Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Rückkehr des Krieges in die Politik:

Vom Kosovo über Afghanistan und Irak bis Libyen und Syrien

Von Peter Strutynski *

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Vortrag, den der Autor am 30. August 2013 anlässlich einer Antikriegstagsveranstaltung im Gewerkschaftshaus zu Lübeck gehalten hat. Aus dem umfassenden Manuskript haben wir die Einleitung sowie Teil III und IV ausgewählt, die sich im engeren Sinn auf das Thema beziehen und auf die gegenwärtige Weltlage einschließlich der zurückliegenden und drohenden kriege (Syrien!) eingehen.


(...) Mit dem Begriff „Rückkehr des Krieges in die Politik“ knüpfe ich an den Friedenspolitischen Ratschlag an der Uni Kassel vom Dezember letzten Jahres an, der unter diesem Motto stand und sich zwei Tage lang u.a. mit der Frage beschäftigte, ob es wirklich gerechtfertigt ist, von einer Rückkehr des Krieges zu sprechen, wo doch der Krieg in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer eine Rolle gespielt hat. Kriege haben selbst während der Zeit des atomaren Patts der beiden großen Blöcke stattgefunden und haben nach dem Ende der Blockkonfrontation sogar eine neue Dynamik entfaltet. Ich finde die Formel von der Rückkehr des Krieges in die Politik dennoch angebracht, und zwar unter dem Aspekt der von herrschender Seite immer offener vorgenommenen Legitimierung des Krieges als „normales“ Mittel der Politik. Das Clausewitz‘sche Diktum vom Krieg als der „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ feiert also, wenn man so will, fröhliche Urständ‘. Dass Kriege vielfältiger Art in verschiedenen Regionen unserer Welt geführt werden, ist schlimm genug. Dass sie aber wieder in die herrschende Ideologie Eingang gefunden haben, sozusagen salonfähig geworden sind, das ist der eigentliche Skandal auf der diskursiven Ebene.

Damit hängt die Demontage des Völkerrechts unmittelbar zusammen. Die Bedeutung des Völkerrechts als einem für die internationalen Beziehungen konstituierenden System bindender Verträge, Abkommen, Regelungen und Verkehrsformen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Völkerrecht und sein institutioneller Unterbau, die Vereinten Nationen, müssten m.E. einen viel größeren Stellenwert in den öffentlichen politischen Diskussionen haben, als dies zur Zeit bei uns der Fall ist. Erst wenn deutlich gemacht wurde, was das Völkerrecht für die Entwicklung des Zusammenlebens von über sieben Milliarden Menschen in 192 Staaten geleistet hat, werden wir auch ermessen, was seine „Demontage“ für negative Folgen haben kann.

Schließlich wird darüber zu sprechen sein, wie die heutige Weltordnung beschaffen ist und warum ich diese Ordnung eher als Welt-UN-Ordnung qualifiziere, wobei nicht nur die Welt aus den Fugen gerät, sondern die UN, die Vereinten Nationen also, einen mehr oder weniger großen Anteil an dieser Unordnung haben. An den großen kriegerischen Konflikten der letzten 20 Jahre – vom NATO-Krieg gegen Jugoslawien über die Kriege in Afghanistan, Irak und in Libyen bis zum drohenden Krieg gegen Syrien lässt sich das sehr gut zeigen.

Die Bearbeitung der angesprochenen Themen wird aber in einer anderen Reihung erfolgen. Ich werde zunächst ein paar Grundzüge der gegenwärtigen Weltordnung, auch im Blick auf die eher düstere Entwicklung im 21. Jahrhundert, benennen. Damit hängt unmittelbar zusammen der zweite Schritt: die Rückkehr des Krieges. Im dritten Teil werde ich über die ideologischen und faktischen Angriffe auf das Völkerrecht sprechen. Und im vierten Teil werde ich die Kriege der letzten Zeit Revue passieren lassen und auf den Syrien-Konflikt ein gehen.

(...)

