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Signal an Moskau: Obama stoppt Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien

Durchbruch zur Abrüstung? Pentagon sucht nach kostengünstigeren Alternativen. Artikel, Pressestimmen, Kommentare und Stellungnahmen

Obamas Verzicht auf die Aufstellung eine Raketenschirms in Polen und Tschechien ist weltweit anerkannt worden - auch wenn der Verzicht nicht vollständig ist, sondern das Pentagon an kostengünstigeren Alternativen arbeitet.
Im Folgenden dokumentieren wir:

Die Rede Obamas, worin er den Kurswechsel bekannt gab, sowie ein "Fact Sheet" zur US-Raketenabwehr können im Original hier gelesen werden:
"Our new missile defense architecture ..."



Bushs »Raketenschild« liegt nun auf Eis

Genugtuung in Russland / Pentagon arbeitet an Alternativen

Von Olaf Standke *


Viel Schlaf dürfte Jan Fischer nicht gehabt haben. Wie der Prager Premier gestern berichtete, hat ihn USA-Präsident Barack Obama in der Nacht zuvor telefonisch über die Entscheidung informiert, die vereinbarte Radaranlage für das Raketenabwehrsystem in den böhmischen Wäldern nicht zu installieren. Da war schon ein Artikel des »Wall Street Journal« in der Welt, wonach Washington die Pläne für ein Raketenschild in Osteuropa vorerst auf Eis legen wolle. Das iranische Programm zum Bau von Langstreckenraketen sei nicht so schnell vorangekommen wie zunächst befürchtet.

2006 hatte Präsident Bush das teure Projekt eines Abwehrsystems in Polen und Tschechien angeschoben, um angeblich Raketen aus »Schurkenstaaten« wie Nordkorea und Iran abfangen zu können. Vor allem in Russland fand es scharfe Kritik. Moskau fühlte sich durch USA-Raketen unmittelbar vor der eigenen Haustür bedroht. Der Kreml drohte seinerseits mit massiven Gegenmaßnahmen wie der Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Region Kaliningrad unmittelbar an der Grenze Polens. Trotzdem unterzeichneten Washington und Warschau vergangenen Sommer einen Vertrag über den Bau von Silos unweit von Slupsk. Bis 2013 wollte das Pentagon dort zehn Abfangraketen stationieren. In Mittelböhmen sollte zeitgleich das Leitradar für dieses System installiert werden.

Doch schon gleich nach dem Machtwechsel im Weißen Haus hatte der neue Präsident eine Überprüfung des umstrittenen Projekts angekündigt. Auch in Polen, aber mehr noch in Tschechien gab es starken Widerstand gegen die Pläne. Wie Pentagon-Vize Alexander Vershbow Ende Juli im Streitkräfteausschuss des Repräsentantenhauses erklärte, wolle Barack Obama »eine Revision der Pläne für die Stationierung der Systeme in Europa bis Ende dieses Sommers abschließen«. So berichtete dann auch vier Wochen später die polnische Zeitung »Gazeta Wyborcza«, dass Washington das Projekt aufgeben werde – was das USA-Außenministerium umgehend als »unwahr« zurückwies.

Doch legten auch Informationen der Missile Defense Advocacy Alliance, einer Lobbyistengruppe zur Unterstützung der Raketenabwehr, einen weit gehenden Sinneswandel nahe. Nun hat das Pentagon offiziell eine »umfassende Anpassung« der Pläne angekündigt. Michail Margelow, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Föderationsrat (das russische Oberhaus), sah darin gestern auch einen Sieg der kompromisslosen Haltung Moskaus. Nach Meinung von Alexander Pikajew, Leiter der Abrüstungsabteilung des Moskauer Akademie-Instituts für Internationale Beziehungen, ist die Entscheidung in erster Linie aber innenpolitisch diktiert. Angesichts der dringend notwendigen Kürzungen im US-Militäretat habe sich dieses Projekt besonders angeboten. »Natürlich werden dadurch die russisch-amerikanischen Beziehungen in bedeutendem Maße entspannt, was Hoffnung auf eine Fortsetzung des Dialogs auch über die europäische Sicherheit gibt«, so Pikajew.

