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"Abwehrwaffen" als Teil einer offensiven Strategie?

Bündnisgrüne stimmen Raketenabwehrsystems MEADS zu - Friedensforscher Bernd W. Kubbig: "Deutschland mit Meads weltweit als Interventionspartner hoffähig machen"

Die Bündnisgrünen haben nach längerem Nachdenken bzw. Druck des Koalitionspartners nun doch für das Raketenabwehrsystems MEADS gestimmt. Darüber berichtet der nachfolgende Artikel aus der Internetzeitung "www.ngo-online.de" vom 20. April. Am 22. April entscheidet der Bundestag über das Rüstungsprojekt. Im Anhang zitieren wir außerdem aus einem Interview der Tageszeitung taz mit dem Friedensforscher Bernd W. Kubbig zum selben Thema. Die Presseerklärung von DFG-VK und IPPNW, auf die der Artikel in ngo-online mehrmals Bezug nimmt, haben wir hier dokumentiert: "Die Grünen verabschieden sich bei Zustimmung zu MEADS vollends von ihren friedenspolitischen Wurzeln."



Krieg im Nahen Osten?

Grüne Bundestagsfraktion stimmt für Rüstungsprojekt MEADS

Die Grünen-Fraktion stimmte einer Beteiligung Deutschlands an der Entwicklung und Anschaffung des Raketenabwehrsystems MEADS zu. Bei einer Abstimmung in der Fraktion sprachen sich am Dienstag 29 Abgeordnete dafür aus, 12 stimmten dagegen und 5 enthielten sich der Stimme. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte, es gebe "eine große Mehrheit", die das Ergebnis unterstütze. Sie gehe davon aus, dass die Grünen am Mittwoch im Haushaltsausschuss zustimmen werden. Die SPD-Haushaltsexpertin Elke Leonhard hatte kürzlich der Tageszeitung "Die Welt" gesagt, MEADS sei besonders für spätere Auslandseinsätze der Bundeswehr wichtig. Wenn die Bundeswehr zu Einsätzen in den Nahen Osten geschickt werden sollte, müsse bedacht werden, dass es dort kein Land gebe, das nicht über Raketentechnik verfüge. Die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) protestieren energisch gegen die Entscheidung der Partei- und Fraktionsspitze von Bündnis 90/Die Grünen. Die Grünen seien "im Rüstungsrausch".

"Denkt man also über einen Einsatz deutscher Soldaten in 10 bis 15 Jahren im Nahen Osten, aber auch in jeder anderen Krisenregion der Welt nach, wird man den Soldaten die Frage beantworten müssen, wie sie vor Angriffen mit Raketen wirksam geschützt werden", argumentierte Leonhard. Mit MEADS könnten auch Flughäfen, Häfen oder andere sensible Projekte wirkungsvoll geschützt werden.

Hinter MEADS verbirgt sich die Entwicklung einer bodengestützten Flugabwehrrakete, die laut Projektangaben neben der Bekämpfung von Hubschraubern, Flugzeugen und Marschflugkörpern auch gegen taktische ballistische Raketen mit einer Reichweite von 1000 Kilometern eingesetzt werden kann. Die Abkürzung steht für "Medium Extended Air Defence System". MEADS soll in den USA und in Deutschland das Luftverteidigungssystem Patriot sowie das Nike Hercules System in Italien ersetzen.

EADS: "Hit-to-Kill"

MEADS soll auch mit Transportflugzeugen in Kriegsgebiete geflogen werden können und dort "über eine bisher nicht vorhandene taktische Beweglichkeit" verfügen. "MEADS integriert den erprobten 'Direkttreffer (Hit-to-Kill)'-Flugkörper PAC-3 in ein System, bestehend aus Überwachungs- und Feuerleitsensoren, Gefechtsführungs-/Kommunikationszentren und Startgeräten mit hoher Feuerkraft", schrieb der zu DaimlerChrysler gehörende Rüstungskonzern EADS am 14. August 2003 in einer Pressemitteilung. "Das Waffensystem vereint Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld mit beispielloser Flexibilität und kann dadurch in der Rolle der Heimatverteidigung eingesetzt werden, als auch den Schutz von Manöverkräften vor Angriffen von taktischen ballistischen Flugkörpern, Marschflugkörpern, Drohnen (UAVs) und Flugzeugen gewährleisten."