III Angriffe auf das Völkerrecht

(...) Worauf gründet das moderne Völkerrecht? Nun, ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Menschheit nach den Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts zwei wichtige Schlussfolgerungen gezogen hat: Erstens: Es dürfe keinen Krieg, vor allem keinen weiteren Weltkrieg geben, weil damit die Selbstvernichtung der Menschheit drohe. Diese grauenvolle Perspektive haben nicht zuletzt die Atombombenexplosionen über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 aufgezeigt. Und zweitens: Es muss eine Nachkriegsordnung geschaffen werden, in der Garantien für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens eingebaut werden. Solche Garantien sollten z.B. darin bestehen, dass die Hauptkriegsverbrecherstaaten Deutschland und Japan entmilitarisiert wurden. Der Kalte Krieg hat dann dafür gesorgt, dass dieses Projekt schnell wieder ad acta gelegt wurde.

Im Völkerrecht setzte sich vor allem ein allgemeines Gewaltverbot durch. Nach Art. 2, Abs. 4 der UN-Charta ist nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern auch schon deren Androhung in den internationalen Beziehungen untersagt. Des Weiteren findet sich in Art. 1 der allgemein Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker und in Art. 2, Abs. 2 die territoriale Unversehrtheit und politische Souveränität der Staaten. Die Souveränität der Staaten, auch der kleinsten von ihnen, war dabei als so zentral empfunden worden, dass deren Schutz mehrfach verankert wurde und im „Nichteinmischungs-Artikel (Art. 2 Ziffer 7) sozusagen ihre Krönung fand.

Es gibt lediglich zwei Ausnahmen von diesem strikten Gewaltverbot: Einmal nach Art. 51, in dem das individuelle und kollektive Recht auf Verteidigung gegen eine militärische Aggression verankert ist; und zum zweiten nach Art. 42, wonach der UN-Sicherheitsrat militärische Zwangsmaßnahmen verfügen kann, wenn, wie es in Art. 39 heißt, „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“.

Trotz dieser eindeutigen Völkerrechtslage wird spätestens seit dem Kosovo-Konflikt 1999 der humanitären Intervention das Wort geredet. Zum Schutz von Menschenrechten, so lautet die Argumentation, könne die internationale Gemeinschaft sich über das Nichteinmischungsgebot und das Gewaltverbot hinwegsetzen. Völkerrechtler haben für solche „Notfälle“ dann die Formel gefunden: Das sei zwar nicht legal, aber „legitim“.

Über die elektronischen Medien erhalten wir sozusagen in Echtzeit Kenntnis von Gräueltaten, die rund um den Globus in zahlreichen Bürgerkriegen und bewaffneten Konflikten geschehen und die an unser Gewissen appellieren. Wenn im syrischen Bürgerkrieg Zivilpersonen ums Leben kommen; wenn in Mali angeblich eine Machtübernahme blutrünstiger Islamisten bevorsteht: Muss man da nicht eingreifen um das Morden oder die Zerstörung von Kulturdenkmälern zu beenden? Dieses „Helfersyndrom“ hatte sogar Teile der „grünen“ Friedensbewegung schon während der Auseinandersetzungen auf dem Balkan in die Arme der NATO getrieben. Der NATO-Krieg gegen Rest-Jugoslawien 1999 wurde denn auch geschickt als Einsatz zur Verhinderung einer „humanitären Katastrophe“ verkauft. Die danach einsetzende Debatte um die Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“) haute in dieselbe Kerbe und stellt heute eines der zentralen Einfallstore für die Wiederkehr des Krieges in die Politik dar.

Unter dem Begriff „Responsibility to Protect“ wird der an sich nicht unsympathische Gedanke propagiert, dass die Weltgemeinschaft eine Verantwortung auch für die Menschen übernehmen muss, deren Regime zu schwach oder nicht gewillt sind, einen ausreichenden Menschenrechtsschutz für ihr Staatsvolk zu gewährleisten. Auf kanadische Initiative hin war im Jahr 2000 eine 12-köpfige „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS) eingerichtet worden, der eine Reihe ehemaliger hochrangiger Politiker und Militärs angehörte. Ein Jahr später veröffentlichte ICISS ihren Bericht mit dem Titel „The Responsibility To Protect“. Die zentrale These der Autoren ist, dass „souveräne Staaten eine Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Katastrophen – vor Massenmord und Vergewaltigung, vor Hunger -, zu schützen, dass aber, wenn sie nicht willens oder nicht fähig dazu sind, die Verantwortung von der größeren Gemeinschaft der Staaten getragen werden muss.“ (Übersetzung: P.S.) In einem solchen Fall würde der Grundsatz der Nicht-Intervention zugunsten der internationalen Schutzverantwortung aufgegeben.