Nicht nur die landesweite Initiative »Ne Zakladnam« (Keine Stützpunkte) und die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens zeigte sich gestern in Tschechien hoch erfreut über die Wende in Washington. Der Chef der Sozialdemokraten, Jirí Paroubek, sprach von einem »Sieg des tschechischen Volkes«. Selbst die NATO hat das Einfrieren der USA-Pläne begrüßt. Allerdings aus anderen Gründen. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sieht die Gefahr wohl nicht, die der tschechische Expremier Mirek Topolánek, der im Vorjahr den Radar-Vertrag unterzeichnet hat, jetzt heraufbeschwor: Obamas Entscheidung bedeute für die USA einen »Verlust des europäischen Raumes«. Vielmehr werde mit dem neuen Konzept des USA-Präsidenten eine Beteiligung aller NATO-Mitglieder an der Raketenabwehr verbessert.

Längst haben die Militärs Alternativen entwickelt. Laut US-amerikanischen Medien arbeitet die Rüstungssparte von Boeing an einem mobilen Raketenschild, der feste Silos, wie sie in Polen geplant waren, überflüssig machen würde. Andere Quellen berichten, das Pentagon wolle Abfangraketen auf Schiffen sowie in Israel, der Türkei und auf dem Balkan aufstellen. Ohnehin werde sich Washington die Möglichkeit vorbehalten, das ursprüngliche Programm weiterzuführen, sollte Iran schneller Fortschritte bei seiner Raketenentwicklung machen, meint das »Wall Street Journal«. Solange werde man sich auf die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen konzentrieren.

* Aus: Neues Deutschland, 18. September 2009


Ende einer gefährlichen Illusion

Polens Regierende verhielten sich wie Vogel Strauß

Von Julian Bartosz, Wroclaw **


Die Nachricht, dass die USA auf die Errichtung von Raketenabschussrampen in Polen verzichten, wurde der polnische Regierung am Donnerstagvormittag während eines 90-minütigen Treffens mitgeteilt. Aus Washington war eine Delegation hoher Beamter des Pentagons und des State Departments angereist.

Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski verließ das Gebäude seines Ministeriums in der Warschauer Aleja Szucha, ohne ein einziges Wort zu verlieren, und ließ sich eiligst zu Premier Donald Tusk chauffieren. Wladyslaw Staszczak, Chef der Nationalen Sicherheitsbüros beim Staatspräsidenten, schlug wütend die Autotür zu und begab sich zu Lech Kaczynski, seinem Dienstherrn. Nach zwei Stunden sagte der Sprecher des polnischen Auswärtigen Amtes, Piotr Paszkowski, er könne den wartenden Journalisten nur raten, die offizielle Erklärung des US-amerikanischen Staatspräsidenten Barack Obama abzuwarten, denn es zieme sich nicht, diesem vorzugreifen. Auf Fragen, ob denn Premier Tusk, wie sein tschechischer Amtskollege Jan Fischer, einen Telefonanruf des USA-Präsidenten erhalten habe, sagte Paszkowski, er wisse davon nichts.

Das offizielle Polen verhielt sich so, als ob die Entscheidung zur Nichteinrichtung des »Raketenschilds« aus heiterem Himmel gefallen wäre. In den vergangenen Monaten hatten sich aber die Signale aus Washington gehäuft, die besagten, dass das Projekt nicht mehr aktuell sei. Ungeachtet dessen hatten die wichtigsten Vertreter der polnischen Regierung – mit dem Premier an der Spitze – den Eindruck zu vermitteln versucht, dass das am 20. August 2008 unterzeichnete polnisch-US-amerikanische Abkommen weiterhin gültig sei.

In den laufenden Nachrichten in TVN24 und TVP3 spekulierten am Donnerstagvormittag verschiedene Kommentatoren darüber, ob der Entschluss endgültig sei oder nur eine zeitliche Verzögerung bedeute, ob es lediglich finanzielle Gründe gebe oder ob dahinter eine »prorussische Politik« des US-amerikanischen Präsidenten stecke. Da, wie kommentiert wurde, die Entscheidung Obamas in Russland Genugtuung und sogar Freude erweckt habe, liege es nahe, dass die USA »vor den Russen kapituliert« hätten. Polen wie die ganze osteuropäische Region sei für die USA nicht mehr so wichtig wie während der Präsidentschaft George W. Bushs.

