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Russland und die Raketenabwehrpläne der USA

Putins zweischneidigen Vorschläge

Der jungen welt entnehmen wir folgenden interessanten Beitrag über die Auslandsreise des russischen Präsidenten Putin, die ihn, wenige Tage nach dem Besuch des US-Präsidenten Clinton in Moskau, nach Rom führte. Wie schon beim jüngsten NATO-Gipfel ging es auch diesmal um die US-Raketenabwehr und um die möglichen (oder unmöglichen?) Antworten Russlands und der anderen europäischen Staaten.

Rußlands Präsident auf Werbetour in Italien.
Eigentor bei Vorschlag über Raketenabwehr

»Eine Stunde bevor sein amerikanischer Gast in die Ukraine abflog, brach er nach Rom auf. Dort ließ er Papst Johannes Paul II. 20 Minuten warten, und er benutzte die Zusammenkunft mit Mitgliedern der italienischen Regierung als eine Gelegenheit, um Europa als Keil zwischen die russisch-amerikanischen nuklearen Rüstungskontrollverhandlungen zu treiben.« Dieser bitterböse Auszug aus einem Artikel in der New York Times vom Dienstag zeigt, daß die Amerikaner den Schachzug des russischen Präsidenten Putin sehr wohl verstanden haben, der den Russen die europäische Sympathie und Unterstützung im Kampf gegen die amerikanischen Pläne für ein neues Atomraketenabwehrsystem (National Missile Defence-NMD) sichern soll.

Einen Tag vor Ankunft Clintons zum Gipfeltreffen in Moskau hatte Präsident Wladimir Putin in einem Interview mit dem amerikanischen Nachrichtensender NBC News die Bombe gezündet und seine russische Alternative zu amerikanischen NMD-Plänen präsentiert. Wie nicht anders zu erwarten, sind diese Vorstellungen bei Clinton auf kühle Ablehnung gestoßen.

Auch Putin hat sicher damit gerechnet, weshalb er diesen Vorschlag ja überhaupt erst machte. Denn eigentlich war er an die Europäer adressiert. Die sind aus vielen Gründen über den amerikanischen NMD-Alleingang verärgert, hauptsächlich aber, weil er Europa sicherheitspolitisch abkoppeln und als zweitrangig degradieren würde. Mit seiner Initiative will Putin die Europäer auf seine Seite ziehen. Und damit fing Putin bereits in Rom an.

Nach einem zweistündigen Gespräch mit dem italienischen Regierungschef Giuliano Amato am Montag wiederholte Putin seinen Vorschlag. »Rußland schlägt eine enge Zusammenarbeit mit Europa und der NATO vor, um gemeinsam ein Antiraketensystem zu schaffen. Das würde einerseits alle Probleme lösen, die wir sonst mit dem Gleichgewicht der Kräfte haben, und andererseits würde es eine absolute Sicherheit für jedes europäische Land schaffen.«

Was Putin bei seinen Strategieüberlegungen nicht bedacht hat, ist, daß er den USA durch seine Initiative in einem wesentlichen Schritt entgegen gekommen ist, indem er sich auf ihre Argumentationsgrundlage in bezug auf die nukleare Bedrohung durch sogenannte Schurkenstaaten und deren Bekämpfung durch ein Raketenabwehrsystem eingelassen hat. Folgerichtig können die NMD-Befürworter nun vor ihre eigene amerikanische Öffentlichkeit treten und sagen, daß sie mit ihrer Bedrohungsanalyse schon immer recht hatten und daß nun die Russen das Problem ebenfalls sehen. Der einzige Unterschied zu den Amerikanern sei lediglich noch die Art und Weise, wie die beiden Länder das Problem bekämpfen wollten.

Mit seiner Initiative, die Europäer in Sachen NMD auf die russische Seite zu ziehen, hat sich Putin ein Eigentor geschossen, denn nun haben die amerikanischen Befürworter von NMD ein außerordentlich wichtiges Argument, um ihr Projekt über alle weiteren Bedenken hinweg voranzutreiben. Zugleich hat Putin den russischen Militärs und Sicherheitspolitikern den Teppich unter den Füßen weggezogen, denn sie hatten bisher argumentiert, daß die von den USA gesehene Bedrohung durch Schurkenstaaten nur ein Ammenmärchen ist, das lediglich als Vorwand zur Aushebelung des ABM-Vertrages dienen soll.

So war es denn auch nicht verwunderlich, daß die NATO am Dienstag den »kooperativen Geist« in Putins Vorschlag begrüßte. Auch US-Verteidigungsminister Cohen freute sich über Putins Vorschlag: »Ganz sicher ist es ein Schritt vorwärts, wenn er sagt, daß es eine Bedrohung durch Raketen (von Schurkenstaaten) gibt, was der russische Präsident nun anerkannt hat.«

Rainer Rupp

Aus: junge welt, 08.06.2000

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