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Das Recht auf Nahrung steht bisher nur auf dem Papier

Ute Hausmann: Die Ursachen des Hungers werden nicht angepackt

Ute Hausmann ist Geschäftsführerin von FIAN Deutschland. Das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk wurde 1986 gegründet und setzt sich als internationale Menschenrechtsorganisation dafür ein, dass alle Menschen frei von Hunger leben und sich eigenverantwortlich ernähren können. FIAN beruft sich insbesondere auf den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, der bereits 1976 verabschiedet und seitdem von 160 Staaten ratifiziert wurde. Mit Hausmann sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling.



ND: Im ersten Halbjahr 2008 erlebten verschiedene Staaten Amerikas, Afrikas und Asiens Hungeraufstände. Seitdem sind die Rekordpreise für Nahrungsmittel wieder gefallen, eine Rekordernte wurde eingefahren. Trotzdem steigt die Zahl der Hungernden, erstmals wurde 2009 die Milliardenschwelle durchbrochen. Wie erklärt sich das?

Hausmann: Der Preisrückgang bei Nahrungsmitteln spielt sich vor allem auf dem Weltmarkt ab, aber selbst dort liegt das Niveau noch über dem von 2007. Darüberhinaus sind in etlichen Entwicklungsländern die Preise nicht so stark gesunken wie auf dem Weltmarkt.

Zum anderen kommt selbstverständlich die Weltwirtschaftskrise verschärfend hinzu. Sie trifft die Einkommenssituation der Ärmsten in den Entwicklungsländern dramatisch: Zum einen ist ein sehr deutlicher Rückgang der Überweisungen von Verwandten aus den Industriestaaten zu verzeichnen – diese Devisenquelle übersteigt die Entwicklungshilfezahlungen schon seit Jahren bei weitem. Außerdem haben die Entwicklungsländer seit 2008 zusätzlich zu den bisherigen Ausgaben 270 bis 700 Milliarden Dollar für den Import von Nahrungsmitteln ausgeben müssen.

Und was generell schwer wiegt: Strukturell wurden die wirklichen Ursachen des Hungers bisher nicht angepackt.

An Problembewusstsein scheint es nicht zu fehlen. Im Juni 2008 und im Januar 2009 fanden Welternährungskonferenzen statt. Die UNO hat eine hochrangige Arbeitsgruppe zur globalen Ernährungskrise eingesetzt, in der neben der Welternährungsorganisation FAO auch das Dreigestirn der Weltwirtschaft sitzt: Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation. Die Förderung der Landwirtschaft ist ihre Maxime. Ein Muster ohne Wert? Nicht ohne Wert, aber mit eindimensionaler Ausrichtung. 2008 wurde die kurzfristige Nahrungsmittelhilfe deutlich gesteigert, was in der akuten Krise sicher auch unumgänglich war. Doch schon der Investitionsansatz ging fehl: Es wurde an Kleinbauern Hybridsaatgut und Kunstdünger verteilt, womit die Bauern weder Erfahrung hatten noch waren die Mittel für die Trockenperiode überhaupt geeignet. Gleichzeitig greifen Länder wie China, Südkorea, Indien und die Golfstaaten immer häufiger Agrarland in Afrika ab. Rund ein Viertel dieser Investitionen geht laut dem Forschungsinstitut IFPRI in die Biotreibstoffproduktion, der Rest dient zur Produktion von Nahrungsmitteln für die Investorenländer selbst. Der Zugang zu Land und Wasser für die einheimischen Kleinbauern wird dadurch zunehmend gefährdet, die Ernährungssouveränität abgebaut.

Was ist mit der Vision einer Globalen Partnerschaft für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit, wie sie auf den G8-Gipfeln 2008 in Toyako und 2009 im italienischen L'Aquila propagiert wurde? Einschließlich der Zusage von 20 Milliarden US-Dollar für Investitionen. Gibt es einen Wandel in der globalen Agrarpolitik?

Wir können keine substanzielle inhaltliche Änderung in den politischen Ansätzen feststellen. Investiert wird insbesondere dort, wo Profite winken. Man setzt darauf, dass private Unternehmen ein Interesse haben, in die Landwirtschaft zu investieren. Ernährungssouveränität zu stärken, ist dabei kein Kriterium. Die Finanzierungsgesellschaft IFC der Weltbank hat allein im vergangenen Jahr 2,2 Milliarden US-Dollar an Unternehmen vergeben, die in die Landwirtschaft investieren. Bei den Investitionen darf es aber nicht darum gehen, ausschließlich in Kunstdünger und Saatgut zu investieren, ohne Strukturen wie die Landverteilung zu berücksichtigen. Die Weltbank macht sich weiter für individualisierte Landrechte und eine Liberalisierung der Agrarmärkte stark. Sie hat in 40 Entwicklungsländern Beratungen durchgeführt, die darauf setzen, den Landwirtschaftssektor weiter zu liberalisieren. Das sind alles Punkte, die sehr für Business as usual stehen.