Polens Altpräsident Lech Walesa sagte auf dem Gdansker Flughafen vor seinem Abflug nach Irland, wo er für den Lissabon-Vertrag werben will, er habe so etwas erwartet, denn »die Amerikaner haben sich immer nur um ihre Interessen gekümmert und alle anderen ausgenutzt«. Polen müsse daher »seine proamerikanische Politik revidieren«.

Grzegorz Napieralski, Chef des Bündnisses der Demokratischen Linken (SLD), sprach von einer Niederlage der polnischen Rechten. Damit meinte er sowohl die regierende Bürgerplattform (PO) und insbesondere Außenminister Sikorski als auch die Kaczynski-Partei PiS. Deren Verhalten habe Polen in Europa lächerlich gemacht. Darauf konterte PiS-Sprecher Mariusz Kaminski, die Äußerung Napieralskis schade der polnischen Staatsräson. Stefan Niesiolowski, als PO-Vertreter befragt, sagte nur: »Tun wir doch nicht so, als ob wir einen Krieg verloren hätten.«

Derweil machten sich Tusk und Sikorski aus dem Staub. Sie flogen am Mittag zum EU-Gipfel. Verteidigungsminister Bogdan Klich war nicht auffindbar.

** Aus: Neues Deutschland, 18. September 2009


Press release of the Humanist Movement in the Czech Republic Prague

September 17, 2009

Members of the Humanist movement welcome the decision of US president Barack Obama to cancel the missile defense enlargement previously planned for the Czech Republic and Poland.

“We have been active more than three years in the struggle to prevent this plan from materializing. We are very happy that finally the position of the US administration is in line with the will of majority of Czechs”, said Jan Tamas, spokesman of the Nonviolence movement referring to the two thirds of Czech citizens who disagreed with the project. “We will continue to support Barack Obama in his plan for nuclear disarmament, because clearly nuclear weapons are the most dangerous weapons of mass destruction that exist today.”

In the past three years members of the movement have held talks with members of the Czech Parliament, European Parliament, national parliaments of other European countries as well as the US Congress.

They have also organized many demonstrations in different European cities as well as several international conferences debating this issue in Europe and the United States. Jan Tamas and Jan Bednar went on a 21 day hunger strike against the plan last June.

Overall, the anti-base movement is considered to be one of the biggest civic movements of Czech recent history.

There will be a big celebration of all the groups involved in the struggle today at 6:30 pm in Prague, Tyrsova 1. Members of the groups will have a champagne toast and give short statements for the media.

The Humanist movement is a worldwide movement of volunteers working together for a nonviolent change towards a more just world. It originated in the late 1960s in Argentina and since that time has spread across the world. Its Czech members have for the past three years nonviolently opposed the US missile defense base planned to be installed there. They gained wider recognition with the hunger strike of two of its members Jan Tamas and Jan Bednar in May 2008, the following sequential hunger strike with 300 participants, as well as several international conferences about the topics of US Missile Defense and disarmament.


"Bessere Kooperation mit Moskau"

Interview mit Hans-Joachim Schmidt (HSFK) [Auszüge] ***

(...) Räumt Washington mit dem Raketenschild nicht einen Streitpunkt mit Moskau aus dem Weg, um mit Russland den Druck auf den Iran zu erhöhen?

Das ist sicher eines der Ziele der US-Regierung. Allerdings hält sich der Kreml bisher öffentlich bedeckt. Trotzdem, denke ich, werden die USA künftig bei Verhandlungen mit Teheran auf eine stärkere Unterstützung Moskaus zählen können. Russland kann mit dem Westen auch bei anderen Themen stärker kooperieren. Ich denke dabei an den Teststopp von Atomwaffen und an die Verhinderung der weiteren Verbreitung von Nuklearwaffen. (...)

Sind Polen und Tschechien bei diesem Poker die Verlierer? Was werden die nun unternehmen?

Bisher haben leider einige osteuropäische Staaten an der Nato und EU vorbei mit den USA bilaterale Sicherheitsabkommen angestrebt, die das Verhältnis der westlichen Staaten zu Russland getrübt haben. Jetzt werden sie gezwungen, sich wieder stärker an die EU und deren Sicherheitskonzepte anzunähern. Das ist gut so. Auf der anderen Seite werden die osteuropäischen Staaten mit ihren Lobbyverbänden Druck auf den US-Kongress ausüben. Das kann den sicherheitspolitischen Spielraum von US-Präsident Obama künftig beschränken.

