkauft würden, wie der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto anmerkt. Agrarbetriebe werden zur Spritdestille umgewidmet.

Längerfristig ein "Glück im Unglück"

Diesem bitteren Sarkasmus begegnet die OECD mit neoliberaler Frivolität. Nach ihrer Auffassung könnte sich der Anstieg der Nahrungsmittelpreise längerfristig als ein "Glück im Unglück" erweisen. Denn es lohne sich nun, die Subsistenz-Landwirtschaft der weniger entwickelten Länder in ein "profitable business" zu verwandeln und die Vermarktung von Nahrungsmitteln voranzubringen. Dieser "Segen" kann sich freilich wie stets in der Vergangenheit sehr schnell in einen Fluch verkehren, weil ja mit Lebensmitteln, die zur Handelsware geworden sind, spekuliert werden kann. Sie füllen dann nicht den Bauch, sondern den Geldsack.

Daher hat die globale Krise zur Folge, dass entgegen den Millenniumszielen die Armut nicht geringer, sondern größer wird. Der eine Dollar pro Tag, der als Armutsschwelle gilt, ist nur noch 60 oder 70 Cent wert, wenn die Preise für Grundnahrungsmittel mehr steigen als für andere Gebrauchsgüter. Die britische Hilfsorganisation Oxfam weist daher darauf hin, dass immer mehr Menschen in das Heer der Armen abdriften.

Die destabilisierende Wirkung von Akteuren auf den Finanzmärkten und transnationalen Konzernen sowie einer neoliberalen Wirtschaftspolitik auf Energiepreise, Klima und Nahrungsversorgung haben mit natürlichen Bedingungen so gut wie nichts zu tun, sind aber für die Natur und die in ihr und von ihr lebenden Menschen schädlicher als ein tropischer Wirbelsturm oder ein durch ein Seebeben ausgelöster Tsunami. Anders als der Mecklenburger Heimatdichter Fritz Reuter meinte, kommt die Armut nicht "von der Powerteh", auch nicht von den "global risks". Sie ist das Resultat der Wirkungsweise des neoliberalen Kapitalismus. Die "Risiken" haben sich zu einer veritablen Systemkrise zugespitzt.

Hier schließt sich der Kreis. Unter der Knappheit von Nahrungsmitteln, der Energiearmut, der Ungleichheit und Armut leiden vor allem die Menschen im Süden; die Ursachen sind aber eher in den ökonomischen Akkumulationsbedingungen und der Wirtschaftspolitik des Norden zu finden. Der Süden wird, wenn die Krisenfolgen zur gesellschaftlichen Chaotisierung, zur Missachtung und Verletzung von Menschenrechten führen, zum Objekt der nördlichen "Schutzverantwortung". Mit ihr wird der Anspruch erhoben, Menschen dank militärischer Interventionen vor Verletzungen ihrer Rechte in einer Welt der "globalen Risiken" zu bewahren. Doch militärisch sind weder dem Klimawandel noch dem Peak­oil, weder der Finanzkrise noch der Ernährungskrise beizukommen. Das wissen eigentlich alle. Dennoch bereiten sich alle, die um die Nutzlosigkeit wissen, auf militärische Missionen vor. Dies erscheint als beste Methode, um nicht an die Wurzeln der Krisentendenzen zu rühren: an den mit fossilen Energieträgern befeuerten deregulierten und liberalisierten Kapitalismus.

Zum Weiterlesen:
  • Oxfam (2008): Another Inconvenient Truth. How biofuel policies are deepening poverty and accelerating climate change, 2008 (http://www.oxfam.org/files/bp114-inconvenient-truth-biofuels-0806.pdf)
  • Diamond, Jared (2006): Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen (S. Fischer), Frankfurt am Main
  • Stern, Nicholas 2006. Stern-Review on the Economics of Climate Change, Her Majesty´s Treasury. Government of the United Kingdom. http://www.hm-treasury.gov.uk/independent_reviews/stern_review_economics_climate_change/sternreview_index.cfm.

* Aus: Wochenzeitung "Freitag 34, 22. August 2008 (Rubrik: "Dokument der Woche")


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