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Die Raketenabwehrpläne der USA

Konsequenzen für die internationale Sicherheit

Im folgenden dokumentieren wir - mit leichten Kürzungen - eine Analyse eines Friedenswissenschaftlers aus der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Nicht alle darin getroffenen Einschätzungen dürften die ungeteilte Zustimmung der Friedensbewegung finden. Sonderbar mutet etwa der Rat an die Europäer an, sie sollten die Raketenabwehrpläne der USA nicht einfach ablehnen, denn so könne man keinen politischen Einfluss auf die Entscheidungen der USA gewinnen. Die Position Thränerts geht offenbar dahin, eine leicht abgespeckte Raketenabwehr der USA zu befürworten, wenn sie denn im Einvernehmen mit Russland geschieht und von atomarer Abrüstung begleitet ist. Er geht sogar so weit, auch den Europäern entsprechende Raketenabwehr-Systeme (sowohl taktischer Art zur "Abwehr eigener Streitkräfte bei Auslandseinsätzen" als auch strategischer Art "zum Schutz europäischen Territoriums") zumindest gedanklich nahe zu legen. Dem liegt offenbar ein Bedrohungsszenario zugrunde, das sich vollständig mit US-amerikanischem Denken deckt: Es gilt sich vor drohenden Raketen aus den Schurkenstaaten Irak, Nordkorea oder Iran oder vor Raketen aus Staaten wie Pakistan und Indien zu schützen. Die "Angst der Amerikaner vor den 'Schurken'" ist offenbar auch die Angst des Autors. - Der folgende Beitrag ist also nicht nur interessant wegen seines Faktenreichtums, sondern auch weil er zeigt, in welchen gefährlichen, weil auf Aufrüstung zielende Bahnen SPD-nahe "Friedens"wissenschaftler zu argumentieren beginnen.

Die Angst der Amerikaner vor den "Schurken"

Eine Analyse von Dr. Oliver Thränert
(Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin)

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Während der neunziger Jahre hat sich in den USA ein Gefühl breit gemacht, wonach die klassischen Bedrohungslagen des Kalten Krieges durch eher diffuse Gefahren ersetzt worden seien. Ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Debatte ist dabei - anders als in Europa - das Problem der Verbreitung von ABC-Waffen. Damit einher ging die von vielen geteilte Überzeugung, dass die klassischen Instrumente zur Abwendung internationaler Bedrohungen, wie Abschreckung und Rüstungskontrolle, nun nicht mehr von der einst überragenden Bedeutung sein würden.

Hinzu kommen eine Reihe von Misserfolgen der Rüstungskontrolle, die in den neunziger Jahren deutlich wurden. Ein Beispiel ist die Erkenntnis, wonach die Sowjetunion, wahrscheinlich auch später Russland, jahrelang gegen das Verbot von biologischen Waffen verstoßen hat. Ein anderes Beispiel ist der Versuch Nordkoreas zu Beginn der neunziger Jahre, trotz Mitgliedschaft im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) an den IAEO-Inspektionen vorbei Kernwaffen zu entwickeln. Schließlich spielte der Irak in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Erstmals kämpften US-Streitkräfte im Golfkrieg gegen einen Gegner, der über chemische und biologische Waffen verfügte und - trotz Mitgliedschaft im NVV - kurz davor stand, auch Kernwaffen zu bauen. Nach dem Krieg gelang es trotz jahrelanger Inspektionen nicht, die vor dem Golf-Krieg heimlich durchgeführten Programme für ABC-Waffen gänzlich aufzuklären. Dies alles hat bei vielen in den USA dazu beigetragen, sich von der Rüstungskontrolle als Instrument der Nichtverbreitungspolitik abzuwenden und nach anderen Wegen zu suchen, der Gefahr der Verbreitung von ABC-Waffen zu begegnen.

