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Raketenabwehr-Test gescheitert - Aus für NMD?

Clinton: Projekt nicht in Frage gestellt - US-Senat gegen weitere Tests

Der dritte Test des umstrittenen US-Raketenabwehrsystems NMD (National Missile Defense) ist am 8. Juli 2000 gescheitert. Vorgesehen gewesen war, dass eine Abfangrakete (so genanntes Killer-Vehikel) die Attrappe eines nuklearen Sprengkopfes über dem Pazifik zerstören sollte. Das Killer-Vehikel trennte sich nicht von der zweiten Stufe der Trägerrakete, sodass der Versuch abgebrochen werden musste. Dieser Fehlschlag war deshalb so bitter für die Betreiber, weil der aufgetretene Fehler gar nicht ins Kalkül gezogen worden war. Mit anderen Worten: Es gibt mehr technische Probleme, als die Macher im Pentagon sich eingestehen wollten. Neben dem Fehler bei der Trägerrakete seien auch noch Probleme mit einem als Täuschung dienenden Ballon aufgetreten; der Ballon blies sich nicht auf.

Der dritte Test mit dem NMD kostete rund 100 Mio. US-Dollar. Das gesamte System, das die USA anschaffen wollen - es soll aus 100 Abfangraketen bestehen - würde rund 74 Milliarden DM kosten. Von den bisher durchgeführten drei Tests war nur einer - der erste - "erfolgreich" im Sinne des Pentagon. Test 2 und 3 erwiesen sich als Fehlschläge.

In den USA war der dritte Test als Entscheidungshilfe für Präsident Clinton angesehen worden. Ein Erfolg wäre wohl gleichbedeutend gewesen mit dem Startsignal zur Anschaffung des NMD-Systems. Der Rückschlag bringt den Präsidenten in Schwierigkeiten. Erste Reaktionen aus Washington zeigen aber, dass Clinton an NMD festhalten will - die Republikaner haben sich ohnehin dafür entschieden. Aus dem US-Verteidigungsministerium verlautete unmittelbar nach dem Fehltest, dass für Oktober oder November ein neuerlicher Testlauf vorgesehen sei. Auf seinem Flug nach China äußerte sich Verteidigungsminister Cohen am 10. Juli bei einem Zwischenstopp in Alaska dahingehend, dass er in drei bis vier Wochen darüber entscheiden werde, ob er Präsident Clinton die Fortsetzung des Projekts empfehlen könne (vgl. NZZ vom 12.07.00). In dieser Zeit werde er mit Experten über die Machbarkeit des Systems beraten. Der Test selbst sei eine Enttäuschung gewesen. Cohen betonte aber, dass der Fehlschlag nicht das Aus für die Zukunft des Projekts bedeuten müsse. Er behalte sich ein Urteil vor, bis alle Fakten auf dem Tisch lägen. Er verwies darauf, dass der Versuch als Folge einer Reihe von Pannen gescheitert sei, die nichts mit der Abfangtechnik zu tun hätten. Er selbst, fügte Cohen hinzu, sei weiterhin von der Notwendigkeit einer nationalen Raketenabwehr überzeugt. Clinton könnte damit noch während seiner Amtszeit die Weichen für die Produktion des Systems stellen.

Schadenfreude aus Moskau und Peking

Erste Reaktionen aus den Hauptstädten Russlands und Chinas zeigten sich erleichtert und ein wenig schadenfroh über den misslungenen Test. Das ist verständlich: Richten sich doch die US-Pläne nicht so sehr gegen eventuelle Raketenangriffe von so genannten Schurkenstaaten (die US-Administration strich im Juni das Wort "Schurkenstaat"-"rogue state" aus seinem Vokabular), also von (Nord-)Korea, Irak oder Libyen, sondern gegen die Nuklearmächte Russland und China. Dort würde eine Entscheidung der USA für NMD zu umfangreichen Gegenmaßnahmen, sprich: Aufrüstungsmaßnahmen führen und somit einen neuerlichen Rüstungswettlauf in Gang setzen. Die russische Regierung hat immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass AMD den alten ABM-Vertrag verletzen würde und somit Russland die Möglichkeit gäbe, sich ihrerseits auch nicht mehr an diesen Vertrag zu halten. Doch auch die europäischen Verbündeten Washingtons dürften nicht traurig sein über den Fehltest. Ihnen waren die US-Raketenpläne ohnehin nicht geheuer, da sie sowohl eine Abkoppelung der "Sicherheit" der USA von der Europas befürchten als auch gezwungen gewesen wären, selbst nachzuziehen - entweder indem sie sich unter den Abwehr-"Schirm" der USA begeben (und dessen Kosten übernehmen!), oder indem sie ein eigenes System entwickeln würden. Für beides fehlt aber das Geld, da die europäischen Staaten ihre Rüstungsanstrengungen eher auf die Interventionsfähigkeit ihrer Streitkräfte richten wollen (Stichwort: EU-Einsatzkräfte und nationale Interventionsarmeen) als auf einen zweifelhaften nuklearen Abwehrschirm.