Stellen sich Regierungen im Süden der Liberalisierung entgegen?

Die Schwierigkeit für die Entwicklungsländer ist, dass sie aufgrund der Auslandsverschuldung auf Exporterlöse angewiesen sind. Deswegen fördern viele die Exportproduktion und sind dann darauf angewiesen, in der Europäischen Union oder auch den USA Marktzugang zu bekommen. Deshalb lassen sie sich sehr stark darauf ein, auch ihre eigenen Märkte zu öffnen. Gerade im Zusammenhang mit den Verhandlungen zu den sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten haben wir festgestellt, dass es für die afrikanischen Staaten sehr schwierig ist, ihre Bauern zu schützen.

Wer kommt als Anwalt für die Kleinbauern überhaupt in Frage? Die Welternährungsorganisation FAO ja eher nicht, oder?

Die FAO kann man nicht als den Anwalt der Kleinbauern bezeichnen. Sie hat aber Potenzial. Das FAO-Welternährungskomitee, das jetzt reformiert wird, soll eine sehr starke Vertretung der Kleinbauernorganisation selbst haben. Das wäre wirklich sehr bedeutend, da wir momentan nicht sehen, dass es eine große Zahl von Staaten gäbe, die sich wirklich die Anliegen der Kleinbauern auf ihre Fahne geschrieben haben.

Das Menschenrecht auf Nahrung ist seit 1976 durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte offiziell verankert, ebenso die Rechte von Kleinbauern auf eine würdige Existenz. Die Umsetzung steht aus. Warum?

Es fehlt zum einen an der Umsetzung in den einzelnen Ländern. Da sehen wir aber sehr viel Bewegung. Vielerorts fordert die Zivilgesellschaft eine stärkere Rechenschaftspflicht von den Regierungen. Dieselbe Rechenschaftspflicht soll auch international gestärkt werden. Deswegen müssen die Leitlinien zum Recht auf Nahrung, die bei der FAO existieren, zur Grundlage für die Überprüfung der Politik durch das Welternährungskomitee werden.

Das deutsche Entwicklungsministerium bekommt nach elf Jahren eine neue Spitze. Was erwarten Sie?

Wir hoffen und gehen davon aus, dass die ländliche Entwicklung bei der nächsten Bundesregierung an Bedeutung gewinnen wird. Noch nicht absehbar ist für uns, welchen Stellenwert die Menschenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit bekommen werden. Problematisch sehen wir, dass CDU und FDP sich in der letzten Legislatur dafür stark gemacht haben, die Entwicklungszusammenarbeit stärker deutschen Wirtschaftsinteressen unterzuordnen. Das ist gerade in den Bereichen Investitionsförderung und Handel für die Ernährungssicherheit und das Recht auf Nahrung sehr zentral. Die Wirkung wäre sicher kontraproduktiv.

Zahlen und Fakten - Welthunger-Index

Der Welthunger-Index (WHI) wurde vom Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) in Washington im Auftrag der Deutschen Welthungerhilfe entwickelt und 2006 zum ersten Mal veröffentlicht. Dafür werden Ursachen und Erscheinungsformen von Unterernährung und Hunger in Entwicklungs- und Schwellenländern untersucht. Anhand verschiedener Messgrößen wird dabei für jedes Land ein »WHIWert« ermittelt und eine Rangliste erstellt. Grundlage des Indexes sind der Anteil der Unterernährten in der Bevölkerung, der Anteil untergewichtiger Kinder unter fünf Jahren und die Sterblichkeitsrate von Kleinkindern. Die Daten stammen von den UN-Organisationen für Ernährung (FAO) und Gesundheit (WHO) sowie vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF. In weiteren Studien wird der WHI-Wert unter anderem mit dem Bruttonationaleinkommen, der Aids-Infektionsrate und der politischen Stabilität in den Ländern verglichen.

Der Index 2009 führt einige Staaten auf, die bemerkenswerte Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers erzielt haben: Zwischen 1990 und 2009 erzielten Kuwait, Tunesien, Fidschi, Malaysia und die Türkei die größten prozentualen Verbesserungen. Angola, Äthiopien, Ghana, Nicaragua und Vietnam konnten ihre absoluten Werte im Welthunger-Index deutlich verbessern. Aber immer noch gibt es 29 Staaten, deren Hungerstatus als alarmierend beziehungsweise extrem alarmierend bezeichnet werden muss. Die Länder mit den höchsten WHI-Werten sind Äthiopien, Tschad, Sierra Leone, Eritrea, Burundi und als Schlusslicht die Demokratische Republik Kongo. In den meisten Ländern mit hohen WHI-Werten sind es Kriege und gewaltsame Konflikte, die zu einem weiteren Anstieg von Ernährungsunsicherheit geführt haben. Nahezu alle Staaten, deren WHI-Bewertung sich nach 1990 verschlechtert hat, liegen in Afrika. ML



* Aus: Neues Deutschland, 16. Oktober 2009

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Hier geht es zur Weltkarte: Welthunger-Index 2009 nach Schweregrad.


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