So berechtigt die Kritik an der Rüstungskontrolle sein mag, so bedauerlich ist es, dass die politische Führungsmacht USA selbst nicht unerheblich zur Schwächung der Rüstungskontrolle beitrug. Diese Entwicklung wurde teilweise durch eine zunehmende Polarisierung im Kongress verursacht. Dort fanden sich immer weniger Senatoren, die Rüstungskontrolle aktiv unterstützten. Die USA sollten - so die Sichtweise der Falken auf Seiten der Republikanischen Partei - die Chance ihrer derzeitigen Überlegenheit nutzen, um ein für alle Mal Amerikas Sicherheit durch militärische Stärke anstatt durch Rüstungskontrollverträge zu gewährleisten.

Diese extreme Position ist zwar einflussreich, bildet gleichwohl aber nicht den Mainstream der amerikanischen Debatte. Dass Nichtverbreitungspolitik mehr umfassen muss als Rüstungskontrolle, schon weil sich nicht alle Staaten ihr unterwerfen, dies ist --anders als in Europa - jedoch von allen Experten anerkannt. Dabei geht es in erster Linie um militärische Vorkehrungen zum Schutz amerikanischer Truppen bei Auslandseinsätzen, aber auch zum Schutz des amerikanischen Territoriums gegen Angriffe mit weitreichenden Waffen. Das Raketenabwehr-Projekt nimmt in diesem politischen Kontext einen zentralen Platz ein.

Die Verbreitung von Raketen und ABC-Waffen

Hinzu kommen veränderte Bedrohungsszenarien: ein unbeabsichtigter oder unautorisierter Raketenstart in Russland; ein absichtlicher oder unautorisierter Raketenstart in China; und ein beabsichtigter Raketenangriff einer feindlichen Macht, die sich Raketen mit großer Reichweite verschafft hat. Tatsächlich sind in einigen Ländern Entwicklungen sichtbar geworden, die konkret das Gefühl der Bedrohung in den USA geschärft haben. So kam der Start der nordkoreanischen Taepo-Dong-I-Rakete im August 1998 einem Schock gleich, denn bis dahin war nicht angenommen worden, dass Pjöngjang die Mehrstufentechnologie bei Raketen beherrschen würde.

Auch in anderen Ländern sind die Arbeiten an Raketen weiter vorangeschritten. So soll Iran eine Shahab-IV-Rakete mit mehr als 2.000 Kilometern Reichweite entwickelt haben. Irak, das seit Herbst 1998 keinen Kontrollen der UNSCOM mehr unterlag, scheint sich intensiv um Raketentechnologie zu kümmern. Pakistan testete im April 1999 erfolgreich die Ghauri-II-Rakete, ebenfalls mit mehr als 2000 Kilometern Reichweite. Zum gleichen Zeitpunkt testete Indien die Agni II (2500 Kilometer Reichweite) und besitzt offenbar die Fähigkeit zum Bau einer Interkontinentalrakete von bis zu 5000 km Reichweite. Besonders besorgniserregend ist aus amerikanischer Sicht die Tatsache, dass einige dieser Länder in der Vergangenheit bei der Raketenentwicklung kooperiert haben und einige, besonders Nordkorea, gewillt zu sein scheinen, ihre Raketen zu einem Exportschlager zu machen.

