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"Es ist nichts unmoralisch, was Amerika nützt"

Bushs neue Sicherheitspolitik stellt Europa vor neue Herausforderungen, ist aber auch in den USA umstritten

Von Reinald Lukas*

Als der Demokrat Bill Clinton am 20. Januar diesen Jahres die politische Bühne verließ und das Präsidentenamt an seinen republikanischen Nachfolger George Walker Bush übergab, sprachen nicht nur politische Beobachter in Washington von einem Epochenwechsel. Der ehemalige Gouverneur von Texas, der sich selber gerne als "Reformer mit Resultaten" sieht, galt vor allem außen- und sicherheitspolitisch als unbeschriebenes Blatt. Als routiniert gilt hingegen sein Mitarbeiterstab. Condoleezza Rice, die nationale Sicherheitsberaterin gilt als Russlandexpertin und beriet zu Zeiten des deutschen Vereinigungsprozesses schon Vater Bush in außenpolitischen Angelegenheiten. Colin Powell, der neue Außenminister, war bereits zu Zeiten Reagans Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates. Zugleich machte sich der vier Sterne General und Ex-Chef der US-Streitkräfte als Kommandeur der "Operation Wüstensturm" in weiten Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit beliebt, weil er mit der Rückeroberung Kuwaits den amerikanischen Führungsanspruch demonstrierte und zugleich das "Vietnam Trauma" der USA überwinden half. Verteidigungsminister Do-nald Rumsfeld, mit 68 Jahren das zweitälteste Kabinettsmitglied, war bereits unter Ford, von 1975 bis 1977, Verteidigungsminister. Er gilt neben Richard Cheney, dem Vizepräsi-denten, der als Stabschef unter Ford und als Exverteidigungsminister seines Vaters ebenfalls über außenpolitische Erfahrung verfügt, als besonders entschiedener Befürworter eines nationalen Raketenabwehrsystems (NMD) und eines amerikanischen Truppenrückzuges aus Bosnien und dem Kosovo. Der angestrebte Balkanrückzug und das National Missile De-fense System (NMD) bilden zwei der vier wichtigsten sicherheitspolitischen Streitpunkte mit den Europäern. Weitere Zankäpfel sind die geplante europäische Eingreiftruppe von 60000 Soldaten, wovon die Bundeswehr allein 18000 stellen soll und unterschiedliche Bewertungen im Verhältnis zu China.

Bei allen vier Problemfeldern kristallisiert sich immer mehr eine Konfliktlinie zwischen State Department einerseits und Pentagon andererseits heraus. Im Fall China zeigte sich dies zuletzt im Fall der festgehaltenen amerikanischen Aufklä-rungsmaschine. Während Powell, ähnlich wie die Europäer, für ein gemäßigtes Vorgehen eintrat und China vor allem als "potentiellen Konkurrenten, aber nicht als unversöhnlichen Gegner" begreift, setzte sich Rumsfeld, obwohl er sich offiziell heraushielt, für eine härtere Gangart ein und wurde dabei indirekt von der Sicherheitsberaterin Rice unterstützt, die China für "keine Status-quo-Macht" hält, sondern vielmehr für einen Staat, der die Kräfteverhältnisse zu seinen Gunsten verändern will. Dass sich Powell und die Diplomatie schließlich doch durchsetzen konnten, hat von Chinas Seite vor allem wirtschaftliche Gründe. So sind die USA Chinas wichtigster Exportpartner mit 83 Milliarden US-Dollar Handelsüberschuss. Die amerikanischen Direktinvestitionen in China, inklusive Hongkong, erreichen inzwischen 17 Mrd. US-$ und über 50000 Studenten studieren in diesem Semester in den USA. Dies ist jedoch kein Grund zur Entwarnung, denn die Bush Regierung setzt in ihrer Chinapolitik deutlich andere Akzente als Clinton, der zuletzt sogar von "strategischer Partnerschaft" gesprochen hatte. Der neue stellvertretende Außenminister Richard Armitage und der eigentlich einem liberalen Institutionenansatz verpflichtete Havardprofessor und Dekan Joseph Nye hielten in einer Studie aus dem letzten Jahr sogar einen Krieg in Ostasien in den nächsten zehn Jahren für möglich. Die geplanten Waffenlieferungen Washingtons an Chinas Erzrivalen Taiwan werden kaum dazu beitragen das Ver-hältnis zum dem 1,5 Mrd. Giganten China, dessen Wirtschaftswachstum seit 25 Jahren, von zwei kurzen Perioden in den achtziger Jahren abgesehen, bei 10 Prozent und mehr liegt zu verbessern. Die 100.000 stationierten US-Soldaten in der asiatischen Region sind angesichts dieser Entwicklungen für die Bush Administration weiterhin ein wichtiger Eckpfeiler ihrer Sicherheitspolitik.