US-Senat lehnt weitere Tests ab

Die Friedensbewegung in den USA und in Europa kann momentan zufrieden sein. Bis zuletzt haben Friedensorganisationen, Nobelpreisträger und pensionierte Diplomaten und Militärs in den USA versucht Clinton zur Umkehr zu bewegen. Ein erfolgreicher Test, soviel war klar, würde eine schnelle Entscheidung für NMD nach sich ziehen. Der misslungene Test bedeutet nun zwar auch nicht das Ende von NMD, aber es ist doch ein herber Rückschlag für die US-Administration und eine Chance für die NMD-Gegner, ihren Kampf weiter zu führen und vielleicht noch zu verstärken. Der amerikanische Senat hat denn auch prompt, am 13. Juli, einen Antrag zu Fall gebracht, der sich für eine weitere Erprobung des Raketenabwehrsystems aussprach. Der Antrag war vom demokratischen Senator Dick Durban (illinois) eingebracht worden und forderte die Regierung zu weiteren Tests auf, von denen die endgültige Entscheidung über das Vorhaben abhängig gemacht werden sollte. Der Antrag wurde mit 48 gegen 52 Stimmen abgelehnt. Die Ablehnung kam aber nicht nur von Raketengegnern. So mancher Senator dürfte der Ansicht sein, dass das NMD in jedem Fall angeschafft werden müsse, es also weiterer Tests gar nicht bedürfe. Dennoch: Die Entscheidungsgrundlage für Clinton ist nicht besser geworden.

Für die Friedensbewegung ist eines klar: Sollte NMD kommen, setzt dies eine neue Rüstungsspirale in Gang, an deren Ende nicht weniger, sondern mehr Atomwaffen, nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für die Menschheit stehen würde.

Pressemeldungen und -meinungen

Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 10.07.00 u.a.:
Für die neue Verteidigungspolitik von US-Präsident Bill Clinton bedeutet dies einen herben Rückschlag. Noch in diesem Jahr müsste der Präsident eigentlich entscheiden, ob das Raketenabwehrsystem wirklich aufgebaut werden soll. Nach dem 100 Millionen Dollar teuren Fehlschlag scheint es aber möglich, dass er dies seinem Nachfolger überlassen wird. Denn der Präsident ist zwar per Gesetz verpflichtet, für die Verwirklichung des Projekts zu sorgen, allerdings erst dann, wenn ihm dies technisch machbar erscheint. Clinton hat das Raketenabwehrsystem und den alten Zeitplan aber noch nicht ganz aufgegeben. Die Pläne sind zwar auch in der Regierung umstritten, das Weiße Haus warnte am Wochenende jedoch davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. "Wir sollten die Sofort-Analyse vermeiden", sagte ein Sprecher Clintons.

Das Raketenabwehrsystem soll die USA unter anderem vor Überraschungsangriffen aus Nordkorea, Iran und Irak schützen. Nach den Regierungsplänen wären dazu 20 Abwehrraketen nötig und ein hochmodernes Radarsystem in Alaska. Die Kosten werden auf 30 bis 60 Milliarden Dollar beziffert (umgerechnet etwa 60 bis 120 Milliarden Mark). Das Bauprojekt würde nach Schätzung von Experten fünf Jahre in Anspruch nehmen, weitere 16 Tests wären während dieser Zeit noch vorgesehen. Der nächste ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums schon für Oktober oder November geplant.