Der R2P-Bericht selbst ist janusköpfig. Einerseits bindet er den Einsatz von militärischer Gewalt an ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Andererseits aber plädiert er für die Einschränkung des Vetorechts der fünf ständigen Sicherheitsrats-Mitglieder, falls sich dieser als unfähig erweist, tätig zu werden. Hinzu kommt, dass der Bericht bei der Suche nach möglichen Gründen für Militärinterventionen Anleihen bei der Theorie des „gerechten Krieges“ macht, so wenn etwa eine gerechte Sache (causa iusta) verfolgt werde, oder wenn als primäre Motivation (recta intentio) die Rettung von Menschenleben behauptet wird. In solchen Fällen könnten nämlich Staatengruppen oder einzelne Staaten auch ohne Beschluss des Sicherheitsrats intervenieren. 2005 fand der Gedanke der Schutzverantwortung Eingang in das Abschlussdokument der UN-Generalversammlung – nicht als neue Völkerrechtsnorm (die kann dieses Gremium auch gar nicht kreieren), sondern als Prüfauftrag an die Staatengemeinschaft bzw. als Aufforderung an die Staaten, „ihren Schutzverpflichtungen gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung gewissenhafter nachzukommen“ (Paech/Stuby, 570).

Mit dem Schutz der Bevölkerung vor Giftgasangriffen hätte eine Militäraktion in Syrien ohnehin nichts zu tun. In einer Erklärung, die vom Gesprächskreis Frieden der Rosa-Luxemburg- Stiftung gestern (29. Aug. 2013) verabschiedet wurde, heißt es:
„Eine bewaffnete Intervention in Syrien würde zu einer unkontrollierten Eskalation des Krieges führen. Raketenangriffe von US-Kriegsschiffen oder von Stützpunkten in der Region und Luftangriffe machen weder vor Zivilisten noch vor zivilen Einrichtungen halt. Die syrische Bevölkerung ist das größte Opfer dieses Bürgerkrieges gewesen. Es darf keine weiteren Opfer und Zerstörungen durch Bomben der USA und der NATO geben! Bomben werden die Bevölkerung weder vor erneuten Giftgasanschlägen schützen noch vor der Repression und Kriminalität des Assad-Regimes. Die begrenzte Wirkung sog. Präzisionswaffen ist eine Illusion. Krieg schützt nicht, sondern tötet.“

Mittlerweile macht sich ein weiterer Diskussionsstrang breit: Die unverhüllte Propagierung des Rechts auf Rohstoff- oder Energiesicherung. Condoleezza Rice hatte in ihrer Amtszeit als US-Außenministerin unter Präsident George W. Bush noch die "transformational diplomacy" erfunden. Sie sollte eine Richtschnur für die Politik der USA insbesondere jenen Regimen gegenüber sein, die sich nicht unter das weltpolitische oder ökonomische Diktat der USA beugen wollten. Die Wirklichkeit war aber dann weniger von "Diplomatie", sondern mehr von Intervention und Krieg geprägt. Die erste Außenministerin unter Barack Obama, Hillary Clinton, hat nun im Oktober l.J. in einer programmatischen Rede eine neue "Diplomatie" ins Spiel gebracht: "energy diplomacy", Energiediplomatie (siehe Porter 2012). Damit ist sie einerseits näher dran an den realen Problemen der Politik - die sich bei knapper werdenden Ressourcen immer mehr um deren Sicherung bemüht -, verschleiert aber die Gewaltdimension der "Energiediplomatie". Schließlich wurden und werden um der Sicherung fossiler Energieressourcen Willen Krieg am Golf, in Afghanistan und in Libyen geführt.

