Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ungerechte Verteilung schafft Hunger

Welthungerhilfe appelliert an Industriestaaten

Von Haidy Damm *

842 Millionen Menschen weltweit hungern. Dieser Skandal sei eine Folge schlechter Verteilung, erklärte Bärbel Dieckmann von der Welthungerhilfe bei der Vorstellung des Welthungerindex 2013. [externer Link]

Die Welthungerhilfe und das Washingtoner Food Policy Research Institute (IFPRI) haben am Montag in Berlin den Welthungerindex 2013 vorgestellt. Demnach ist die Zahl der Hungernden in den vergangenen 30 Jahren zwar zurückgegangen. Dennoch ist jeder achte Mensch weiterhin nicht ausreichend ernährt. »Das ist ein Skandal, denn es gibt weltweit ausreichend Lebensmittel. Aber es gelingt uns nicht, diese gut genug zu verteilten«, kritisierte die Präsidentin der Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann. Sie macht dafür auch die Politik der Industriestaaten verantwortlich: Die Förderung der Agrarindustrie, niedrige Importzölle und mangelnde Versuche, den Klimawandel einzudämmen, verschlimmerten die Situation in den armen Ländern. Mit Blick auf die europäische Flüchtlingspolitik betonte Dieckmann, dass weltweit derzeit rund 20 Millionen Menschen vor Kriegen auf der Flucht seien. Hinzu kämen 100 Millionen Menschen, die vor Hunger durch Umwelteinflüsse flüchteten. Dagegen sei die Zahl der 37 000 Flüchtlinge, die nach Europa kämen, sehr klein.

Zentraler Punkt im diesjährigen Index ist die Frage, wie die Widerstandskraft von Staaten und Gesellschaften gestärkt werden kann. Bei diesem erstmals in den Mittelpunkt gestellten, aber etwas schwammigen Begriff geht es darum, wie Menschen mit Hunger- und Nahrungsmittelkrisen umgehen. Beispielsweise könne eine starke lokale Verwaltung und Infrastruktur die Folgen einer Naturkatastrophe abmildern, weil Hilfsgüter schneller und wirksamer an ihr Ziel gelangten. Den Autoren zufolge soll die Stärkung der Widerstandskraft zentraler Ansatzpunkt für die Hungerhilfe werden. Zudem müssten humanitäre Hilfe und Entwicklungspolitik besser verzahnt werden.

Eine bessere Widerstandskraft sei ein wichtiger Grund dafür, dass in den vergangenen Jahren der Anteil der weltweit hungernden Menschen deutlich abgenommen habe, sagte Dieckmann. Im Vergleich zum Jahr 1990 hätten 23 Länder deutliche Fortschritte gemacht und ihre Index-Werte um etwa 50 Prozent oder mehr gesenkt. Dazu gehören lateinamerikanische Staaten, Thailand und Vietnam. In Südasien und einigen Staaten Afrikas sei die Situation aber weiter kritisch, so Dieckmann. In Burundi, Eritrea und Komoren sind die Werte am schlechtesten. »Wer weniger als zwei Dollar am Tag hat, kann sich keinen Krankheitsfall in der Familie und keinen Ernteausfall leisten. Die Menschen haben keine Ressourcen, um auf neue Herausforderungen zu reagieren«.

Das Datenmaterial ist jedoch umstritten: So basiert der Index auf Zahlen, die mehrere Jahre zurückliegen. »Es ist immer ein Blick in die jüngere Vergangenheit«, sagte Constanze von Oppeln, eine der Autorinnen des Berichtes. Die Daten für den Bericht 2013 stammen aus den Jahren 2008 bis 2012. Auch die Welthungerhilfe wünscht sich aktuellere Zahlen. Aus einigen Ländern gibt es zudem gar keine Daten.

Grundlage des Index sind Zahlen vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Drei Indikatoren sind dabei entscheidend: Der prozentuale Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung, die kindliche Unterernährung, also der Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die untergewichtig sind, sowie die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren. Der Welthungerindex bilde deshalb die globale Ernährungssituation besser ab als beispielsweise die Zahlen der FAO, so die Welthungerhilfe. Das erschreckende Ergebnis bleibt aber: 842 Millionen Menschen hungern.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Oktober 2013


"Es gibt genug Nahrung, um alle Menschen zu ernähren"

Roman Herre über die jüngsten Zahlen zu Unterernährung und globalem Hunger, über unzulängliche Maßnahmen der Politik und Alternativen **

Roman Herre ist Referent für Landpolitik und Welternährung der Nichtregierungsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk). Diese setzt sich dafür ein, dass alle Menschen frei von Hunger leben und sich selbst ernähren können – und kämpft für das Recht auf angemessene Ernährung auf Basis internationaler Menschenrechtsabkommen. Mit ihm sprach Guido Speckmann.