Die Rolle der Clinton-Administration und des Kongresses

Auch nach dem Ende der SDI-Pläne Ronald Reagans war in der Republikanischen Partei der Wunsch nach einem Raketenabwehrsystem nie vollständig verstummt. Nicht zuletzt auf Grund des von ihr ausgeübten politischen Drucks gab die Clinton-Administration im Januar 1999 bekannt, sie würde bis zum Sommer 2000 eine Entscheidung über die Stationierung eines Raketenabwehrsystems treffen, die auf vier Kriterien beruhen würde:
  • der Bedrohung durch Raketen;
  • den Kosten des geplanten Abwehrsystems;
  • den Implikationen für die Rüstungskontrolle;
  • und den Fähigkeiten der zur Verfügung stehenden Technologie.
Auch damit gaben sich die Republikaner nicht zufrieden. Sie forderten dazu auf, eine Raketenabwehr zum Schutz gegen begrenzte Raketenangriffe zum technisch frühestmöglichen Zeitpunkt zu errichten. Im März 1999 verabschiedete der Senat mit der überwältigenden Mehrheit von 97:3 Stimmen eine Resolution, die ein entsprechendes Vorgehen der Administration forderte. Allerdings wurde in einem Zusatz zu der Resolution hervorgehoben, dass der Senat weitere Abrüstungsrunden über strategische Kernwaffen mit Russland befürwortete.
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Die derzeitigen amerikanischen Pläne zum Aufbau einer Raketenabwehr

Die geplante Raketenabwehr würde in drei Phasen errichtet werden. Phase 1 sieht die Stationierung von 100 Abfangraketen vor, die mehr als 10 Sprengköpfe abfangen könnten. Bereits existierende Radareinheiten müssten verbessert und eine neue errichtet werden.

Weitere Verbesserungen sind für Phase 2 vorgesehen, um auch Angriffe abfangen zu können, die unter Verwendung von Gegenmaßnahmen durchgeführt werden.

In der dritten Phase würden mehr Radareinheiten und bis zu 200 Abfangraketen, einige davon auf einem zweiten Stationierungsgelände, aufgebaut werden. Das gesamte System sollte so flexibel sein, dass es nochmalige Erweiterungen zulassen würde.
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Kompromiss mit Moskau? START III, tiefe Einschnitte bei den strategischen Kernwaffen und die Änderung des ABM-Vertrages

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Die amerikanischen Raketenabwehrpläne sind - wie die Clinton-Administration zugibt - mit dem ABM-Vertrag in seiner derzeitigen Form unvereinbar. Doch haben sich die strategischen Umstände geändert. Der Ost-West-Konflikt gehört der Vergangenheit an, während inzwischen durch die Verbreitung von Raketen und ABC-Waffen neue Bedrohungen entstanden sind. Die entscheidende Frage ist nun, ob es für Russland akzeptabel sein würde, einer Änderung des ABM-Vertrages zuzustimmen, so dass das Abkommen mit der geplanten amerikanischen Raketenabwehr vereinbar wird.

Entscheidend dabei wird sein, dass die USA mit aller Klarheit ihren Willen verdeutlichen, mit ihrer geplanten Raketenabwehr keine strategische Überlegenheit gegenüber Russland anzustreben. Amerika müsste also erstens einer ABM-Vertragsänderung zustimmen, die die Anzahl der Abwehrsysteme weiterhin begrenzt hält. In der Tat hat Washington Moskau bereits im Januar diesen Jahres ein Protokoll zum ABM-Vertrag vorgeschlagen, das zunächst den Aufbau des US-Abwehrsystems gemäß der geplanten Phase 1 erlauben würde. Es ginge also um die - auch durch Inspektionen zu überprüfende - begrenzte Stationierung von 100 Abwehrraketen. Allerdings wollen sich die USA die Option weiterer Vertragsänderungen offen halten.

Zweitens müsste ein Abkommen zur Änderung des ABM-Vertrages an einen Vertrag zur paritätischen Begrenzung strategischer Kernwaffen auf möglichst niedrigem Niveau gekoppelt werden. Da Moskau Gefahr läuft, auf Grund seiner mangelnden Ressourcen seine strategischen Streitkräfte nicht mehr auf hohem zahlenmäßigen Niveau aufrechterhalten zu können, käme ein solcher Handel seinen Interessen klar entgegen. Die Alternative zu einem solchen kooperativen Vorgehen wäre aus russischer Sicht durchweg negativ. Falls es nicht zu einem Handel mit den Amerikanern käme, würden diese wahrscheinlich einseitig aus dem ABM-Vertrag aussteigen, so dass die Aufstellung von Abwehrsystemen keinerlei Beschränkungen mehr unterliegen würde. Bei den strategischen Kernwaffen wäre Washington frei, seine Streitkräfte weiter auf hohem Niveau zu halten, während Russland dazu wegen seiner Ressourcenprobleme nicht mehr in der Lage wäre.

