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Erinnert euch eures Menschseins

50 Jahre Pugwash - Wissenschaftler warnen vor dem Missbrauch ihrer Forschungsergebnisse

Von Wolfgang Kötter *

Es ist ein halbes Jahrhundert her, dass sich 22 Wissenschaftler aus zehn Ländern in der Residenz des amerikanischen Industriellen Cyrus Eatons in einem 800-Seelen-Fischerdorf an der kanadischen Atlantikküste trafen, um ihre Sorgen über die Zukunft der Welt auszutauschen. Der Ortsname Pugwash ging alsbald in die Geschichtsbücher ein und steht bis heute für das Engagement der Forscher gegen Aufrüstung, Krieg und Gewaltkonflikte. Vom 7. bis 11. Juli 1957 tagte hier die erste Pugwash Conference on Science and World Affairs. Seither treffen sich renommierte und einflussreiche Wissenschaftler regelmäßig und beraten, was gegen die atomare Bedrohung zu unternehmen ist, wie bewaffnete Kämpfe friedlich beendet und die globale Sicherheit stabilisiert werden können. Die Diagnose einer radioaktiven Verseuchung der Umwelt hatte entscheidenden Anteil daran, dass es 1963 gelang, Nuklearwaffentests zumindest in der Atmosphäre zu verbieten, und auch den Atomwaffensperrvertrag unterstützten die Naturwissenschaftler mit ihren Erkenntnissen über die verheerenden Folgen eines möglichen Kernwaffeneinsatzes.

Die Verantwortung der Wissenschaftler für die Folgen ihrer Forschungsarbeit war zwei Jahre zuvor von den Nobelpreisträgern Bertrand Russell und Albert Einstein in ihrem berühmten Manifest angemahnt worden. Bereits zu Beginn des Nuklearzeitalters sahen sie die Gefahr heraufziehen, dass die Menschheit sich durch einen Atomkrieg selbst vernichtet: "Wir müssen lernen, auf neue Art zu denken. Wir sollten nicht mehr danach fragen, welche Mittel und Wege dem militärischen Siege der von uns bevorzugten Partei offen stehen. Solche Möglichkeiten gibt es nämlich gar nicht mehr. Vielmehr stehen wir vor der Frage, auf welche Weise eine militärische Auseinandersetzung, deren Folgen für alle Beteiligten unheilvoll sind, verhindert werden kann ... Erinnert Euch Eures Menschseins und vergesst alles andere! Wenn Ihr das vermögt, dann öffnet sich der Weg zu einem neuen Paradies. Könnt Ihr es nicht, dann droht Euch allen der Tod."

Die deutsche Pugwash-Gruppe konstituierte sich mit der Gründung der "Vereinigung Deutscher Wissenschaftler" (VDW) im Jahre 1959. Sie knüpfte an die "Göttinger Erklärung" gegen den deutschen Atomwaffenbesitz von 1957 an (vgl. Freitag 15/2007), in der 18 Nuklearwissenschaftler gegen die Pläne zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr protestierten. Sie kritisierten nachdrücklich die von der Bundesregierung betriebene Verharmlosung der Folgen eines derartigen Waffeneinsatzes.

Aus heutiger Sicht wird das Verdienst der "Göttinger 18" für die Abwendung von Atomwaffen besonders deutlich. Dokumente und Zeitzeugen bestätigen, dass die BRD in den fünfziger und sechziger Jahren sogar noch hartnäckiger als damals befürchtet nach den verheerendsten Massenvernichtungswaffen der Menschheitsgeschichte strebte und mit allen Mitteln die Herausbildung einer internationalen Norm der nuklearen Nichtverbreitung sabotierte.

Verständlicherweise antworteten die Regierenden also äußerst gereizt auf das Engagement der Professoren. Einer der emsigsten Befürworter des deutschen Kernwaffenbesitzes, der Atom- und spätere Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, befand, die Deutschen könnten den Russen nicht "mit Pfeil und Bogen" gegenüberstehen und beschimpfte die Göttinger Autoren unflätig. Wider besseres Wissen spielte Bundeskanzler Konrad Adenauer die taktischen Atomwaffen herunter. Sie seien "nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie", und er forderte, nukleare Waffen in der Bundesrepublik herzustellen.