Wie beurteilen Sie den neuen Welthungerindex?

Was man ihm zugute halten muss, ist, dass er mehrere Variablen berücksichtigt – nicht nur die kalorienbasierte Unterernährung, sondern auch die Kindersterblichkeit. Auf der anderen Seite bezieht sich der Welthungerindex auf Basis der Millenium- Entwicklungsziele auf den Anteil der hungernden Bevölkerung – nicht auf die absolute Zahl. Das bedeutet: Bei einem Bevölkerungswachstum gibt es automatisch einen Rückgang des Anteils. FIAN bezieht sich daher auf die absoluten Zahlen.

Die UN-Ernährungsorganisation FAO meldete vor kurzem, dass die Zahl der Hungernden auf 842 Millionen gesunken ist. Sind Sie überrascht?

Ein bisschen. Die Abnahme ist natürlich erst einmal erfreulich. Trotzdem sind 842 Millionen Hungernde immer noch ein Skandal. Denn es gibt genug Nahrung weltweit, um alle Menschen zu ernähren.

Wie realistisch sind die Schätzungen der FAO?

Die FAO-Dokumente sprechen in Fußnoten und technischen Mitteilungen selbst von sehr konservativen Schätzungen. Somit gibt es eine Diskrepanz zu Schlagzeilen der FAO wie: »Global Hunger Down«. Die Bestimmung des Kalorienbedarfs ist bei der Ermittlung der Zahl der Hungernden zentral. Die FAO-Zahlen gehen von einem Kalorienbedarf bei bewegungsarmem Lebensstil aus. Dabei wissen wir, dass 80 Prozent der Hungernden im ländlichen Raum leben und in der Landwirtschaft tätig sind. Sie sitzen also nicht den ganzen Tag im Büro. Daher ist die angenommene Mindestkalorienzahl extrem niedrig. Es gibt Kalkulationen der FAO selbst, in denen ein moderater Lebensstil zugrunde gelegt wird. Danach würden 1,3 Milliarden Menschen hungern.

Die Hungeraufstände von 2008/09 etwa in Afrika ließen die Politik aufschrecken. Was ist seitdem passiert?

Positiv ist, dass Nahrungsmittelreserven in verschiedenen Ländern aufgestockt wurden. Das verhindert, dass bei geringeren Importen die Preise in die Höhe schnellen. Andererseits hat sich an der Politik, die zu den hohen Lebensmittelpreisen und Hungeraufständen beigetragen hat, nichts geändert. Im Gegenteil: Sie wurden noch ausgebaut. Stichwort Agrartreibstoffe und Handelspolitiken, die die agrarindustrielle Exportlandwirtschaft befördern. Oder Stichwort Privatisierungspolitiken im Bereich Land und Saatgut. Die Ursachen der Preisexplosionen sind also teilweise gar nicht angegangen worden. Auch bei der Eindämmung der Spekulation mit Nahrungsmitteln gibt es keine echten Fortschritte.

Wie können Alternativen zur Agroindustrie aussehen?

Zunächst einmal gilt festzuhalten: Die industrielle Landwirtschaft hat es in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft, die Hungernden zu ernähren. Zu kurz kommt beim Thema Produktivitätssteigerung auch dies: Wenn beispielsweise der industrielle Sojaanbau in Paraguay doppelt soviel exportiert, haben die Hungernden vor Ort nichts davon. Im Gegenteil, das Ackerland ist von einer Exportlandwirtschaft in Beschlag genommen, die nur sehr wenigen Menschen ökonomischen Nutzen bringt. Daher setzen die alternativen Ansätze darauf, dass die Nahrungsmittelproduktion in erster Linie lokal und für die Menschen vor Ort erfolgt.

Wären agrarökologische Anbaumethoden eine Alternative?

Durchaus. Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass eine arbeitsintensive kleinflächige ökologische Landwirtschaft eine sehr hohe Produktivität erreichen kann. 100 bis 200 Prozent mehr an Erträgen sind möglich. Natürlich beinhalten agrarökologische Ansätze auch eine Modernisierung der Anbaumethoden. Aber eben eine wissensintensive Modernisierung. Lokales Wissen sollte weiterentwickelt werden. Auch die Forschung müsste verstärkt lokal, von den Bauern selbst durchgeführt werden.