Mag sein, dass eine solche Offenheit im Zeitalter von Wikileaks, Facebook und Twitter oder von allgegenwärtigen Überwachungsdrohnen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es werden sich in Zukunft immer mehr Politiker finden, die sich sagen: „Da die Welt unseren Verschleierungstaktiken bei den Kriegen gegen Afghanistan oder Irak nicht auf den Leim gegangen ist, versuchen wir es mit einer Vorwärtsstrategie und sagen den Menschen, was wir wirklich vorhaben.“ Und die Sicherung der fossilen Energievorräte oder anderer den Wohlstand der reichen Länder begründender Rohstoffe dürfte ja auch auf das Interesse einer großen Mehrheit der Bevölkerung stoßen, diesen Wohlstand – mag er noch so bescheiden ausfallen – gegenüber den wirklichen Habenichtsen dieser Welt zu verteidigen. Hoffen wir, dass sie rechtzeitig merken, dass die eigentlichen Nutznießer der „Energiediplomatie“ und anderer Strategien zur Rohstoffsicherung für die Staaten des reichen Nordens nicht die Masse der Bevölkerung, sondern die Shareholder der großen Energie- und Rohstoffkonzerne dieser Welt sind. – Mit dem Völkerrecht hat dies alles aber nichts mehr zu tun.

Dem Völkerrecht vollkommen fremd ist auch der Begriff „Strafmaßnahme“ oder „Bestrafung“. Davon wird ja im Zusammenhang mit den Giftgasangriffen in Syrien geredet. Militärische Strafmaßnahmen sind nichts anderes als Rachefeldzüge, die einer vormodernen Denkungsart entspringen und vom Völkerrecht genauso geächtet sind wie Angriffskriege. Bestraft werden können nur Personen, Verantwortliche etwa für ein Kriegsverbrechen. Die einzige Instanz, die dafür zuständig ist, ist aber nicht das Weiße Haus oder das Pentagon in Washington, sondern der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.

IV Von Kosovo über Afghanistan, Irak und Libyen bis nach Syrien

Seit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Beginn der „neuen Kriege“ bemühen sich Regierungen und Mainstream-Medien, den Einsatz militärischer Gewalt mit ständig wechselnden Argumenten zu begründen, die sich indessen auf ein Grundmuster zurückführen lassen: Immer geht es angeblich um den Schutz der Menschen vor Angriffen desavouierter Diktatoren und ihrer entmenschten Soldateska, um die Verteidigung von Menschenrechten oder die Errichtung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse in den angegriffenen Staaten. Die Bilder der Diktatoren gleichen sich: Milosevic war der Hitler des Balkan, Saddam Hussein der Hitler des Nahen Ostens und Gaddafi der Irre aus Libyen. Blutrünstig ist der Despot in Damaskus und religiös verblendet die fanatisierten Steinzeit-Islamisten der Taliban in Afghanistan. Und vergessen wir nicht den Judenhasser Ahmadinedschad, der ebenfalls auf Hitlers Spuren zu wandeln schien.

Trotz dieser Feindbilder, welche die Medien bemüht sind, der kriegsmüden und friedensseligen Gesellschaft einzubläuen, verhält sich das gemeine Volk aber immer noch störrisch. Es gibt in der deutschen Bevölkerung weit und breit keine Kriegsbereitschaft. Für den Krieg in Afghanistan gab es niemals eine Mehrheit – außer der im Bundestag. Selbst in Großbritannien mucken die Labor-Abgeordneten gegen den Syrien-Kriegskurs von Premier Cameron auf. Und in den USA scheinen dem Friedensnobelpreisträger Obama die eigenen Leute die Gefolgschaft zu versagen.

Möglicherweise haben die kriegskritischen Menschen den kriegsbereiten Politikern die Erfahrung voraus, dass Krieg kein Problem löst, sondern eher neue Probleme schafft. Wenn wir die im Titel meines Vortrags genannten Kriege Revue passieren lässt, so fällt ein extremer Mangel an immanentem Erfolg und ein extremer Überschuss an verursachten Problemen auf.

