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Fischer voll des Lobes für Bush

Grünes Licht für Raketenabwehrsystem - Es geht nur noch um das Wie

In einer mit Spannung erwarteten Rede zur Außenpolitik der Vereinigten Staaten wandte sich der gerichtlich eingesetzte Präsident George Bush jr. am 1. Mai 2001 an die US-Bevölkerung und an die Weltöffentlichkeit. Die Erklärung brachte keine Überraschungen. Was die umstrittene Raketenabwehr (NMD) betrifft, sorgte Bush aber wenigstens für Klarheit. Das Ding wird gebaut. Die Frage ist nur noch, wer sich daran beteiligen darf und wer nicht. Im Folgenden dokumentieren wir die wesentlichen Passagen aus Bushs Rede, die sich mit NMD befassen, sowie eine Erklärung, die im Anschluss daran der deutsche Außenminister Fischer abgab. Weiter unten dann Reaktionen aus dem Ausland und ein paar Anmerkungen.

"Wir müssen die Zwänge des ABM-Vertrags überwinden"

Bushs Rede vor der National Defense University in Washington in Wortlaut-Auszügen:

"Lassen Sie uns 30 Jahre zurückdenken, in eine sehr andere Zeit, in eine sehr andere Welt. (...) Die Sicherheit sowohl der Vereinigten Staaten als auch der Sowjetunion basierte auf der grimmigen Annahme, dass keine Seite Atomwaffen gegen die andere Seite abfeuern würde, weil dies das Ende beider Nationen bedeuten würde. Wir gingen sogar soweit, dieses Verhältnis im ABM-Vertrag von 1972 festzuschreiben, basierend auf der Doktrin, dass unser beider Überleben am sichersten sei, wenn beide Seiten für einen Atomangriff vollständig offen und verwundbar blieben. (...)

Heute geht die Sonne über einer völlig anderen Welt auf. (...) Das heutige Russland ist nicht unserer Feind, sondern ein Land im Übergang, mit der Chance, als eine große Nation aufzuerstehen, demokratisch, im Frieden mit sich selbst und seinen Nachbarn. Der Eiserne Vorhang existiert nicht mehr. Polen, Ungarn und die Tschechische Republik sind freie Nationen und jetzt unsere Verbündeten in der NATO, zusammen mit dem vereinigten Deutschland. Und doch ist dies immer noch eine gefährliche Welt; weniger sicher, weniger vorhersagbar. Mehr Nationen verfügen über Atomwaffen und noch mehr haben atomare Ambitionen. Viele haben chemische und bakteriologische Waffen. Manche haben schon eine Raketentechnologie entwickelt, die es ihnen ermöglicht, Massenvernichtungswaffen über lange Strecken mit unglaublicher Geschwindigkeit zu feuern. (...)

Am beunruhigendsten ist, dass auf der Liste dieser Länder einige der verantwortungslosesten Staaten der Welt stehen. Anders als im Kalten Krieg geht die dringendste Bedrohung heute nicht von tausenden Atomraketen in sowjetischer Hand aus, sondern von einer kleinen Zahl von Raketen in der Hand dieser Staaten, Staaten für die Terrorismus und Erpressung zum Alltag gehören. (...)

Wie Saddam Hussein sind einige der heutigen Tyrannen von einem Hass auf die Vereinigten Staaten von Amerika ergriffen, der nicht zu besänftigen ist. (...) In solch einer Welt reicht Abschreckung im Stil des Kalten Kriegen nicht mehr aus. (...) Wir brauchen neue Abschreckungskonzepte, die sich sowohl auf offensive als auch auf defensive Streitkräfte stützen. Abschreckung kann nicht mehr ausschließlich durch die Gefahr eines atomaren Gegenschlages gewährleistet werden. (...)

Wir brauchen ein neues Vertragswerk, das uns gestattet, Raketenabwehren aufzubauen, um den verschiedenen Bedrohungen der heutigen Welt zu begegnen. Um dies zu tun, müssen wir die Zwänge des 30 Jahre alten ABM-Vertrages überwinden. Dieser Vertrag erkennt die Gegenwart nicht an und weist uns nicht in die Zukunft. Er verkörpert die Vergangenheit. (...)

Wir können und werden die Zahl, die Zusammensetzung und die Art unserer Atomstreitkräfte verändern, auf eine Weise, welche die Realität widerspiegelt, dass der Kalte Krieg vorbei ist. Ich bin entschlossen, eine glaubwürdige Abschreckung mit der geringstmöglichen Zahl an Atomwaffen zu erreichen, die den Bedürfnissen unserer nationalen Sicherheit und unseren Verpflichtungen gegenüber unseren Alliierten gerecht wird. (...)