Im Juni 1999, während des G-8-Gipfels von Köln, wurden amerikanisch-russische START-III-Gespräche vereinbart. Zu Beginn dieser Gesprächsrunden machte die russische Seite deutlich, dass sie durch die amerikanischen Raketenabwehrpläne die strategische Stabilität gefährdet sehe. Gleichwohl kam die russische Bereitschaft, überhaupt über den ABM-Vertrag reden zu wollen, einem ersten Zugeständnis gleich. Allerdings forderte Moskau von Beginn der Gespräche an weitergehende strategische Reduzierungen als diejenigen, die von den USA vorgesehen sind. Während Washington ein künftiges Niveau von 2.000 bis 2.500 Sprengköpfen je Seite vorsieht, zielen Moskaus Vorstellungen auf ca. 1.500 Sprengköpfe ab.

Ob bei diesen Verhandlungen in naher Zukunft Durchbrüche zu erwarten sind, ist fraglich. Immerhin machte Russlands Präsident Putin bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich, dass er keine prinzipiell negative Haltung gegenüber einer Änderung des ABM-Vertrages einnehme. Andererseits knüpfte er die von ihm unterstützte START-II-Ratifikation an die Einhaltung des ABM-Vertrages durch die USA. Sollte Washington dieses Abkommen hingegen einseitig verlassen, so würde Moskau sich aus allen bestehenden Verträgen zur Begrenzung nuklearer und konventioneller Waffen zurückziehen.

Ein Kompromiss hinsichtlich der ABM-Vertragsmodifikation erscheint prinzipiell möglich...
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Konfrontation mit Peking?

China entwickelt nicht nur seine konventionellen Fähigkeiten weiter, sondern baut auch seine derzeit noch relativ kleinen Nuklearstreitkräfte aus. China befürchtet, dass seine nukleare Streitmacht durch ein amerikanisches Abwehrsystem an Bedeutung verlieren würde. Dies gilt besonders in politisch-symbolischer Hinsicht, denn eine konkrete strategische Funktion gegenüber den USA oder Russland dürfte Chinas Nuklearwaffen wegen der großen zahlenmäßigen Unterlegenheit (noch) nicht zukommen. Offiziell wird von chinesischen Politikern argumentiert, Japan und Taiwan könnten im Falle ihres Schutzes durch Raketenabwehrsysteme nationalistischer werden. Allerdings sieht Peking seine militärischen Kräfte selbst als mögliches Druckmittel gegenüber Taiwan, aber auch gegenüber Japan. Dabei spielen auch die Kernwaffen im Hintergrund eine Rolle.

An dieser Stelle kommt nun die Raketenabwehr ins Spiel. China ist diese schon deswegen ein Dorn im Auge, weil eine bereits angestrebte oder schon begonnene Kooperation der USA mit Taiwan und Japan auf diesem Gebiet China möglicher militärischer Optionen berauben, auf jeden Fall aber die politische Bedeutung seiner zunehmenden militärischen Drohkulisse relativieren würde.

Von westlichen Gegnern der Raketenabwehr wird befürchtet, Chinas Aufrüstung könnte sich durch sie verschärfen. Tatsächlich könnte es sein, dass Peking den Aufbau seiner Nuklearstreitkräfte im Falle einer Stationierung von Raketenabwehrsystemen beschleunigen würde. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass China eine aufstrebende Nuklearmacht ist und daher ohnehin mit einer weiteren Aufrüstung in diesem Bereich zu rechnen ist.