"Die Lektionen, die man in bezug auf Luftverteidigung aus dem vor kurzem geführten Irak-Krieg gelernt hat", so heißt es bei EADS weiter, "bestätigen einmal mehr die MEADS-Systemforderungen, die entscheidende Verbesserungen an Gefechtsführung (BMC4I), strategische und taktische Mobilität, 360-Grad-Abdeckung, Lagekenntnis des Bedieners und Zielbestimmung, -unterscheidung und -identifizierung (CDI) fordern."

Nach Ansicht der SPD-Politikerin Leonhard eröffnet MEADS die Chance, "an einem einzigartigen Aufklärungsverbund der Amerikaner beteiligt zu werden". Für die deutsche Industrie gehe es außerdem um High-Tech-Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung und um den Zugang zu amerikanischem Know-how. Gerade dieser Wissenstransfer mache das Projekt für deutsche Firmen so attraktiv, hob Leonhard hervor. Auch für den SPD-Verteidigungsexperten Hans-Peter Bartels stellt MEADS "das Maximum dessen dar, was den deutschen und verbündeten Truppen in Einsätze mitgegeben werden kann".

"Weiterer Schritt der Militarisierung der Außenpolitik"

Die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG-VK) und die Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) fordern mit Nachdruck, die Zustimmung zu MEADS im Haushaltsausschuss zu verweigern. "Die Befürwortung von MEADS würde einen weiteren Schritt der Militarisierung der Außenpolitik darstellen. Mit MEADS werden mehrere Milliarden Euro an Steuergeldern verschwendet, die wiederum im Bereich der Sozial- und Bildungspolitik oder der Zivilen Konfliktbearbeitung fehlen werden", meint Joachim Thommes von der DFG-VK.

Alle Sparappelle der Bundesregierung im Sozialbereich würden damit Lügen gestraft. Neben den jetzt zu beschließenden 847 Millionen Euro Entwicklungskosten stünden den deutschen Steuerzahlern nach Angaben des Bundesrechnungshofes weitere sechs Milliarden Euro Beschaffungskosten ins Haus", sagte Thommes.

"Handlanger der Rüstungsindustrie"

Weitere immense Kosten erwarteten Experten für die Bedienung und Wartung. "Im Falle der endgültigen Zustimmung zu MEADS machen sich Bündnis 90/Die Grünen zu Handlangern der Rüstungsindustrie, insbesondere des Rüstungsriesen DaimlerChrysler-EADS. MEADS ist ein aktiver Beitrag zur Kriegspolitik und steht in eklatantem Widerspruch zu den Vereinbarungen des Rot-Grünen Koalitionsvertrags", so Jürgen Grässlin von der DFG-VK. Grässling ist zugleich "Kritischer Aktionär" der DaimlerChrysler AG. Er resümiert: "Die Grünen verabschieden sich bei Zustimmung zu MEADS vollends von ihren friedenspolitischen Wurzeln."

Laut den beiden mitgliederstärksten Friedensorganisationen in der Bundesrepublik sei MEADS völlig ungeeignet für die genannten Zwecke. Innerhalb eines Radius von 1000 Kilometern rund um Deutschland seien keinerlei Raketenangriffe zu erwarten. "Gegen den Überraschungseffekt von terroristischen Angriffen sind Raketenabwehrsysteme grundsätzlich unbrauchbar. Und auch für Auslandseinsätze von Bundeswehrsoldaten - die eher Angriffen mit Kleinfeuerwaffen und Artillerie ausgesetzt sind - taugt MEADS nicht viel", meint Xanthe Hall von den Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges.

