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Bushs Raketenschirm: löchrig, teuer und gefährlich

Weiterer Test soll dem kritisierten Projekt neuen Schwung geben

Von Wolfgang Kötter*

Es ist in letzter Zeit leiser geworden um das Nationale Raketenabwehrsystem (»National Missile Defense« – NMD), das von den USA als Symbol eigener Unverwundbarkeit und straffreier Intervention in aller Welt angesehen wird. Jetzt findet nach längerer Pause wieder ein Test statt.

Offiziell hüllen sich die USA in Schweigen, obwohl ein Rumpfgefüge des Raketenschirms bereits seit längerem einsatzbereit sein sollte. Trotz zahlreicher Fehlschläge und einer Kostenexplosion verfolgt die Regierung das Projekt jedoch starrsinnig weiter. »Als Präsident Bush im Dezember 2002 die Entscheidung traf, das bodengestützte Raketenabwehrsystem in Alaska und auf der Luftwaffenbasis Vandenberg in Kalifornien zu stationieren«, kritisiert Weltraumexperte Philip Coyle vom Washingtoner Zentrum für Verteidigungsinformation, »scheint er kein anderes Kriterium gehabt zu haben als ein ideologisches Bekenntnis, manche mögen sagen: ein glaubensbegründetes Bekenntnis, zur Raketenabwehr.«

Wenn die Pläne des Pentagons sich einst erfüllen sollten, würden angreifende Raketen von Sensoren zu Land, zu Wasser, an Bord von Flugzeugen und aus dem Weltraum heraus identifiziert und über Radarsysteme verfolgt werden. Abfangraketen unterschiedlicher Kapazität vernichten dann die gegnerischen Offensivraketen entweder unmittelbar nach dem Start oder im erdnahen Weltraum, spätestens aber in der Endphase des Zielanflugs, noch bevor sie das USA-Territorium erreichen. Nach dem Testszenario steigt in Kalifornien die mit einem »Kill Vehicle« ausgerüstete Abfangrakete auf und zerstört eine etwa 20 Minuten zuvor tausende von Kilometern entfernt im Pazifik gestartete Interkontinentalrakete.

Die bisherige Testreihe verlief jedoch nicht besonders erfolgreich. Bei insgesamt elf Starts konnte lediglich fünf Mal eine Sprengkopf-Attrappe abgeschossen werden, und auch das nur durch künstlich erleichterte Rahmenbedingungen. Seit dreieinhalb Jahren gelang kein weiterer Treffer, zuletzt kamen die Raketen nicht einmal mehr aus den Startlöchern. Darum ist man inzwischen vorsichtiger geworden, und so startet zunächst nur eine Versuchsrakete von der Kodiak Insel in Alaska, um aktuelle Daten für die Modernisierung der Radarsysteme zu gewinnen.

Der Abschussversuch einer vermeintlichen Angriffsrakete ist erst für das späte Frühjahr geplant. Außerdem wurden einige der zur operativen Einbunkerung vorgesehenen Abfangraketen für weitere Versuchsflüge umgewidmet. Dadurch hat sich auch die ursprünglich geplante Dislozierungsrate halbiert. Auf der Armeebasis in Fort Greeley nahe Fairbanks in Alaska befinden sich bis heute acht Abfangraketen, zwei weitere auf der Luftwaffenbasis Vandenberg nordwestlich von Santa Barbara. Die weiteren Stationierungstermine bleiben, wie der Chef der Raketenabwehrbehörde Generalleutnant Henry Obering wissen ließ, »aus Sicherheitsgründen« geheim.

Wachsende Kritik richtet sich auf die enormen Kosten des NMD von jährlich zehn Milliarden Dollar, die sogar noch steigen sollen. Wie der Rechnungshof des USA-Kongresses kalkuliert, könnten es im Jahre 2013 bereits 19 Milliarden sein. Seit der damalige Präsident Reagan 1983 den »Krieg der Sterne« ankündigte, wurden insgesamt bereits über 100 Milliarden Dollar ausgegeben. Bis 2024 wird schätzungsweise die gigantische Summe von 247 Milliarden hinzukommen. So gerät das Pentagon unter wachsenden Rechtfertigungsdruck. Dabei greifen die Protagonisten zu ziemlich abstrusen Argumentationen. In einem Ende Januar vorgeführten Computerspiel, das Kongressangehörige und Journalisten von der Funktionstüchtigkeit der Raketenabwehr überzeugen sollte, verzichteten die Programmier auf jegliche Tarn- und Täuschungsmanöver der simulierten Angreifer. Eine völlig realitätsferne Annahme, kritisiert der demokratische Kongressabgeordnete Rush Holt diese Voraussetzungen. Ebenfalls wenig Nähe zur wirklichen Bedrohungslage zeigt eine Auflistung von 20 Staaten mit potenziellen Fähigkeiten zum Raketenangriff, darunter Verbündete wie Israel und Südkorea. Eine Gefahr gehe auch von Moldova und der Ukraine aus.

Derweil finden die Washingtoner Sternenkrieger in Osteuropa eifrige Mitstreiter. Zu den alten Kooperationspartnern Großbritannien, Dänemark, Japan, Australien und Israel gesellen sich Polen, Tschechien und Ungarn. Sie bieten ihr Territorium für Radarsysteme und Raketensilos an. So könnte möglicherweise in der Hohen Tatra der kontinentaleuropäische Außenposten des USA-Raketenschirms entstehen. Die umliegenden Staaten sind beunruhigt, denn die Raketen würden auch ihren Boden überfliegen und ausgebrannte Antriebsstufen könnten darauf niedergehen. Nicht zuletzt droht die Einbeziehung in ein neues Wettrüsten mit unabsehbaren Konsequenzen.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Februar 2006


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