Was meinen Sie konkret ?

Sie könnten darauf drängen, dass die USA größere Truppenkontingente in den osteuropäischen Ländern stationieren. Das würde die Beziehungen zu Russland wieder belasten, weil die Nato-Russland-Grundakte von 1997 die Stationierung substanzieller Kampfverbände in diesen Staaten nicht zulässt.

Wirkt sich das Ende des Raketenschilds auf die Politik der Nato aus?

Die Chancen sind gestiegen, dass das Bündnis enger mit Russland kooperiert. So kann Russland sein Engagement beim Einsatz in Afghanistan verstärken. Vor allem in der Logistik könnte Moskau die Nato mehr unterstützen. Schließlich geraten die Nachschubwege der Allianz in Pakistan immer stärker ins Fadenkreuz der Taliban. Weiterhin dürfte es beiden Seiten leichter fallen, im Süden Europas bei der taktischen Raketenabwehr zu kooperieren. Schließlich sollte innerhalb des neuen strategischen Konzepts der Nato die Rüstungskontrolle mit Russland nach dem GeorgienKrieg wichiger werden.

*** Auszug aus einem Interview mit dem Abrüstungsexperten der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Hans-Joachim Schmidt. In: Frankfurter Rundschau, 18. September 2009 ("Bessere Kooperation mit Moskau"); Interview: Andreas Schwarzkopf


S t i m m e n a u s R u s s l a n d

Medwedew weiß "verantwortungsvolles Herangehen" Obamas zu schätzen

MOSKAU, 17. September (RIA Novosti). Russland weiß das verantwortungsvolle Herangehen von US-Präsident Barack Obama (an das Raketenabwehrproblem) zu schätzen und erklärt sich zur Fortsetzung des Dialogs bereit.

Das sagte der russische Präsident Dmitri Medwedew am Donnerstag (17. Sept.) in Moskau. Zuvor hatte Obama bekanntgegeben, dass die USA ihre Raketenpläne für Osteuropa geändert hatten.

Medwedew erinnerte daran, dass er und Obama das Problem der Raketenabwehr bei ihren Treffen in London und Moskau erörtert hatten. "Dabei kamen wir darin überein, dass Russland und die USA das Risiko der Raketenverbeitung in der Welt gemeinsam einschätzen werden. Das wurde auch in unseren Erklärungen festgeschrieben."

"Die am Donnerstag in Washington abgegebene Erklärung führt vor Augen, dass für eine solche Arbeit nicht schlechte Voraussetzungen geschaffen werden. Natürlich sind noch Expertenkonsultationen erforderlich. Unser Land ist dazu bereit."

Medwedew sagte ferner, dass bei dem für den 23. September in New York geplanten Treffen mit Obama Meinungen zu allen Aspekten der strategischen Stabilität ausgetauscht weden sollen. "Wir werden gemeinsam effektive Maßnahmen zur Verringerung des Risikos der Raketenverbreitung ergreifen. Diese Maßnahmen sollen die Interessen und Besorgnisse aller Seiten berücksichtigen und allen Ländern im europäischen Raum die gleiche Sicherheit garantieren", sagte der der russische Staatschef.


USA werden Raketenabwehrsystem in vier Etappen aufstellen - Weißes Haus

WASHINGTON, 31. Oktober (RIA Nowosti). Die USA werden ihr neues Raketenabwehrsystem in Europa in vier Etappen aufstellen.

Das gab das Weiße Haus am Donnerstag bekannt. Die erste Phase, die voraussichtlich 2011 zu Ende geht, sieht die Stationierung seegestützter Elemente vor, die sich bislang gut bewährt haben. Es geht um das Kampfsystem Aegis, um SM-2-Abfangraketen und das mobile Radarsystem AN/TPY-2. In dieser Phase soll die Raketenabwehr gegen regionale ballistische Raketen wirksam werden.

In der zweiten Phase (bis 2015) soll nach Erprobungen eine leistungsfähigere Modifikation der see- oder bodengestützten Abfangrakete - SM-3 - stationiert werden. Diese Raketen sollen sich bereits für die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenwaffen eignen.