Die Zeit drängt. Denn nach Schätzung amerikanischer Sicherheitsexperten könnten Nordkorea und möglicherweise auch Iran bereits im Jahr 2005 in der Lage sein, die Vereinigten Staaten mit Langstreckenraketen zu bedrohen. Will Clinton sein Land vor dieser Bedrohung rechtzeitig bewahren, müssten Arbeiten zum Aufbau des neuen Raketenabwehrsystems bereits im nächsten Jahr aufgenommen werden. Sicherheitsexperten zeigten sich nach dem gescheiterten dritten Test allerdings skeptisch, dass dieser Zeitplan noch eingehalten werden kann. US-Luftwaffengeneral Ronald Kadish sagte am Wochenende: "Der Test zeigt, dass wir noch mehr Entwicklungsarbeit leisten müssen".

Präsident Clinton will nun zunächst eine Machbarkeitsstudie von Verteidigungsminister William Cohen abwarten, bevor er sich zur Zukunft des neuen Rüstungsprojekts äußert. Cohens Empfehlungen werden in drei bis vier Wochen erwartet. Clinton, so hieß es im Nationalen Sicherheitsrat, werde dann voraussichtlich im Herbst entscheiden, ob es beim bisherigen Zeitplan bleiben werde. Das Nachrichtenmagazin Time spekulierte, dass sich Clinton für eine abgespeckte Version entscheiden werde, die zum einen umfangreich genug ist, um Vizepräsident Al Gore nicht im Wahlkampf zu schaden, andererseits bescheiden genug, um die drohenden Konflikte mit den europäischen Partnern, Russland und China zu umgehen. Moskau hat bereits mit der Kündigung von Abrüstungsvereinbarungen gedroht, weil der Schutzschild gegen den ABM-Vertrag über Raketenabwehrsysteme verstoße.

Clintons Kritiker, die Republikaner ebenso wie die Demokraten, fühlen sich durch den Fehlschlag unterdessen gestärkt. Die Demokraten im Kongress, die das neue Raketenabwehrsystem als "zu riskant" erachten, forderten die Regierung auf, die Pläne fallen zu lassen. Senator Byron Dorgan sagte, es sei schwer vorstellbar, dass der Präsident ein Raketenabwehrsystem in Auftrag gebe, "das nicht funktioniert". Aber auch die Republikaner, die ein umfassenderes System als Clinton fordern und nicht nur auf dem Boden, sondern auch im All ein Abwehrsystem installieren wollen, fühlten sich bestätigt. Der republikanische Präsidentschaftskandidat George W. Bush versprach, dass die Entwicklung eines derartigen Abwehrsystems in seiner Regierung Priorität haben werde. Um die technische Machbarkeit zeigte sich Bush unbesorgt. Der Test am Wochenende sei zwar eine Enttäuschung gewesen. "Die richtige Führung vorausgesetzt, wird Amerika aber ein funktionierendes Abwehrsystem entwickeln können".

In der Frankfurter Rundschau hieß es am selben Tag u.a.:
In Moskau wurde das Scheitern des Tests mit Genugtuung aufgenommen. Der Kommandeur der russischen Langstreckenraketen-Streitmacht, General Wladimir Jakowlew, nannte das Projekt Geldverschwendung. Russische Experten werteten den Fehlschlag als Beleg dafür, dass ein Raketenschutzschild technisch nicht machbar sei. Der Leiter der Internationalen Abteilung des Verteidigungsministeriums, Leonid Iwaschow, warnte Washington indirekt vor neuem Wettrüsten. Russland werde es immer schaffen, eine Raketenabwehr zu überwinden. Die Regierung in Peking erklärte, die Raketenabwehr sei nur dazu gedacht, den USA ungestraft einen Atomangriff zu erlauben. Frankreichs Außenminister Hubert Védrine hatte die USA bereits am Vorabend des Tests gewarnt, das Projekt werde "negative Reaktionen hervorrufen".