Klausel zum Nachschießen von Geld

Für Entwicklung des MEADS-Systems haben Deutschland, Italien und die USA eine Kostenobergrenze von drei Milliarden Euro vereinbart. Davon soll Deutschland rund 850 Millionen Euro aufbringen. Doch das Vorhaben könnte sehr viel teurer werden. Laut Bundesrechnungshof haben die Rüstungsfirmen das Recht, ihre Arbeit an dem Projekt einzustellen, sobald das bereitgestellte Geld aufgebraucht ist, wie "Der Spiegel" schreibt.

Nahezu zwangsläufig müssten die Regierungen daher im Zweifelsfall Geld nachschießen, damit das Projekt nicht unvollendet liegen bleibe. Konventionalstrafen seien nicht vorgesehen. Lediglich der Gewinnzuschlag könne auf 3,75 Prozent des Entwicklungspreises gekürzt werden. Der Rechnungshof warne angesichts dieses Modells vor "unkalkulierbaren finanziellen Risiken".

Parteispenden vom Rüstungskonzern

Nach Angaben in den Rechenschaftsberichten der Parteien für das Jahr 2002 spendete der Rüstungskonzern EADS 26.000 Euro an die SPD und 18.000 Euro an die CDU. EADS-Großaktionär DaimlerChrysler spendete gut 211.000 Euro an die SPD, 150.000 Euro an die CDU, gut 63.000 Euro an die CSU, gut 60.000 Euro an die FDP und 15.000 Euro an die Grünen. Insgesamt floß 2002 also rund eine halbe Million Euro an die Parteien.

Aus: www.ngo-online.de, 20. April 2005


"Meads steht für eine neue Außenpolitik", sagt Bernd W. Kubbig

Die Beratungen über neue Waffensysteme müssen amerikanisiert werden - sie brauchen mehr Öffentlichkeit

Auszüge aus einem taz-Interview mit Dr. Bernd W. Kubbig, Projektleiter Raketenabwehrforschung International, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

taz: Herr Kubbig, heute wird das Raketenabwehrprojekt Meads trotz aller Kritik durch den Haushaltsausschuss gehen. Ist die Akte Meads damit erledigt?

Bernd W. Kubbig: Ganz und gar nicht. Meads ist Teil und Auftakt eines grundlegenden Transformationsprozesses im Sicherheitsdenken von Deutschland und der Nato, die mehr und mehr auf Abwehrwaffen ausgerichtet werden soll.

Sind Abwehrwaffen nicht besser als Angriffswaffen?

Das Problem ist, dass andere Staaten in Krisenregionen wie dem Mittleren Osten dies anders sehen. Abwehrwaffen können - wenn Sie an die amerikanische Präventionsdoktrin denken - Teil einer offensiven Strategie sein. Technologisch sind Abwehr- und Angriffswaffen zudem gefährlich nahe beieinander.

Könnten Abwehrwaffen nicht auch den Anreiz für Präventivschläge, wie sie die USA propagieren, reduzieren?

Das ist die Hoffnung der Abwehrbefürworter. In der Praxis hat sie sich bisher allerdings nicht erfüllt; dies hat etwa der letzte Irakkrieg gezeigt. Aber auch im Hinblick auf den Iran diskutieren die USA eventuelle militärische Schläge, um die nukleare Infrastruktur zu zerschlagen. Von Abwehrwaffen als Alternative ist indes nicht die Rede.

Ist die Debatte über Meads nicht überhöht? Es geht schließlich um ein eng definiertes Projekt.

Ich sehe Meads als Beginn einer neuen Schiene von Rüstungsdynamik, die das Element der Abwehr stärker zu einem Element der Sicherheitsdoktrinen machen möchte. Belegt wird dies dadurch, dass wir in der Nato eine Reihe von grundlegenden Entscheidungen ins Haus stehen haben. Demnächst wird die erste so genannte Machbarkeitsstudie der Allianz zur Raketenabwehr vorgelegt. Darin wird untersucht, ob, zu welchen Kosten und in welchem Ausmaß das gesamte Nato-Territorium gegen Raketen verteidigt werden kann. Ferner besteht nach wie vor die Einladung der Bush- Administration an die Bundesregierung, am globalen Abwehrschirm der USA aktiv teilzunehmen.
(...)

