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"Dieser Krieg ist illegal"

Francis Boyle, Professor für Völkerrecht an der University of Illinois, erhebt schwere Vorwürfe gegen US-Regierung

Am 31. Oktober 2001 veröffentlichte die Online-Ausgabe des SPIEGEL ein Interview mit dem renommierten US-Völkerrechtler Francis Boyle. Boyle verteidigte u.a. den Staat Bosnien-Herzegowina vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Außerdem berät er häufig die Menschenrechtsorganisation amnesty international. Wir fassen im Folgenden die wesentlichen Gedankengänge Boyles zusammen. Das SPIEGEL-Interview führte Christoph Schult.

Francis Boyle stellt gleich zu Beginn des Interviews klar, dass das bestehende Völkerrecht durchaus in der Lage sei, die Terroranschläge von New York und Washington zu beurteilen. Mit den terrorangriffen sei "eindeutig die Montreal-Konvention von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt verletzt" worden, die neben den USA und Afghanistan von über 150 weiteren Staaten unterzeichnet worden sei. "Dieses Abkommen bietet einen exzellenten juristischen Rahmen, um auf diese Anschläge zu reagieren." Obwohl die Anschläge vom 11. September besonders "schrecklich" waren in der Zahl der Opfer, käme das Völkerrecht mit ihnen durchaus "zurecht". Grundsätzlich existiere das Problem nämlich schon seit den 60er Jahren. Voraussetzung sei allerdings, dass man die Anschläge "als terroristische Aktionen" einstufe. "Wenn wir sie dagegen als Kriegsakt bezeichnen, geben wir Kriminellen eine Würde, die ihnen normalerweise nicht zuteil würde." Auch auf eine nochmalige Nachfrage des Interviewers betont Boyle: "Das waren eindeutig terroristische Akte, wie sie im amerikanischen Gesetz definiert sind."

Terroristische Akte"

Boyle definiert "terroristische Akte" folgendermaßen: "Dabei handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, die Gewalt gegen zivile Objekte oder gegen Zivilisten ausüben mit der Absicht, die Bevölkerung oder die Regierung in Angst zu versetzen."
Auf den Einwand, im Völkerrecht gäbe es eine solche Definition nicht, antwortete Boyle:
"Es gibt keine von allen Seiten akzeptierte Definition. Aber die internationale Gemeinschaft hat sich darauf verständigt, dass terroristische Anschläge illegal sind und als kriminelle Handlungen eingestuft werden sollen. Neben der Montreal-Konvention gibt es zum Beispiel das 'Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus' von 1999 und die 'Konvention gegen Geiselnahme' aus dem Jahr 1979." Auf die Frage, "Warum hat Bush die Anschläge dann als kriegerischen Akt gewertet?", antwortete Boyle: "Auf der ersten Pressekonferenz nannte er sie noch terroristische Akte. Dadurch unterlägen sie der Durchsetzung nationalen und internationalen Rechts. So wurde auch der Anschlag in Oklahoma behandelt, den Timothy McVeigh 1995 verübte. Genauso eingestuft wurden auch die Anschläge auf die beiden US- Botschaften in Kenia und Tansania. Aber nach Beratung mit Außenminister Powell entschied Bush, die Anschläge einen 'Act of War' zu nennen und mit militärischen Mitteln zu reagieren."

"Leider" habe dieser Interpretation auch der amerikanische Kongress zugestimmt. "Nachdem Bush seine Rhetorik eskaliert und die Anschläge mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahre 1941 gleichgesetzt hatte, schloss sich der Kongress dem Präsidenten an und autorisierte ihn, militärische Mittel einzusetzen. Diese Resolution war sogar schlimmer als die Tonkin Gulf Resolution, die Präsident Johnson 1964 erwirkte, um den Krieg in Vietnam zu führen."

Keine Unterstützung des Sicherheitsrats für den Krieg

Interessant fällt die Antwort Boyles auf den Einwand des Interviewes aus, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen habe "Bush freie Hand gegeben".
Boyle sagte entschieden: "Das stimmt nicht. Die erste Resolution des Sicherheitsrats vom 12. September sprach von einem terroristischen Anschlag. Es war nie die Rede von einem bewaffneten Angriff. Erst dadurch wäre Artikel 51 der Uno-Charta zum Tragen gekommen...
SPIEGEL ONLINE: ...der jedem Staat das Recht auf Selbstverteidigung einräumt.
Boyle: Bush versuchte die Zustimmung für militärische Gewalt zu bekommen und scheiterte. Er wollte vom Sicherheitsrat eine ähnliche Resolution bekommen wie sein Vater im Golfkrieg. Bush senior wurde damals ermächtigt, zur Vertreibung des Iraks aus Kuweit "alle notwendigen Mittel" zu benutzen. Am 28. September scheiterte Bush erneut. Am 7. Oktober schickte dann der amerikanische Botschafter bei der Uno, John Negroponte, einen Brief an den Sicherheitsrat, der mitteilte, dass die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Aber dies ist ganz eindeutig kein Fall von Selbstverteidigung. Nach den Regeln des Völkerrechts ist dieser Krieg illegal.
Denn, so Boyle weiter, es gäbe "keinen Beweis dafür, das die Regierung in Afghanistan die Anschläge in New York autorisierte oder billigte. Die Angriffe auf Afghanistan sind bestenfalls Vergeltung." Auch gibt es seiner Ansicht nach keinen Beleg dafür, dass Bin Laden die Anschläge in Auftrag geben hat. Boyle: "Außenminister Powell versprach ein so genanntes 'White Paper', in dem er die Beweise darlegen würde. Bush untersagte ihm das. Aber in einem Interview mit der 'New York Times' sagte Powell, dass es gegen Bin Laden nicht einmal Indizien gebe. Das ist ein Rechtsfall, der nicht einmal vor einem normalen Strafgericht standhalten würde." Auch die "Beweise", die der Sondergesandte Taylor in der Sitzung des NATO-Rats vorgelegt hat, waren nicht ausreichend. "Beweise waren auch nicht wichtig, weil sich Bush ohnehin schon für den Krieg entschieden hatte", vermutet Boyle.