Und dieselbe Zeitung kommentierte (Jochen Siemens):
...Präsident Clinton sollte .. auf eine Festlegung für die Nationale Raketenabwehr (NMD) in diesem Jahr verzichten. Dass dies aus sachfremden Gründen, nämlich Zwängen des Wahlkampfes, schwierig ist, ändert nichts an dieser Konklusio.
Findige Juristen loten aus, wie weit Clinton gehen kann, ohne den ABM-Vertrag zu verletzen. Und das vor allem auch, um seinen Vize und erhofften Nachfolger Al Gore nicht als demokratisches Weichei in Sachen Verteidigung im Wahlkampf aussehen zu lassen. Die republikanische Mehrheit im Kongress, wie auch ihr absehbarer Präsidentschaftskandidat George Bush, werden jedes Zögern des Präsidenten in Wahlkampfmunition umgießen.
Trotzdem: Das Bedrohungsszenario ist vage, die außenpolitische Problematik enorm, die technische Machbarkeit zweifelhaft. Alles spricht deshalb dafür, in diesem Jahr keine weit in die Zukunft reichenden Entscheidungen zu treffen.

Der Kommentar (Peter Münch) in der Süddeutschen Zeitung geht in eine ähnliche Richtung. Ein Auszug daraus:
Die Gegnerschaft speist sich aus zwei Quellen: aus eigener Betroffenheit und aus allgemeiner Angst vor neuer globaler Instabilität. Direkt betroffen fühlen sich vor allem die Chinesen und die Russen. Selbst wenn in den USA betont wird, dass sich der Raketenschutzschild nur gegen die neuerdings so genannten Risikostaaten wie Nordkorea, den Irak oder Iran richten würde, gehen Moskau und Peking davon aus, dass es den Amerikanern zumindest längerfristig auch um eine Änderung des atomaren Gleichgewichts geht. Besonders die Chinesen sind alarmiert, denn bereits in der ersten Ausbaustufe wäre ihr gesamtes Atomwaffenarsenal praktisch unschädlich gemacht. Hinzu kommt die Befürchtung, dass die Amerikaner, wie bereits einmal angekündigt, auch Taiwan unter einen Schutzschild nehmen könnten.
Konsequenterweise müsste Peking aufrüsten, um sich sein nukleares Bedrohungspotenzial zu erhalten. Dies könnte, so fürchten vor allem die Europäer, zu einer neuen Rüstungsspirale in Asien führen. Herausgefordert fühlen würde sich zunächst die neue Atom- und aufstrebende Regionalmacht Indien; und wenn Indien aufrüstet, muss der Erzfeind Pakistan nachziehen.
Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist die Gegnerschaft zum NMD-Projekt auch zu einer Prestigeangelegenheit geworden. Sein Faustpfand ist der bilaterale ABM-Vertrag von 1972. Er basiert auf der Idee, dass beide Seiten gleichermaßen verletzbar sind für Raketenangriffe. Der Aufbau eines amerikanischen Abwehrsystems wäre also ein Vertragsbruch. Um die Argumente der Gegner zu entkräften, hat Washington seine NMD-Emissäre rund um die Welt geschickt - vorne weg Präsident Bill Clinton, der in Europa und in Moskau persönlich für den Plan warb. Doch für die Kritiker birgt das Projekt mehr Gefahren als es abzuwehren vorgibt.

Die Sonntagszeit der Hessischen Allgemeinen (Peter Ochs)kommentierte bereits am 9.07.00 lakonisch:
Seit den Tagen des Film-Sherifs Ronald Reagan auf dem amerikanischen Präsidentensessel schwärmen die Militärs von der Idee eines Abwehrsystems, das die USA gegen Raketenangriffe immun macht. Es ist der alte Traum der Unverwundbarkeit: schießen zu können ohne selbst getroffen zu werden.
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Für die politischen Folgen eines neuen Rüstungswettlaufs fehlt den Strategen im Pentagon und im US-Kongress offensichtlich jedes Gespür. Sollte Gouverneur George Bush sie Präsidentenwahlen gewinnen, könnten gar die alten Pläne von einem Satelliten-gestützten Abwehrsystem wieder aus der Schublade gekramt werden. Allen Warnungen der Verbündeten in Europa zum Trotz.
Vielleicht gibt der Fehlschuss von gestern Präsident Bill Clinton etwas Luft zum Nachdenken, ob es sich lohnt, die Ergebnise realer Entspannungspolitik für eine Utopie zu opfern.

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