Sehen Sie auch unmittelbare Folgen für die deutsche Politik?

Einerseits geht es darum, Deutschland mit Meads weltweit als Interventionspartner hoffähig zu machen. Andererseits dient dieses System mit dazu, der neuen, auf Abwehr setzenden Strategie der USA und der Nato ein Rückgrat zu geben. All das sind große und grundlegende Prozesse, in die Deutschland mit Meads eingebunden ist. Diejenigen, die daran Zweifel haben, seien darauf verwiesen, dass die US-Regierung gesetzlich verpflichtet ist, das spezielle System Meads als Teil ihres globalen Abwehrschirms zu behandeln.

Wie konnte ein Projekt dieser finanziellen Größenordnung relativ einfach durchgedrückt werden?

Der Meads-Beschluss ist ein klassisches Beispiel für einen Mini- MIK, einen Militärisch-Industriellen-Komplex. Ein erklärender Faktor ist die Luftwaffe, die ihre Struktur erhalten und Anschlussprojekte für veraltete Systeme haben möchte. Dann gibt es handfeste Interessen der Industrie. Und schließlich favorisiert ein harter Kern von Parlamentariern parteiübergreifend dieses Projekt. (...)

Trotz aller Gegenargumente wird sich Deutschland nun an Meads beteiligen. Ist das eine herbe Niederlage für Kritiker wie Sie?

Für mich als Wissenschaftler ist bedeutsam, dass die Einwände nach wie vor Substanz haben; sie gelten ja auch für die Grünen weiterhin. Zudem sollten wir den Beschluss nicht isoliert sehen, denn die öffentliche Kontroverse hat andere wichtige Ergebnisse gebracht: Die Entscheidungsträger müssen ihre Position begründen, das Verteidigungsministerium sah sich erstmals gezwungen, überhaupt Angaben zu den Meads-Kosten öffentlich zu machen (auch wenn sie nach meiner Auffassung nicht tragfähig sind), und der Bundesrechnungshof konnte eine herausragende Rolle spielen. Vor allem aber ist die Öffentlichkeit für anstehende Aufrüstungsmaßnahmen im Bereich der Abwehr sensibilisiert.
(...)

Ganz vergeblich war der Streit über Meads als nicht?

Keinesfalls. Meads steht für eine noch nicht ausreichend erörterte und legitimierte Sicherheitspolitik. Das wichtigste Ergebnis aus der Diskussion über dieses System ist, dass die Idee der Abwehr als eine neue Form militarisierter Außenpolitik heftig angekratzt ist. Das ist eine sehr gute Ausgangsposition, um die Entscheidungen, die nun hierzulande und in der Nato anstehen, kompetent, kritisch und vielleicht auch erfolgreicher zu begleiten.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ

Auszüge aus: taz, 20. April 2005




Siehe auch:
"Die Grünen verabschieden sich bei Zustimmung zu MEADS vollends von ihren friedenspolitischen Wurzeln."
DFG-VK und IPPNW und Braunschweiger Friedensbündnis kritisieren Grünen-Zustimmung zum umstrittenen Rüstungsprojekt MEADS (21. April 2005)
Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein bodengebundenes Luftverteidigungssystem?
Von Hermann Hagena, Luftwaffengeneral a.D. (15. Februar 2005)
Nicht entscheidungsreif: MEADS zur Ablehnung empfohlen
Eine kritische Analyse des bodengestützten Raketenabwehrsystems aus der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) (31. Januar 2005)
Offener Brief der Grünen Jugend
an die Partei- und Fraktionsspitze gegen die von der Bundesregierung geplante Beteiligung an einem lanmgfristigen Rüstungsprojekt "MEADS" (22. Januar 2005)





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