Konflikt in der Nato? Amerikas Raketenabwehrpläne werden von nicht wenigen diesseits und jenseits des Atlantik als Teil einer allgemein zunehmenden sicherheitspolitischen Entfremdung begriffen. Da ist einerseits die europäische Sorge um den um sich greifenden Unilateralismus der Amerikaner. Da ist andererseits das amerikanische Unverständnis über die mangelhafte Bereitschaft Europas, Gefahren, wie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, ernst genug zu nehmen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Umgekehrt halten viele Europäer die Bedrohungsperzeptionen der Amerikaner für übertrieben und sehen deshalb Projekte zur Raketenabwehr als überflüssig an. Auch die Debatte über eine stärkere Rolle Europas in der Sicherheitspolitik gehört in diesen Kontext. Während es Europa darum geht, eigene Krisenbewältigungsinstrumente zu entwickeln, wittert Washington ein Abdriften der Verbündeten aus der Nato.

Ein wichtiger Punkt betrifft die Frage, ob durch die Raketenabwehr im Bündnis Zonen unterschiedlicher Sicherheit geschaffen werden. Ist das bisher geltende Prinzip der gleichen Risiken - so wird in Europa gefragt - nicht in dem Moment aufgehoben, indem sich die Amerikaner hinter einem Schutzschild verbergen, während sich die Europäer feindlichen Raketen schutzlos ausgesetzt sehen? Dagegen wird von amerikanischer Seite argumentiert, gerade wenn die USA sich zum Beispiel gegen nordkoreanische Raketen schützen könnten, wären sie auch bereit und in der Lage, Europa in Krisenzeiten aktiv beizustehen. Denn bliebe Amerika ungeschützt, könnte gerade dies in einer Krise zur Abkopplung von Europa führen.

Müssten nicht aber - so eine damit verknüpfte Frage - die Europäer auch selbst an einer Raketenabwehr für sich interessiert sein, denn schließlich könnten einige der als potenziell gefährlich eingestuften Staaten (Iran, Irak, aber auch Nordkorea, falls es Raketen mit bis zu 8.000 Kilometern Reichweite entwickelt) mit Raketen eher Europa als die USA erreichen? Darüber hat es in Europa bislang noch kaum eine Diskussion gegeben. Allerdings scheinen sich europäische Politiker und Militärs bewusst zu sein, dass eine taktische Raketenabwehr für Truppen in Auslandseinsätzen vonnöten ist.

Für Amerikas Verbündete stehen daher derzeit zwei zentrale Fragen im Raum: Wie sollen sie sich den amerikanischen Raketenabwehrplänen gegenüber verhalten? Und: Ist es notwendig, über die taktische Abwehr eigener Streitkräfte bei Auslandseinsätzen hinaus eigene Systeme zum Schutz europäischen Territoriums zu erwerben?

Gefahr für das nukleare Nichtverbreitungsregime?

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag basiert im Kern auf einem einfachen Handel: fünf Staaten (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien) dürfen über Kernwaffen verfügen, alle anderen Staaten verzichten darauf. Als Ausgleich bekommen diese Unterstützung bei der zivilen Anwendung der Kernenergie, und die Kernwaffenstaaten bemühen sich um die nukleare Abrüstung. Dieser Interessenausgleich wurde im Zuge der unbefristeten Verlängerung des Abkommens 1995 noch einmal bestätigt. Allerdings wurden die Verpflichtungen der Kernwaffenstaaten damals insofern gestärkt, als in einem Prinzipienkatalog Forderungen nach einem baldigen nuklearen Teststoppabkommen, einem Vertrag zur Beendigung der Produktion spaltbaren Materials zu Waffenzwecken und weiterer nuklearer Abrüstung bis hin zum völligen Verzicht auf Kernwaffen festgeschrieben wurden.