Sobald wir so weit sind, werden wir in Zusammenarbeit mit dem Kongress Raketenabwehrsysteme aufbauen, um die globale Sicherheit und Stabilität zu stärken. (...) Wir stellen unsere Freunde und Alliierten dabei nicht vor vollendete einseitige Entscheidungen. Wir freuen uns, ihre Meinung zu hören, die Meinung unserer Freunde, und sie zu berücksichtigen. (...) Wir müssen auch andere betroffene Staaten wie China und Russland einbeziehen. Wir alle müssen die Welt in einer neuen, realistischen Weise betrachten, um den Frieden für die zukünftigen Generationen zu erhalten.
Gott schütze Sie."

"Die Haltung der Bundesrepublik bestätigt"

Erklärung von Bundesaußenminister Fischer am 1. Mai 2001 in Washington aus Anlass der Rede von US-Präsident George Bush zu einem Raketenabwehrsystem und tiefgreifenden nuklearen Abrüstungsschritten:

"Ich sehe durch die heutige Rede von Präsident Bush die Haltung der Bundesregierung zu einem möglichen Raketenabwehrsystem bestätigt. Sie hat in der Vergangenheit immer auf die Bedeutung folgender Punkte hingewiesen:
  • Ein wirksames, vertragliches Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime muss erhalten und ausgebaut werden; dies schließt auch wirksame und verifizierbare Proliferationsverhinderung ein;
  • Zur Vermeidung globaler oder regionaler Rüstungswettläufe ist ein kooperativer Ansatz erforderlich, der auch Russland und China einbezieht;
  • Die Pläne zu einer möglichen Raketenabwehr müssen möglichst mit einer drastischen Reduzierung der Offensivsysteme verbunden werden;
  • Enge und intensive Konsultationen mit den Verbündeten und Partner in Europa sind notwendig.
Wir begrüßen, dass Präsident Bush enge Konsultationen mit den Verbündeten angekündigt hat. Er hat ausdrücklich betont, gemeinsam mit Russland eine neue Grundlage für strategische Stabilität und Sicherheit suchen zu wollen, und er hat eine rasche und tief greifende Reduzierung von strategischen Offensivwaffen in Aussicht gestellt. Er hat darüber hinaus seine Absicht bekundet, auch China in die Überlegungen einzubeziehen. Präsident Bushs Ansatz schließt auch das Angebot zur Zusammenarbeit bei der Proliferationsverhinderung ein.

Ich werde meinen Besuch in Washington nutzen, um die genannten Fragen mit der US-Administration weiter zu erörtern. Nächste Woche wird eine hochrangige US-Delegation zu Gesprächen auch nach Berlin kommen. Nach Prüfung der amerikanischen Vorschläge werden intensive Konsultationen im Bündnis und eine enge Abstimmung mit unseren Partner in der EU folgen."

Internationale Reaktionen

Die Reaktionen auf Bushs Rede waren längst nicht so verhalten positiv wie die Erklärung des deutschen Außenministers. Insbesondere aus China kam die bekannte Kritik auf das bekannte Raketenprogramm. Die Nachrichtenagentur Xinhua verbreitete als offizielle Meinung der Administration in Peking, China sei weiterhin gegen den geplanten Abwehrschild. Das US-System werde ein neues Wettrüsten auslösen und stelle eine "Bedrohung für den Weltfrieden" dar. Auch der russische Außenminister Igor Iwanow warnte die USA davor, "einseitige Schritte" zu unternehmen. Die von Bush angekündigten Konsultationen mit den Verbündeten wurden in Moskau als "sehr wichtig" eingestuft. Auch Bushs Versprechen, die Raketenpläne mit Russland zu erörtern, wurden positiv honoriert. Iwanow betonte in seiner Stellungnahme, die russische Regierung hätte US-Präsident Bush "etwas mitzuteilen". Weniger freundlich äußerte sich hingegen der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Dimitrij Rogosin. Er wertete die US-Raketenpläne als "Bedrohung der globalen Sicherheit".

Deutliche Worte der Kritik fand auch die schwedische Außenministerin und derzeitige EU-Ratspräsidentin Anna Lindh. Sie verurteilte die Pläne der USA: "Wir fordern Präsident Bush auf, von dem Raketenabwehrsystem Abstand zu nehmen, so wie wir China, Indien und Pakistan auffordern, ihre Atom-Arsenale aufzugeben". Dass China hier in eine Reihe mit Indien und Pakistan gestellt wird (wenn es sich hier nicht um einen Übermittlungsfehler der Agentur handelt!), ist diplomatisch und weltpolitisch natürlich nicht korrekt. Denn China gehört als ständiges Sicherheitsratsmitglied selbstverständlich zu den offiziellen Kernwaffenstaaten. Genauso könnte man von Frankreich, Russland und Großbritannien, ja, auch von den USA, verlangen, dass sie ihre Atomwaffenarsenale aufgeben. Alle gleichzeitig - das wäre natürlich gut! Dennoch: Die Stellungnahme der schwedischen Außenministerin ist mutig (zur Nachahmung empfohlen, Herr Fischer!), zumal ihr Regierungschef, Schwedens Premier Göran Persson ihr postwendend in die Parade fuhr, als er meinte klarstellen zu müssen, dass dies "keine Frage der EU (sei), sondern .. innerhalb der NATO diskutiert" würde.