In der dritten Phase (bis 2018) sollen die modifizierten Abfangraketen auch gegen Langstreckenraketen einsatzbereit werden. In der vierten Phase (bis 2020) soll das US-Abwehrsystem auch interkontinentale ballistische Raketen unschädlich machen.


Polen wird Patriot-Raketen auch nach Änderung der ABM-Pläne erhalten

WARSCHAU, 17. September (RIA Novosti). Washington hat Warschau angeboten, Patriot-Raketen in Polen auch nach der Änderung der US-Raketenabwehrpläne für Osteuropa zu stationieren.

Das teilte Polens Außenminister Radoslaw Sikorski am Donnerstagabend in Warschau mit. Es handele sich um Elemente des US-amerikanischen Verteidigungssystems, sagte er.

Im November 2008 hatte Polens Verteidigungsminister Bogdan Klich erklärt, dass Patriot-Raketen in Polen im Jahr 2009 provisorisch und ab 2012 ständig stationiert werden. Damals wurde geplant, dass diese Raketen das US-amerikanische Raketenabwehrsystem schützen sollen. Das Patriot-Komplex kann gleichzeitig mehr als 100 Luftziele orten.


Experte: USA erwarten vom Kreml Schritte gegen Irans Atomgefahr

NEW YORK, 18. September (RIA Novosti). Von ihrem Verzicht auf den Raketenschild in Polen und Tschechien erhoffen sich die USA laut dem Russland-Experten Thomas Graham bessere politische und militärische Optionen gegen Irans Raketenprogramm.

Die US-Regierung halte ihre Entscheidung für kein Zugeständnis, deshalb erwarte sie im Gegenzug auch keine Zugeständnisse von Russland, sagte Graham, der einst im Nationalen Sicherheitsrat der USA für Russland zuständig gewesen war und heute als Senior Director der Beratungsfirma Kissinger Associates arbeitet, zu RIA Novosti.

„Washington rechnet aber, dass diese Entscheidung die Atmosphäre verbessert und Moskau sich für einen Ausbau der Kooperation beim Widerstand gegen gemeinsame Bedrohungen wie Teherans Atomwaffenprogramm entscheidet“, hieß es.

Die US-Regierung strebe einen effizienteren und preiswerteren Raketenschild an: „Ich denke, sowohl die Politik als auch die Finanzen haben bei der Erörterung dieser Frage eine große Rolle gespielt“.

Der Verzicht auf Anlagen in Tschechien und Polen untergrabe keineswegs die US-Verteidigungsbereitschaft, denn Iran werde noch Jahre brauchen, um Langstreckenraketen zu entwickeln. Dafür bekämen die USA mehr Optionen gegen iranische Kurz- oder Mittelstreckenraketen.

Am Donnerstag hatte Barack Obama verkündet, den umstrittenen Basen in Osteuropa Raketenabwehranlagen auf Schiffen vorzuziehen.


Rogosin: USA geben ihre Hegemonie-Pläne nicht auf

MOSKAU, 17. September (RIA Novosti). Die USA wollen neue Elemente ihrer Raketenabwehre an Bord von Schiffen stationieren und zeigen somit, dass sie ihre Pläne nach globaler Hegemonie nicht aufgegeben haben.

Das sagte der russische NATO-Botschafter Dmitri Rogosin am Donnerstag im Kanal Westi des russischen Fernsehens. "Wenn diese Schiffe im Nahen Osten, im Mittelmeer oder vor der Küste Nordkoreas fahren werden, bedeutet das im Grunde genommen, dass die Raketenabwehrpläne der USA nichts anderes sind als Pläne zu ihrer ständigen militärischen Präsenz in allen Regionen der Welt."

Das zeuge davon, dass niemand in Washington, auch unter der neuen demokratischen Administration Obamas nicht, gewillt ist, auf die globalen Hegemonie-Pläne zu verzichten, sagte Rogosin.

Am Donnerstag hatte US-Präsident Barack Obama Korrekturen der früheren US-Pläne für eine Raketenabwehr in Europa bekanntgegeben. Statt eines Radars in Tschechien und von Abfangraketen in Polen wollen die USA Elemente ihrer Raketenabwehr jetzt an Bord von Schiffen stationieren.