Wie sich auf der 6. NVV-Überprüfungskonferenz dieser Tage zeigte, sind die Nicht-Kernwaffenstaaten weiterhin mit den Bemühungen der Kernwaffenstaaten um nukleare Abrüstung äußerst unzufrieden. Sollte nun infolge der amerikanischen Raketenabwehrpläne und eines sich darüber entzündenden amerikanisch-russischen Streits über den ABM-Vertrag die nukleare Abrüstung gänzlich ins Stocken geraten, würde dies dem Nichtverbreitungsregime einen weiteren schweren Schlag versetzen. Es wäre dann auch nicht mehr auszuschließen, dass einzelne Länder das Regime verlassen.

Schluss: Folgerungen

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Derzeit sind zwei radikal entgegengesetzte Szenarios vorstellbar:

1.Negativ-Szenario

Die USA verhandeln nur halbherzig mit Russland über eine Änderung des ABM-Vertrages. In der Folge scheitern diese Verhandlungen, und Washington entschließt sich, einseitig aus diesem Vertrag auszusteigen. Dies hätte eine enorme Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen zur Folge. Russland würde versuchen, trotz seiner Wirtschaftskrise seine strategischen Streitkräfte zu modernisieren. Der nukleare Abrüstungsprozess würde bis auf weiteres gestoppt werden. Dies hätte negative Konsequenzen für das nukleare Nichtverbreitungsregime, denn die Nicht-Kernwaffenstaaten würden auf die bei der unbefristeten Verlängerung des NVV vereinbarte nukleare Abrüstung pochen. Einige von ihnen könnten sich überlegen, das Regime zu verlassen, so dass das gesamte System einem schleichenden Zerfall ausgesetzt wäre. Es wäre dann die Frage, ob Staaten wie Japan einer begrenzten Raketenabwehr allein vertrauen würden, oder ob sie die Entscheidung treffen würden, sich selbst in den Besitz von Kernwaffen zu bringen. Die Entscheidung zur Raketenabwehr hätte also Proliferation und Instabilität provoziert.

2.Positiv-Szenario

Die USA treffen nicht einseitig die Entscheidung zum Aufbau einer Raketenabwehr, sondern dem geht eine Einigung mit Moskau über eine Änderung des ABM-Vertrages voraus. Idealerweise würde ein solcher russisch-amerikanischer Kompromiss ebenfalls weitreichende Reduzierungen bei den strategischen Nuklearwaffen beinhalten. Dies wäre ein doppeltes Signal: Amerika würde erstens zeigen, dass sein Abwehrprogramm nicht gegen Russland gerichtet ist und die politische Kooperation weiter gewünscht bleibt, und dass das Programm begrenzt bleiben soll. Den Nicht-Kernwaffenstaaten würde zweitens demonstriert werden können, dass die nukleare Abrüstung voranschreitet, was das Nichtverbreitungsregime stärken würde. Ein Gewinn an Stabilität wäre also die Folge.

Angesichts des in den USA derzeit zu beobachtenden Hangs zum Unilateralismus erscheint es keineswegs gesichert, dass das Positiv-Szenario Wirklichkeit wird. Vieles wird hier auch vom Ausgang der amerikanischen Präsidentschafts- und Kongresswahlen abhängen.

Eines scheint jedoch sicher: Wenn Europa sich einfach ablehnend den amerikanischen Raketenabwehrplänen gegenüber verhält, wird es auf den politischen Entscheidungsprozess keinen Einfluss haben. Es wird in Washington nur dann gehört werden, wenn es Amerikas Wunsch nach einem begrenzten Schutz ernst nimmt. Vor allem wird es darauf ankommen, Washington von der Notwendigkeit eines Ausgleichs mit Moskau hinsichtlich des ABM-Vertrages zu überzeugen. Auch sollten die USA gedrängt werden, die Rüstungskontrolle als wichtiges Element der Nichtverbreitungspolitik wieder ernster zu nehmen. Denn Rüstungskontrolle und Raketenabwehr schließen sich keineswegs per se aus.
Mit Kürzungen aus: Frankfurter Rundschau, 17.05.2000

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