Kofi Annan schließlich, seines Zeichens von den USA ins Amt gehievter Generalsektretär der Vereinten Nationen, verteilte Lob und Tadel gleichmäßig. Dass Bush mit den Verbündeten diskutieren wolle, begrüßte er in einer ersten Stellungnahme (mein Gott, seit wann begrüßt man Selbstverständichkeiten, die obendrein nichts kosten?). Auch äußerte er die Hoffnung, dass der ABM-Vertrag nicht fallen gelassen werde. Gleichzeitig rief er alle Staaten auf, ein neues Wettrüsten zu verhindern. Hierin ist sicher eine leise Kritik an Bush versteckt, doch die Mahnung an alle Staaten kann auch so aufgefasst werden: Vielleicht ist es ja nicht recht, was Bush vorhat, aber wenn er es denn tun muss, so lasst ihn machen und haltet euch doch bitte mit Gegenmaßnahmen zurück!

Interessant auch die zurückhaltende Reaktion aus London. Großbritannien gehört ja seit langem zum engsten (Waffen-)Gefährten der Vereinigten Staaten (siehe z.B. die gemeinsamen Militärmissionen gegen Irak). Der britische Außenminister Cook erklärte nun in London, wichtig sei das klare Bekenntnis Bushs zur Zusammenarbeit mit den Verbündeten und Russland. Er sicherte Bush seinerseits Kooperation zu und sprach von gemeinsamen strategischen Interessen. Das Büro von Premierminister Tony Blair erklärte, es sei etwas daran, dass der ABM-Vertrag von 1972 nicht mehr zeitgemäß sei. Großbritannien teile die Bedenken der USA. Von einer offenen Unterstützung der NMD-Pläne war in London aber nicht die Rede.

Zwei Zuckerl - NMD bleibt aber ein dicker Brocken

Die US-Politik ist nicht unbedingt auf die Zustimmung der Weltöffentlichkeit und nicht einmal immer auf die Unterstützung der NATO-Verbündeten angewiesen. Im Fall von NMD ist ein gewisses Entgegenkommen aber schon von Nöten. Denn seit langem gab es kein Rüstungsthema, das so viel Kritik und Unmut in den Hauptstädten der NATO und der EU (von Moskau, Peking, Neu Delhi usw. ganz zu schweigen) hervorgerufen hat wie die US-Raketenabwehr. Da macht es sich nun gut, wenn Bush auch etwas anzubieten hat. Das eine Angebot ist mehr symbolischer Natur: Er will mit den Verbündeten und mit Russland und China sprechen. Nicht über das Ob, sondern über das Wie, versteht sich. Doch wie die Reaktionen auf Bushs Rede zeigen, sind die meisten Regierungsvertreter des Westens damit schon sehr zufrieden. Das zweite Zuckerl von Bush ist die in Aussicht gestellt Reduzierung seines strategischen Atomwaffenarsenals. Experten sprechen davon, dass die USA einseitig auf 1.000 bis 1.500 Sprengköpfe abrüsten könnten. Derzeit umfasst das US-Arsenal rund 7.200 Atomsprengköpfe. Im START-II-Vertrag wurde eine Reduzierung auf 3.500 Sprengköpfe vereinbart. Eindarüber hinaus gehende Abrüstung der Atomwaffen soll nun aber nicht nur die Verbündeten milde stimmen, sondern vor allem soll es damit Russland schmackhaft gemacht werden, den ABM-Vertrag durch neue Vereinbarungen zu ersetzen. In der neuen US-Verteidigungsstrategie, die auf Offensive und Defensive setzt, stört das Abkommen von 1972 nur. Ohne den ABM-Vertrag aber droht tatsächlich eine neue Rüstungsrunde, weil auch Russland, China und andere Staaten ihre "Abschreckungs"-Potentiale den neuen Gegebenheiten anpassen werden. Dazu werden sie ökonomisch zwar nicht in der Lage sein, sie werden es aber versuchen (müssen) - auf Kosten der Entwicklung der sozialen Wohlfahrt der Bevölkerung. Der alte Spruch der Friedensbewegung wird aufs Neue bestätigt: "Rüstung tötet schon im Frieden."
Pst

Quellen: Diverse Zeitungen vom 2. und 3. Mai 2001. Dank auch an die Zusammenstellung von Medienberichten durch Roland Blach (GAAA)

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