"Ich kann die Begeisterung mehrerer russischer Experten im Zusammenhang mit Obamas Erklärung nicht teilen ... Die Menschen, die für die Verteidigungsfähigkeit Russlands verantwortlich sind, sollten sich darüber klar werden, welche Motive zu gewissen Handlungen führen und welche Folgen diese Handlungen im Endeffekt haben werden", sagte Rogosin.

"Jetzt sind im Westen und auch hier in der NATO Stimmen laut, dass die korrigierten Raketenabwehrpläne ein Zugeständnis an Russland seien ... Ich möchte nicht, dass wir uns jetzt freuen und in Euphorie schwelgen. Von Zugeständnissen sprechen vor allem jene, die daraus gewisse Dividenden schlagen wollen: Ihr habt uns doch gebeten, auf das Radar in Tschechien und Raketen in Polen zu verzichten. Bitte schön. Jetzt seid ihr am Zug."

Ein Kuhhandel wäre hierbei nach Rogosins Worten fehl am Platze. "Die Amerikaner haben einfach ihren eigenen Fehler korrigiert. Und wir müssen ganz und gar nicht dafür zahlen, dass jemand seine Fehler behoben hat." Das neue US-Konzept habe Unterwassersteine. Wenn ein Schiff mit Raketenabwehrsystemen ausgestattet sei, könne es früher oder später auch vor der russischen Küste auftauchen, warnte Rogosin.

Zur Position von Ländern Osteuropas zum dem Verzicht der USA auf die Stationierung von Bodenelementen der Raketenabwehr in Polen und Tschechien sagte der Botschafter, dass es in kürze zu einer "politischen Hysterie" kommen wird.

Alle Meldungen aus: Russische Nachrichtenagentur, RIA Novosti; http://de.rian.ru



K o m m e n t a r e

"Wie es zu erwarten war, verabschiedet sich die US-Regierung von George Bushs Plan", schreibt die Zeitung DIE WELT:
"Die Begründung fällt pragmatisch und grundsätzlich aus. Pragmatisch: Man könne Abwehrraketen auch mobil stationieren. Grundsätzlich aber ist das Argument, die Bedrohung durch den Iran sei geringer einzuschätzen als bisher gedacht. Das ist ein weiteres Signal dafür, dass Obama gegenüber dem Iran eine Politik anstrebt, bei der die Vertrauensbildung Vorrang hat. Und es fügt sich gut in sein hochfliegendes Projekt, eine Welt ganz ohne Atomwaffen anzustreben. Es fragt sich sehr, ob diese Politik nicht naiv und letztlich gefährlich ist. Auch deswegen, weil sie in Mitteleuropa Enttäuschung verbreitet", betont DIE WELT.

Das HANDELSBLATT aus Düsseldorf ist überzeugt:
"Von Beginn an war der Raketenschild ein großes Missverständnis. Und Barack Obama tut jetzt gut daran, damit Schluss zu machen. Nie konnte in all den Jahren der politische Schaden, der mit dem Projekt angerichtet wurde, durch einen technischen oder strategischen Vorteil aufgewogen werden. Am Ende stand der Schutzschild nur noch für Symbolpolitik aus einer Zeit, in der die Welt in Schurken und Freunde eingeteilt wurde. Politisch wirft Obama damit Ballast ab insbesondere im Verhältnis zu Russland", urteilt das HANDELSBLATT.

"Obama wägt nur nüchtern US-Interessen ab", heißt es im TAGESSPIEGEL aus Berlin.
"Die Raketenabwehr ist für ihn eine Technik, die noch nicht funktioniert gegen eine Bedrohung, die noch nicht unmittelbar existiert, zu Kosten, die sich nicht kontrollieren lassen. Die Standorte Polen und Tschechien verhindern zudem eine Einigung mit Moskau auf schärfere Sanktionen gegen Iran. Also wird das Projekt in Polen und Tschechien gestoppt, weil die Kosten höher sind als der Nutzen. Wenn die Raketenabwehr gebraucht wird, kann man sie auf See verlegen oder in die Türkei", folgert DER TAGESSPIEGEL.