Die serbische Provinz Kosovo, die sich vor vier Jahren eigenmächtig und entgegen UN-Beschlüssen von Serbien losgesagt und für unabhängig erklärt hat, ist heute noch ein lebensunfähiges Gebilde, das ohne fremde Hilfe der EU keinen Tag selbständig existieren könnte. Im Kosovo regiert ein bevollmächtigter der EU und unter deren Schirmherrschaft herrschen korrupte Mafiastrukturen.

Der Afghanistan-Krieg hat die von der NATO-Kriegsallianz verfolgten offiziellen Kriegsziele weit verfehlt: Welches waren diese Ziele? Vertreibung der Taliban, Einführung von Menschen- und Frauenrechten, eine blühende Ökonomie und eine stabilisierte Region. Heute ist Afghanistan ein gescheiterter Staat, dessen Zentralregierung kaum über Kabul hinausreicht, dessen Ökonomie allenfalls aus blühenden Mohnfeldern besteht und in dem Frauenrechte nach wie vor Wunschdenken sind. Hinzu kommt die Ausweitung des Konflikts nach Pakistan, sodass die USA den Großteil ihres illegalen Drohnenkriegs auf Pakistan konzentriert haben. Islamistische Gotteskrieger (Dschihaddisten), die ihr Handwerk in Afghanistan, Pakistan oder Saudi-Arabien gelernt haben, treiben ihr kriegerisches Unwesen heute in allen Staaten des Krisengürtels von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Zentralasien.

Der Irakkrieg 2003, der wie erinnerlich am 1. Mai 2003 mit dem Spruch des obersten US-Kommandeurs George W. Bush für beendet erklärt worden war („Mission accomplished“), nahm erst danach so richtig an Fahrt auf. Heute steht der Irak vor dem völligen Zerfall seiner staatlichen Einheit. Die nordirakischen Kurdengebiete sind de facto schon lange selbständig; der Kampf zwischen Sunniten und Schiiten um die Verteilung der Ölrente nimmt selbstmörderische Züge an. Das einzig Tröstlich an der Situation ist die Tatsache, dass der Hauptkriegstreiber, die USA, aus diesem Krieg – ökonomisch gesehen – leer ausging.

Nach Berechnungen der IPPNW gehen die Opferzahlen in den Kriegen Afghanistan, Pakistan und Irak bis an die Millionengrenze. Auch das ein Beleg für unsere These, dass Kriege ungeeignet sind, Menschen zu schützen, sondern selbst immer mehr Leid und Zerstörung heraufbeschwören.

Die deutsche Bundesregierung wurde von den völlig verhetzten Mainstream-Medien an den Pranger gestellt, als sie sich im UN-Sicherheitsrat einer Militäraktion gegen Libyen der Stimme enthielt. Es ging in der Resolution 1973 um die Herstellung einer Flugverbotszone zum Schutz der Bevölkerung. Die NATO machte daraus einen veritablen Luftkrieg, der schließlich im Verbund mit den „Rebellen“ am Boden zum Sturz des Regimes führte. Es war fast wie im Kosovo-Krieg: Die NATO-Flieger bombardierten aus großer Höhe; die Rebellen (im Kosovo war es die terroristische UCK) besorgten den Rest am Boden – bis zur regelrechten Hinrichtung Gaddafis.

Und zu Syrien habe ich einiges bereits gesagt. Nur noch so viel (vgl. zum Folgenden die oben genannte Erklärung aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung): Der erbittert geführte Bürgerkrieg in Syrien rührt zu Recht an das Gewissen der Menschen auch in unserem Land. Der bewaffnete Kampf hat nach Angaben der UNO bereits über 100.000 Menschen das Leben gekostet. Nun hat der Krieg mit dem Einsatz von Giftgas eine neue grauenhafte Dimension erreicht. Chemische Waffen zur Kriegführung sind international geächtet. Ihr Einsatz verstößt damit gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht und ist unter keinen Umständen akzeptabel.

Aber: Wechselseitige Schuldzuweisungen beruhen bisher nur auf Vermutungen. Gesichert ist lediglich, dass beide Parteien über Giftgas verfügen.