Das Verdikt vieler Kommentatoren und Analytiker über die neue republikanische Außen- und Sicherheitspolitik als "Isolationismus" ist deshalb unpräzise. Korrekter wäre es von einem "America first" Programm zu sprechen. Das bedeutet, dass die eigenen Interessen in den Vordergrund rücken und auf die Interessen der europäischen Partner oder gar anderer Staaten noch weniger als bei Clinton Rücksicht genommen wird. Dessen Konzept der "Assertive Multilaterialism" (entschiedener Multilateralismus) berücksichtigte zumindest teilweise auch die Interessen anderer Staaten und internationaler Organisationen wie EG oder Uno.

Bush hingegen setzt auf Bilateralismus und auf von den USA dominierte konventionelle Militärorganisationen wie die NATO, deren zweite Erweiterungsrunde er bereits auf dem Prager NATO-Gipfel im Sommer nächsten Jahres vorantreiben möchte. Der amerikanischen Rüstungsindustrie eröffnet sich mit den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes ein lukrativer Markt. Europäische Bedenken aufgrund russischer Sicherheitsinteressen zählen da eher wenig. Interessanter dürfte da eher der Kostenaspekt werden, der auch in der ersten Erweiterungsrunde eine wichtige Rolle spielte.

Kosten spielen ebenfalls eine Rolle in der Frage des militärischen Engagements auf dem Balkan. Obwohl der Außenminister Anfang März noch die Maxime ausgab: "Gemeinsam rein. Gemeinsam raus.", sollen nach einem nicht dementierten Plan des Pentagons noch dieses Jahr bereits ein Fünftel der 3.500 stationierten amerikanischen Soldaten aus Bosnien abgezogen werden und der Aufbau der Region ganz an die Europäer abgetreten werden. Umgekehrt werden deren Anstrengungen für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (EVSP) von der Bush Regierung mit großer Skepsis betrachtet. Während Powell den Plan Mitte März noch im Grundsatz begrüßte, befürchtete Rumsfeld bereits wenig später eine Destabilisierung der NATO. Bruce Stokes, Senior Fellow des Rates für Auswärtige Beziehungen, äußert in der Zeitschrift Internationale Politik, dass seiner Ansicht nach die Bush Regierung von Natur aus einem Europa der Nationalstaaten zuneige, "einem Europa, das man manipulieren kann, indem man eine nationale Hauptstadt gegen die andere ausspielt, um Amerikas kurzfristigen Interessen entgegenzukommen".

Der größte Stein des Anstoßes zwischen Europa und den USA bildet aber zur Zeit das geplante Raketenabwehrsystem der Amerikaner. Der Plan an sich ist nicht neu. Bereits von 1945 bis zum Ende der Ära Clinton hatten die USA über 100 Mrd. US-Dollar Investitionen in Forschung und Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr getätigt. Ronald Reagans im März 1983 groß angekündigtes "Krieg der Sterne Programm" wollte die USA unter den unverwundbaren Raketenschutzschirm stellen. Das Programm scheiterte jedoch an unausgereifter und zu teuer Technik und am Ende des kalten Krieges, an dessen Ende auch das sowjetische "Reich des Bösen" zerfiel.

Die Republikaner im Kongress haben jedoch den Plan ihres vormaligen Präsidenten nie aufgegeben und seit 1993 Druck auf Clinton ausgeübt. Unter der ab 1994 gewonnenen Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus und unter dem Eindruck der Erkenntnisse der eingesetzten Rumsfeld-Kommission, deren Ergebnisse Ende 1998 veröffentlicht wurden und die von der Existenz sogenannter "rogue states" (Irak, Iran, Libyen, Nordkorea) ausgeht, deren Nuklearrüstung Amerikas Sicherheit bereits kurzfristig beeinträchtigen könnte, erreichten sie 1999, dass die Ausgaben für Raketenabwehr von der Clinton Administration von geplanten 3,9 Mrd. US-$ auf 10,6 Mrd. US-$ angehoben wurden.