Der MÜNCHNER MERKUR hält Fortschritte bei der Abrüstung für möglich:
"Wenn Obamas Entscheidung in Moskau nicht nur selbstgefällig als Einknicken vor russischer Härte interpretiert wird, sondern auf echte Kooperationsbereitschaft stößt, gibt es eine realistische Chance, die in ihrem Gigantismus gänzlich sinnlosen Atom-Arsenale diesseits und jenseits des Atlantiks auf ein realistisches Maß herunterzurüsten. Und vor allem den gordischen Knoten zu durchschlagen, zu dem sich der Atomstreit mit dem Iran verwirrt hat. Schließlich hat auch Moskau nicht das geringste Interesse am Entstehen einer neuen Nuklearmacht im Mittleren Osten", glaubt der MÜNCHNER MERKUR.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG gibt zu bedenken:
"Die Verbündeten in Osteuropa fürchten, dass manche in Moskau das Abrücken von der Raketenabwehr als Zeichen der Schwäche missdeuten könnten und sich ermutigt fühlen, ähnlich wie in Georgien russische Interessen auch andernorts mit Panzern durchzusetzen. Genau dabei könnte auch die Bundesregierung dem US-Präsidenten helfen. Deutschland hat gute Beziehungen zum Kreml, es sollte sich als wichtigster Nachbar Polens und Tschechiens aber auch für deren Sorgen mit Blick auf Moskau zugänglicher zeigen. Obama wird seinen Aufbruch zu einer neuen, kooperativeren Außenpolitik nur schwer vollenden können, wenn Europa ihn nicht geschlossen dabei unterstützt."

Alle Auszüge aus Pressekommentaren haben wir der "Presseschau" des Deutschlandfunks (18. September 2009) entnommen; www.dradio.de

W e i t e r e K o m m e n t a r e

Vertrauen ist besser

Von Karl Grobe ****

Barack Obama hat ein Lieblingsprojekt seines Vorgängers im Amt, George W. Bush, formlos beerdigt. Das Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien wird nicht gebaut. Die Regierungen in Prag und Warschau geben sich überrascht und ziemlich enttäuscht, obwohl der US-Präsident doch schon im Wahlkampf einen Kurswechsel angekündigt hatte, und das Moskauer Außenamt möchte so bald wie möglich eine ganz offizielle Bestätigung der Nachricht. Für die russischen Regierer wäre sie nämlich höchst erfreulich.

Dass der Raketenschild - Radarstation in Tschechien, Abschussbasen in Polen - sich ausschließlich gegen eine iranische Bedrohung richte, hat im offiziellen Moskau ohnehin kein Mensch öffentlich geglaubt. Das Unternehmen richte sich gegen Russland, war die amtliche Lesart. Der Kern dieser Auffassung hatte freilich nicht mit möglichen fliegenden Perserbomben zu tun, sondern damit, dass Washington den Hauptstädten an Moldau und Weichsel Sondergarantien für Krisenfälle angeboten und dadurch einen Keil zwischen das "alte" und das "neue" Europa getrieben hat.

Gerade Polen, dessen Gedächtnis just in diesen Tagen auf die Vorgänge vor siebzig Jahren zurückkommt, glaubt einen mächtigen fernen Freund zu brauchen: Am 17. September 1939 hatte sich Stalins Staat der Aggression des Hitlerstaats angeschlossen und jene Ostgebiete besetzt, die heute zu Litauen, Belarus und der Ukraine gehören. Mit den Deutschen kann man sich heute arrangieren; Russland ist den Polen immer noch eine Dosis Misstrauen wert.

Russland ist aber auch ein Partner der USA, den diese nicht abschütteln können. Bis Jahresende müssen beide sich darauf einigen, den Komplex der Start-Abrüstungsverträge zu verlängern, wenn sie einen neuen Hochrüstungswettlauf vermeiden wollen. Der russische Präsident Dmitri Medwedew hat den Preis genannt. Er lautet: Verzicht der USA auf besagten Raketenschild, tendenziell Rückkehr zu jenem Grund-Vertrag des gegenseitigen Vertrauens, der ABM heißt und genau den Verzicht auf Raketenabwehrsysteme enthält. Von diesem Vertrag hatten die USA sich unter George W. Bush verabschiedet.