Wie beurteilen Sie die Korrekturbemühungen der europäischen Biosprit-Politik?

Der Plan, die Beimischungsquote von nahrungsmittelbasierten Agrarrohstoffen auf fünf Prozent zu senken, ist völlig unzureichend. Wir sind für eine komplette Abschaffung dieser Quote, weil es keine Mechanismen gibt, die etwa Verletzungen des Rechts auf Nahrung angemessen berücksichtigen. Zudem sehen wir mit Sorge, dass selbst das im Raum stehende Fünf-Prozent-Ziel weiter aufgeweicht werden soll.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Oktober 2013

Recht auf Ernährungssouveränität

Anläßlich des Welternährungstages am 16. Oktober und des Internationalen Tages für die Beseitigung der Armut am 17.Oktober erklärte am Dienstag die Vorsitzende der Partei Die Linke, Katja Kipping:

Alle drei Sekunden stirbt ein Mensch an den Folgen von Hunger und Unterernährung. Insgesamt leiden 870 Millionen Menschen an Hunger. Dagegen gehen jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel verloren oder werden entsorgt – das ist ein Drittel der Weltjahresproduktion. Nur 0,24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der reichen Länder würden genügen, um den Hunger weltweit auszumerzen. Deutschland, das wirtschaftlich stärkste Land in Europa, gibt nur ganze 0,4 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Entwicklungshilfe aus. Deutschland hat die Absicht, bis 2015 die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukt aufzustocken. Würden die Regierenden in Deutschland und die der anderen reichen Länder es tun, wären die schlimmsten Folgen von Armut – Hunger und Elend – beseitigt. Gäbe man den armen Ländern und Menschen in den Entwicklungsländern ihr Recht auf Ernährungssouveränität zurück, statt sie auszuplündern und niederzukonkurrieren, könnten diese eigene nachhaltige Ökonomien entwickeln und gesund leben. Sie müßten nicht als Migrantinnen und Migranten ihr Leben riskieren – weder im Mittelmeer noch sonst wo.



Elend dort, Überfluss hier

Weltweit wird massenweise Nahrung weggeworfen

Von Grit Gernhardt ***


Während viele Menschen nicht wissen, wie sie ihre Kinder vor dem Verhungern retten sollen, wandert anderswo tonnenweise Nahrung in den Müll.

Die Kehrseite des weltweiten Hungers ist die massenhafte Verschwendung von Lebensmitteln besonders in den reicheren Ländern der Erde. Laut einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) vom September wird auf über einem Viertel der globalen Anbauflächen derzeit Nahrung produziert, die direkt in die Mülltonne wandert. Rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel landen so jedes Jahr auf den Müllkippen der Welt. Allein jeder Bundesbürger wirft knapp 82 Kilo Lebensmittel weg.

Die Gründe dafür sind vielfältig – falsche Lagerung, ungenügende Kühlung beim Transport oder einfach die Verlockungen der Konsumgesellschaft, die die Menschen in den westlichen Indus- trieländern dazu verleiten, zu viel zu kaufen. Hinzu kommen absurde EU-Normen und die ästhetischen Ansprüche von Lebensmittelindustrie und Kunden, die dazu führen, dass krumme Gurken, knorrige Äpfel oder asymmetrische Kartoffeln oft gar nicht erst in den Regalen landen, sondern gleicht untergepflügt werden.

Würde die weltweite Nahrungsmittelverschwendung nur um ein Viertel gesenkt, könnte laut FAO-Berechnungen der größte Ernährungsnotstand behoben werden. Wird dagegen so weiter gewirtschaftet wie bisher, müsste die Nahrungsproduktion bis 2050 um 60 Prozent steigen, um die zu erwartende Bevölkerung zu versorgen. 2012 initiierte das Bundesagrarministerium die Kampagne »Zu gut für die Tonne«, die die Menge des weggeworfenen Essens zumindest in Deutschland verringern soll.