Die Geschichte der fabrizierten Vorwände, um einen Krieg zu rechtfertigen, ist bekannt: Von dem Zwischenfall in der Tonking-Bucht im Vietnam-Krieg über das „Massaker“ an Babys in Kuwait bis zu den „Massenvernichtungswaffen“ im Irak – so wird auch jetzt der Chemieangriff benutzt, um militärische Sanktionen zu rechtfertigen. Die Rolle der Geheimdienste bei all diesen großen Täuschungsmanövern ist zu bekannt, als dass man ihren „Erkenntnissen“ heute noch glauben kann.

Auch in dieser verzweifelten Situation darf das Völkerrecht nicht geopfert werden. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass die Armee Assads Giftgas eingesetzt hätte, wäre eine militärische Intervention ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats völkerrechtswidrig. Strafsanktionen sind auch dem Sicherheitsrat im Rahmen der UN-Charta verwehrt. Selbst für humanitäre Katastrophen ebenso wie für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen und Völkermord ist für eine militärische Aktion ein Mandat des Sicherheitsrats notwendig. Obama scheint gewillt zu sein, ein solches Mandat gar nicht erst abzuwarten. Spätestens jetzt müsste er seinen unverdienten Friedensnobelpreis zurückgeben.

Fazit

Mein Fazit ähnelt einem Provisorium. Gewiss: Die reale Politik und ihre Legitimation laufen auf eine Rückkehr des Krieges in die Politik hinaus. Dies setzt das Schleifen wesentlicher Bastionen des geltenden Völkerrechts wie das Souveränitätsprinzip und das Gewaltverbot voraus. Zugleich entwickelt sich die neue Weltunordnung derart desaströs für die Menschheit – und zwar nicht nur der Dritten Welt -, dass auch der Widerstand dagegen zunehmen wird. Harald Welzer hat in der Einleitung zu seinem Buch „Klimakriege“ die Hoffnung geäußert, dass er doch bitte mit seinen düsteren Prophezeiungen Unrecht behalten möge. Sein Wunsch wird aber nur dann in Erfüllung gehen, wenn soziale Kräfte auf den Plan treten, die den Zug in den Abgrund zum Anhalten zwingen. Hier darf zwar die Verantwortung der Friedensforschung und unsere Verantwortung als Friedenbewegung nicht aufhören, sie wird diese Aufgabe aber nur zusammen mit der Zivilgesellschaft stemmen können.

* Vortrag auf einer Veranstaltung der VVN-BdA, amnesty international, terre des hommes und der Humanistischen Union am 30. August 2013 in Lübeck, Gewerkschaftshaus.
Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; Website: www.ag-friedensforschung.de


Literatur:
  • Charta der Vereinten Nationen, 1945. In: Völkerrechtliche Verträge, hrsg. von Albrecht Randelzhofer, (10. Aufl.) 2010
  • Eric Hobsbawm (1995): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München
  • Eric Hobsbawm (1999): Die neuen Nationalismen. In: Die Zeit, 06.05.1999
  • ICISS (2001): The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Canada 2001
  • Norman Paech (2013): Totalangriff auf das Völkerrecht. In: Peter Strutynski (Hg.), Die Rückkehr des Krieges in die Politik, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Bd. 20, Kassel (erscheint im Sommer 2013)
  • Norman Paech, Gerhard Stuby (2013): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, (aktualisierte Ausgabe) Hamburg
  • Charlene Porter (2012): Clinton: Energie gewinnt in der Außenpolitik an Bedeutung, hrsg. Vom Amerika Dienst, 19.10.2012
  • Andreas Rinke, Christian Schwägerl (2012): 11 drohende Kriege. Künftige Konflikte um Technologien, Rohstoffe, Territorien und Nahrung, C. Bertelsmann: München
  • Werner Ruf (1994): Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrats mit der Souveränität der „Dritten Welt“, Münster
  • Peter Strutynski (2013): Profitgesteuert: Klima- und Rohstoffkriege im 21. Jahrhundert und die Europäische Union. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 94, Juni 2013, S. 23-33
  • Harald Welzer (2012): Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. S. Fischer: Frankfurt am Main 2008


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