So spielt Iran entgegen dem Anschein eher in der Regionalliga. Der israelische Außenminister Ehud Barak hat die vermeintliche iranische Gefahr ohnehin am Donnerstag relativiert, und Geheimdienstkreise in den USA deuten an, dass die Teheraner Führung eine politische Entscheidung zur Entwicklung von Nuklearwaffen bisher nicht getroffen hat, obwohl die technischen Möglichkeiten bestehen.

Das weitere ist Sache der Diplomaten. Die mit dem iranischen Atomprogramm Befassten kommen aus den Hauptstädten der fünf Vetomächte und aus Berlin. Iran hat immer wieder versucht, die Vetomacht Russland gegen die Vetomacht und - in der unmittelbaren Nachbarschaft militärisch stark engagierte - Supermacht USA auszuspielen. Doch dieses Spiel übersteigt Irans politische Möglichkeiten; denn Russland, zwar tätiger Helfer beim zivilen Atomenergieprogramm, ist durchaus für Sanktionen gegen ein iranisches Nuklearwaffenprogramm zu haben.

Abgesehen von den technischen und politischen Zweifeln am Sinn des zentraleuropäischen Raketenschilds hat sicher auch das Auftreten Russlands im Fernen Osten der Obama-Regierung zu denken gegeben. Arm in Arm mit China hat Russland in diesem Sommer Militärmanöver veranstaltet, die Landeoperationen enthielten und der Natur der Sache nach wohl nur auf Nordkorea gezielt sein konnten. Das war nicht nur eine Vorbeuge-Übung für den Fall innerer Schwierigkeiten in Kims isoliertem Staat. Es signalisierte den dringenden Wunsch, in Sachen Atomprogramm mitzureden. Auch hier wird es wieder Sechser-Gespräche (in etwas anderer Besetzung) geben, und auch hier haben Russland und China ihre Sessel hörbar an den Verhandlungstisch gerückt.

Die Obama-Regierung hat das anders aufgenommen als die seines Vorgängers. Der, sein Vizepräsident und die den letzteren fütternden neokonservativen Denkfabriken pflegten barsch auf solche Entwicklungen zu antworten. Obama löst die so entstehenden politischen Kreuzworträtsel anscheinend eleganter - und nachhaltiger.

Der Antiraketen-Verzicht ist nicht nur ein taktischer Zug. Er bedeutet Kurswechsel. Die Chefs in Moskau sollten sich nicht der Illusion hingeben, ihre Härte hätte das bewirkt. Die Europäer aber dürfen hoffen, dass die gegenwärtige Einsicht in die globale Verantwortung in Washington anhält.

**** Aus: Frankfurter Rundschau, 18. September 2009 (Leitartikel)


Abgeschossen

Von Olaf Standke *****

Barack Obama meinte es ernst. Als er unmittelbar nach seinem Machtantritt ankündigte, er wolle mit dem in Osteuropa geplanten teuren Raketenabwehrsystem auch eines der militär-strategischen Lieblingsvorhaben der Bush-Regierung auf den Prüfstand stellen, lächelten die heimischen Rüstungslobbyisten und die willigen Bündnispartner in Prag und vor allem in Warschau noch milde. Schließlich gab es Verträge. Aber es gab auch ein erbostes und wiedererstarktes Russland und – wohl beängstigender noch – ein monströses Haushaltsloch dank eines nie gekannten Finanzfiaskos und galoppierender Kriegskosten. Überall Krisen und Konflikte, die selbst eine Supermacht nicht mehr allein schultern kann. Sie braucht Partner wie Russland. Und dann steht in den Sternen, wann die viel beschworenen »Schurkenstaaten« über Raketen verfügen, die die USA wirklich bedrohen könnten.

Das alles wusste der neue Präsident; ob Bushs Sternenkriegsprojekt light im Ernstfall wirklich funktionieren würde, konnten ihm die Militärs dagegen nicht versprechen. Wohl aber kostengünstigere, flexiblere und nicht zuletzt politisch weniger umstrittene Alternativen. Man sollte also genau hinhören: Das Aus in Polen und Tschechien ist fraglos ein positives Sig-nal, aber das Projekt stirbt nicht, es wird abgespeckt und verschoben, vielleicht in die Luft, vielleicht auf Schiffe, auf alle Fälle geografisch. Und wenn erforderlich, will man im Pentagon diesen Schild auch wieder ausgraben.

***** Aus: Neues Deutschland, 18. September 2009 (Kommentar)


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