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Wer zählt?

Grenzen, Medien, Gaza: Judith Butler sprach an der FU Berlin über "Rahmen des Krieges"

Von Elsa Koester *

Dahlem ist ein Synonym für Dauerschlaf. Normalerweise, doch am Dienstag abend war im betont ruhigen Berliner Villenviertel viel los. Es herrschten fast backstreetboysähnliche Zustände, Menschenmassen strömten auf den Campus der FU. Sie wollten zu einem Vortrag von Judith Butler. Um den Andrang zu bewältigen, wurden fünf Hörsäle benötigt: In einem las Butler, in den anderen wurde live übertragen. So ein Trubel ist nichts Ungewöhnliches, denn seit dem Erscheinen ihres ersten Buchs »Das Unbehagen der Geschlechter« (1991) hat die US-amerikanische Gendertheoretikerin den eigenartigen Status eines Popstars der Postmoderne-Szene inne.

Tumultartige Szenen auch zu Beginn der Veranstaltung, als Ursula Lehmkuhl, Vizepräsidentin der FU, Butler begrüßte – und zwar »an der im internationalen Wettbewerb führenden Exzellenzuniversität«. Die ersten buhten, die Vizepräsidentin kam aus dem Takt. Die Anwesenheit Butlers und die große Resonanz auf die Veranstaltung sei sicherlich als Anerkennung der universitären Leistungen zu verstehen, stotterte sie. »Lächerlich!« riefen einige im Publikum.

Als Joachim Küpper, Vertreter des gastgebenden »Dahlem Humanities Center«, anschließend die Bühne betrat, erging es ihm nicht besser. »Sehr geehrte Exzellenzen!«. Der Saal wurde von Gelächter erschüttert. Küppers Versuche, in die Theorie Judith Butlers einzuführen, zeugten von absoluter Unkenntnis ihrer Werke. Als er schließlich resümierte, ihre Arbeit sei »wohl das Beste, was ihr Heimatland, die USA, uns gegeben hat«, schlug die peinliche Berührtheit des Publikums in laute Empörung um: »Oh nein! Bitte Aufhören!«. Küppers redete schneller und schneller, um dann mit hochrotem Kopf zu enden.

Spürbar trat Erleichterung ein, als Judith Butler die Bühne betrat. Unter dem Titel »Frames of War« (Rahmen des Krieges) führte sie die konzentrierten Zuhörerinnen (die wenigen anwesenden Männer seien hier einmal unterschlagen) in die Theorien ihrer aktuellen Arbeiten ein. Diese befassen sich nach wie vor mit dem Identitätsbegriff, führen inzwischen jedoch über die Geschlechtertheorie hinaus. Seit September 2001 versucht sich Butler in einer neuen Ethik und bezieht dabei immer wieder auch politisch Stellung.

»Welche Möglichkeiten haben wir, gefährdetes Leben zu schützen?« fragte sie zu Beginn ihres Vortrags. Gefährdet sein, verwundbar sein, das sind ihrer Meinung nach unveränderbare Eigenschaften von Leben, ebenso wie der Wunsch, dieses Leben zu schützen. Weit ausholend schlägt Butler in ihren Überlegungen zur gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen eine Brücke von Hegel über Melanie Klein bis hin zu den Folterungen in Guantánamo und insbesondere auch zum Krieg in Ghaza.

Von Geburt an sei der Mensch in ein soziales Netzwerk hineingeboren, so Butler, abhängig von etlichen anderen Menschen, die er sich nicht aussuchen könne. Im Prinzip sei es die Unfähigkeit der Menschen, diese Abhängigkeit auszuhalten, die zu Kriegen führe. In Israel seien mehr als anderswo zwei Bevölkerungen (populations) auf engstem Raum mit ihrer Abhängigkeit voneinander konfrontiert. Die jüngsten Strategien des israelischen Militärs jedoch stellen für Butler den Versuch dar, diese gegenseitige Abhängigkeit zu beseitigen, indem die »anderen« zerstört werden sollen. Butler, selbst Jüdin, hatte in der jüngsten Vergangenheit oft Stellung zu Krieg und Blockade in Gaza bezogen. »Wir dürfen keinen Staat dulden, in dem Nichtjuden nur eingeschränkt Staatsbürger sind, ebensowenig wie einen Staat, in dem Juden eingeschränkte Rechte haben«, hatte sie sich anläßlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels geäußert. Die Aufgabe linker Politik bestehe heute vor allem darin, daß »wir endlich lernen, mit denen zu leben, die uns fremd sind, die wir uns nie ausgesucht haben«.

Ein zentrales Thema von Butlers Vortrag waren außerdem die Grenzen menschlicher Wahrnehmung. Medien spielen darin eine wichtige Rolle. Butler führte hier den Begriff des »Rahmens« (frame) von Identität ein: Menschliche Bedürfnisse oder menschliche Not bedürfen immer eines gewissen Rahmens, um wahrgenommen zu werden. Im Krieg sei es die Aufgabe der Medien, diesen Rahmen bereitzustellen – als Möglichkeit, ferne Lebensrealitäten an unsere Realität heranzutragen. Das ist aber schwierig: Die Opfer des Gaza-Krieges, 1400 tote Palästinenser und 15 tote Israelis, kommen »bei uns« nur als Zahlen an. Nicht angekommen sei jedoch, daß diese verlorenen Leben wirklich »zählen«.

Eine solche Rezeption ist nach Butler aber auch nicht verwunderlich. Durch die Begrenzung unserer Wahrnehmung erscheinen uns bestimmte Leben weniger »lebbar« als andere. Leben in Hunger oder Kriegen nehmen wir ohnehin als so gefährdet wahr, daß sie uns von Anfang an als nicht lebbar erscheinen. Im Prinzip erscheinen sie als von Anfang an gestorben. Für Butler ist die zentrale Frage die der »Betrauerbarkeit«: Tote westliche Zivilisten werden laut beweint, während diejenigen, die durch die westlichen Armeen sterben, ihr Leben eigentlich ohnehin schon verloren hatten. Manche Leben sind uns mehr wert als andere. »Wir brauchen eine gleichberechtigte Sicht auf die Gefährdung von Leben«, forderte Butler eindringlich.

Begeisterung gab es nur von denen, die nix kapiert hatten: Die konservativen Professoren in den ersten Reihen standen auf und klatschten begeistert Beifall. Davon etwas peinlich berührt blieb das Restpublikum sitzen, um zu klatschen. »Wir danken Judith Butler für den Versuch, Sprachphilosophie und Moralphilosophie zu verbinden« – mit diesen Worten beendete Küpper den Abend. Es kehrte wieder Normalität ein in Dahlem.

* Aus: junge Welt, 7. Februar 2009


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