Und der NATO-"Bündnisfall"?

Boyle fand auch eine Erklärung dafür, warum die NATO den "Beweisen" Taylors Glauben schenkte und den "Bündnisfall" beschloss:
"Die Nato tut stets, was die USA von ihr verlangen. Die Allianz wurde gegründet, um Europa gegen einen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen. Mit dem Kollaps des Warschauer Paktes war die Existenzgrundlage der Nato verschwunden. Bush senior brachte den Nato-Rat dazu, zwei neuen Legitimationsgründen für die Nato zuzustimmen. Sie sollte einerseits als eine Art Polizei in Osteuropa dienen. Andererseits sollte sie als Interventions-Truppe im Nahen Osten fungieren, um Ölreserven zu schützen."

Und auch wenn, wie der SPIEGEL-Redakteur einwandte, die NATO-Staten beim Washingtoner Gipfel 1999 auch den Kampf gegen den Terrorismus in ihre Ziele mit einschlossen, sei dies noch keine völkerrechtliche Basis. Boyle: "Der Nato-Vertrag wurde niemals um dieses Ziel erweitert. Der Vertrag wurde ursprünglich auf Basis von Artikel 51 der Uno-Charta geschlossen. Also kann der Bündnisfall nur eintreten im Falle eines bewaffneten Angriffs eines Staates auf ein Nato-Mitglied. Deshalb hatte die Nato auch kein Recht, Jugoslawien zu bombardieren, weil Serbien die Nato vorher nicht angegriffen hatte."

Alternativen

(Die USA) "hätten auf der Basis der Montreal Sabotage Convention Verhandlungen eröffnen sollen. Das passierte zum Beispiel mit Libyen im Lockerbie-Fall. Vor dem 11. September hat die US-Regierung ja auch mit den Taliban über eine Auslieferung Bin Ladens verhandelt wegen der Anschläge auf die US-Botschaften in Afrika und wegen der inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter. Die Taliban waren damals bereit, Bin Laden an ein islamisches Land auszuliefern und auf Basis der islamischen Scharia anzuklagen. Nach dem 11. September machten sie weitere Konzessionen: Bin Laden könnte an ein neutrales Land ausgeliefert werden. Sie bestanden nicht mehr länger auf einem islamischen Gerichtsverfahren, forderten aber Beweise. Die Taliban haben sich an die Anforderungen des internationalen Rechts gehalten, Bush leider nicht."

Die wahren Gründe

Am Ende des Gesprächs kommt Francis Boyle auf die seiner Meinung nach wahren Hintergründe oder Motive für das Verhalten der US-Regierung zu sprechen:
Boyle: "Ich glaube, dass sich die US-Regierung bereits vor dem 11. September für einen Krieg gegen Afghanistan entschieden hatte." Als Gründe hierfür führte er an:
"Die Öl- und Erdgasreserven in Zentralasien sind die zweitgrößten nach denen im Persischen Golf. Nach dem Kollaps der Sowjetunion nahm die US-Regierung sofort diplomatische Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten auf. Politiker wie der ehemalige Verteidigungsminister Caspar Weinberger sagten, dass die Ölfelder Zentralasiens zum vitalen Interesse der Vereinigten Staaten gehören" ...

SPIEGEL ONLINE: ...und die amerikanische Ölgesellschaft Unocal verhandelte mit den Taliban über eine Pipeline aus Zentralasien durch Afghanistan nach Pakistan...

Boyle: "Die US-Regierung wollte nicht, dass irgendeine Pipeline durch Russland oder Iran laufen würde. Die billigste und einfachste Route läuft durch Afghanistan. Außerdem gibt es dort selbst auch Ölreserven. Öl und Gas sind die wahren Interessen der US-Regierung, nicht Bin Laden."

Zusammenstellung: Pst
Das ganze Interview bei SPIEGEL-ONLINE vom 31. Oktober 2001




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