Bush hat angekündigt vom jetzigen Verteidigungsetat von rund 300 Mrd. US-$, den er um 30 bis 40 Mrd. anheben möchte, einen beträchtlichen Teil für das geplante nationale Raketenabwehrsystem (NMD) abzuzweigen. Ein von der Clinton Administration zuletzt angestrebtes begrenztes Raketenabwehrsystem (TMD), das mit dem mit der Sowjetunion abgeschlossenen ABM-Vertrag vereinbar wäre, lehnt er ab. Der Vertrag ist aus konservativer Perspektive ein Produkt des kalten Krieges. Unterstützt wird er dabei von einem Rechtsgutachten der rechten Heritage-Foundation, die den Vertrag für nichtig hält, da die Sowjetunion als eine der Vertragsparteien inzwischen nicht mehr existiere. Die Heritage-Foundation hielt schon 1989 Raketenabwehrsysteme für die geeignete Antwort auf die Weiterverbreitung von Kernwaffen (Proliferation) und arbeitet bereits seit Mitte der neunziger Jahre mit ehemaligen Reagan Mitarbeitern des Militärs, der Politik und Wissenschaft an einer Konzeption. Diese soll die Bedenken europäischer Verbündeter, durch Einbindung in ein gemeinsames seegestütztes Abwehrsystem, zerstreuen.

Die Hoffnung der Schröderregierung, durch ein sogenanntes Alliiertes Raketenabwehrsystem (AMD) von der Technologie der Amerikaner zu profitieren, könnte sich jedoch als Chimäre erweisen. Nach Angaben von Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung bestand schon das europäische Auftragsvolumen beim SDI Projekt weitgehend aus "Peanuts". Die deutschen Firmen erhielten zwischen 1985 und 1988 lediglich Aufträge im Wert von 62,31 Millionen US-Dollar. Das gleiche gilt für das amerikanisch-italienisch-deutsche Luftabwehrprojekt MEADS, dessen Entwicklungsphase inzwischen von Ende 2002 auf 2012 verschoben wurde. Hier will das amerikanische Verteidigungsministerium ebenso wenig sensible Daten an die europäischen Partnerländer weitergeben wie bei der geplanten Lieferung der PAC 3 Abfangraketen an Deutschland. Die restriktive amerikanische Exportgesetzgebung wurde auch von der deutschen Rüstungsindustrie mehrfach kritisiert. Auf der anderen Seite sind zwar die Motive der USA zu verstehen, sich vor Raketen von Staaten wie Irak oder Nordkorea schützen zu wollen. Die Folgen sind jedoch weiterreichender Natur. Es ist zu befürchten, dass das Ende der geordneten nuklearen Abrüstung zwischen Russland und den USA eingeläutet wird und ebenso das Ende des globalen Konsenses über Nichtverbreitung und Abrüstung. Aber selbst wenn es gelänge mit Russland eine Einigung über ein gemeinsames Raketenabwehrsystem zu erzielen, wie es einige Optimisten bereits verbreiten, würde China durch erhöhte Aufrüstung seiner Interkontinentalraketen leicht darauf antworten können. Die weitreichenden Folgen wären ein neuer Rüstungswettlauf in der gesamten Region Ostasien. Außerdem haben sich die Republikaner schon unter Clinton durch ihre Blockade der Ratifi-kation eines umfassenden Atomteststoppabkommens (CTBTO) im Oktober 1999 in eine unglaubwürdige Position gebracht und damit weiteren Atomtests von Staaten wie Indien, Pakistan und anderen keinen Riegel vorgeschoben.

Noch ist es jedoch zu früh eine endgültige Prognose über Bushs Sicherheitspolitik abzugeben. Auch wenn die Heritage Foundation Bush als "reaganhaftiger als Reagan" bejubelt. Auch Clinton wollte zuerst eine "härtere Gangart" gegenüber China anschlagen. Der Koalition der entschiedenen Raketenbe-fürwortern von Heritage Foundation, Center for Security Policy, High Frontier und Townhall stehen Gegner aus der Car-negie Stiftung, der Federation of American Scientists, der Arms Control Assocation und anderen gegenüber. Aber auch konservative Institute, wie die Brookings Institution treten inzwischen lediglich für den Aufbau eines begrenzten Raketenabwehrsystems (TMD) ein, das möglicherweise mit dem ABM Vertrag vereinbar wäre. Ein Konsens der Amerikaner in dieser Frage existiert jedenfalls keineswegs.

Die Europäer sind gut beraten einen kühlen Kopf zu bewahren, zumal Raketenabwehrsysteme jeglicher Art in den nächsten sieben bis zehn Jahren nicht stationiert werden können. Und bis dahin dürften Bush und seine republikanische Mannschaft, wenn sie dann noch im Besitz der Macht sind, gelernt haben vernünftig außen- und sicherheitspolitisch zu agieren und auf die Manieren "des republikanischen Elefanten im Porzellanladen" (Richard Holbrooke) zu verzichten.

* Dipl. Sozialwiss./Pol. Reinald Lukas ist Doktorand in Hagen. Sein Arbeitsschwerpunkt: Deutsche (Post-)Sowjetologie
Der Beitrag erscheint demnächst in der Zeitschrift "Zeitzeichen" Nr. 6/2001


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