Doch die Überflussgesellschaft in einem Teil der Welt führt nicht nur zu Hungersnöten im anderen: Daneben verbraucht und verschmutzt die industrielle Landwirtschaft enorme Wassermengen, beschädigt Flora und Fauna durch Abholzung, lässt unfruchtbare Böden zurück und erzeugt enorme CO2-Mengen. Allein bei der Produktion der Lebensmittel, die nicht gegessen werden, entstehen 3,3 Milliarden Tonnen Kohlendioxid jährlich. Auch werden für das »wasted food« (verschwendete Essen) 250 Milliarden Kubikmeter Wasser aufgewendet – laut FAO etwa so viel, wie in einem Jahr die Wolga hinunterfließt.

Dass immer mehr Anbaufläche für die Produktion von Biosprit und Tierfutter beansprucht wird, stellt viele Menschen zudem vor existenzielle Probleme: Laut Bundesagrarministerium sind Böden für rund 40 Prozent der Weltbevölkerung überlebenswichtig. Werden sie ihnen von Großkonzernen entrissen (sogenanntes Landgrabbing) – zum Beispiel weil auf ihnen wirtschaftlich lohnender Sojaanbau betrieben werden soll –, bricht die Ernährungsgrundlage ganzer Regionen zusammen.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Oktober 2013


Reis-Card

Die UN privatisiert ihre Lebensmittelhilfe

Von Fabian Köhler ****


Was macht eines der weltweit größten Kreditkartenunternehmen bei syrischen Flüchtlingen? Helfen – nicht nur sich selbst.

Das Projekt klingt so surreal wie überflüssig: Statt mit Lebensmittelmarken sollen hungernde Syrer in Libanon und Jordanien ihren Reis nun mit »E-Cards« abholen und ihre Tomaten mittels eines »innovativen elektronischen Bezahlsystems« abrechnen. Und auch die Mitteilung, die der Kreditkartenkonzern Mastercard über seine Kooperation mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) veröffentlichte, lässt befürchten: Hier handelt es sich um nicht mehr als das übliche PR-Sprech, das Konzerne verwenden, wenn sie Mitmenschlichkeit als Werbefaktor entdecken. Von Menschen ist da die Rede, die sich »selbstbestimmt« frisches Obst kaufen können. Von »technischen Neuerungen«, die den «Kreislauf von Hunger und Armut« durchbrechen. Gar von der Vision, dass eine »Welt ohne Bargeld auch eine Welt ohne Hunger schaffen kann«.

800 000 Flüchtlinge sollen vom System elektronischer Lebensmittelmarken bis Jahresende profitieren – und ein Konzern, dessen halber Jahresgewinn allein ausreichen würde, um alle vier Millionen bedürftige Syrer mit Nahrung zu versorgen. Doch jenseits der Imagekampagne lassen die Fakten tatsächlich hoffen, dass es am Ende syrische Flüchtlinge sind, denen die Zusammenarbeit zugute kommt.

»Keine zunehmenden laufenden Kosten«, verspricht die deutsche Pressesprecherin des WFP, Katharina Weltecke, gegenüber »nd«. Im Gegenteil: Durch den Wegfall der Papiergutscheine werde Geld gespart, das in die Versorgung von syrischen Flüchtlingen gesteckt werde. Deren Konsum komme zudem lokalen Händlern statt westlichen Lebensmittellieferung zugute.

Weniger konkret äußerte sich das US-Kreditkartenunternehmen. Von »Akzeptanzstrukturen für elektronischen Bezahlungsverkehr« und der Stilllegung »dubioser Schattenkanäle« spricht ein Mitarbeiter des Unternehmens anonym gegenüber »nd«. Doch der Eindruck, hier bereichere sich eine private Firma am Leid hungernder Menschen, bestätigt sich nicht. »Mehrere Millionen« stecke Mastercard in das System, sagt der Mitarbeiter. Sicherlich weniger, als eine Werbekampagne mit vergleichbarer Reichweite kosten würde.

So bleibt am Ende nur jenes Übel, an dem weder Mastercard noch das WFP etwas ändern können: Vier Millionen Syrer muss das Welternährungspogramm im Oktober mit dem Nötigsten versorgen. Nicht einmal 27 Euro stehen monatlich für eine fünfköpfiger Familie zur Verfügung. »Das Geld reicht hinten und vorne nicht«, sagt Weltecke. Ein Grund: die geringe Spendenbereitschaft der Geberstaaten, die die weltweit größte humanitäre Organisation zum chronisch unterfinanzierten Bittsteller macht. Dadurch würden Kooperationen wie jene mit Mastercard überhaupt erst nötig.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Oktober 2013


Zurück zur Seite "Armut, Hunger, Massenelend"

Zur Globalisierungs-Seite

Zurück zur Homepage