Diese Bestrebungen kamen Frankreich gerade zupass, das fürchtete, durch die militärische Arbeitsteilung in der NATO von den USA nuklear abgekoppelt zu werden, und auch Italien wollte als Kriegsverlierer wieder zu den Großen aufsteigen. Deshalb beschlossen die drei atomaren Möchtegerne im Frühjahr 1958 in einem Geheimabkommen, gemeinsam nach der Bombe zu streben. Erst der französische Präsident Charles de Gaulle ließ die trilateralen Ambitionen zugunsten eines Pariser Alleingangs platzen. Misstrauisch verfolgten die nachfolgenden Bundesregierungen das von den Großmächten USA und Sowjetunion betriebene Projekt eines Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Strauß verunglimpfte das Abkommen in Anspielung auf die für Deutschland nachteiligen Regelungen nach dem Ersten Weltkrieg als "ein neues Versailles, und zwar eines von kosmischen Ausmaßen", und Adenauer schmähte es als "Tragödie für uns Deutsche".

Doch der Vertrag war nicht zu verhindern. Darum bemühten sich die bundesdeutschen Diplomaten während der mehr als zehnjährigen Verhandlungen zumindest darum, die nukleare Statusdifferenz zu den Atommächten so gering wie möglich zu halten und den entstehenden Vertrag für die eigenen Ansprüche zurechtzubiegen. Erst mit sechzehn Monaten Verspätung unterzeichnete die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel das Abkommen. Weitere vier Jahre vergingen, bevor der Bundestag den Vertrag am 24. Februar 1974 ratifizierte, und die 90 Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion zeugen von der seinerzeit massiven Front gegen den Atomwaffenverzicht.

Gleich mehrere Sonderregelungen waren der Preis für den Beitritt: Die nukleare Teilhabe in der NATO, in deren Rahmen die Bundesregierung in der Nuklearen Planungsgruppe mitarbeitet und deutsche Flugzeuge wie auch Soldaten für den Atomwaffeneinsatz bereitstellt, blieb bestehen. Auch die nukleare Forschung und Entwicklung einschließlich der Dual-Use-Kernwaffen-Technologie wurde als vorgeblich vertragskonform fortgesetzt. Schließlich akzeptierte Bonn den Vertrag nur mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass eine Europäische Union "mit entsprechenden Kompetenzen" nicht behindert werden dürfe. Dieses Bestehen auf der "europäischen Option" wurde weithin als Umschreibung dafür interpretiert, dass die Bundesrepublik an einer möglichen "Europäischen Atomstreitmacht" teilzunehmen beabsichtigte.

Zwar bekennt sich die Bundesrepublik heute zur Nuklearen Nichtverbreitung, trotzdem sind die Mahnungen hochaktuell. Erst Anfang des Jahres konstatierten 18 Nobelpreisträger und Wissenschaftler des Bulletin of the Atomic Scientists, dass wir "am Abgrund eines zweiten Atomzeitalters" stehen. Die Welt sei durch das atomare Wettrüsten und den Klimawandel auf der "Weltuntergangsuhr" bis fünf Minuten vor zwölf an die Selbstvernichtung herangerückt. Wieder einmal warnen die "Whistleblowers".



1954 Verzicht der BRD auf ABC-Waffen

9.7.1955 Albert Einstein und Bertrand Russel veröffentlichen ihr nach ihnen genanntes Manifest

1956 Geheimes Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich und Italien zum Bau von Nuklearwaffen

12.4.1957 Göttinger Erklärung der "Göttinger 18" (u.a. Carl Friedrich von Weizsäcker)

7. bis 11.7.1957 Erste Pugwash-Konferenz

1958 De Gaulle beendet das geplante europäische Atomprogramm

1959 Gründung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) in Zusammenhang mit der deutschen Pugwash-Gruppe

1.7.1968 Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages



* Aus: Freitag 27-28, 6. Juli 2007


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