Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nothilfe JA - Krieg NEIN

Die Grenzen des Völkerrechts in einer entgrenzten Welt

Von Peter Strutynski

Als wirksamstes Totschlagargument im 78-Tage-Krieg gegen Jugoslawien im vergangenen Frühjahr hat sich die Aufforderung erwiesen, niemand dürfe wegsehen, wenn im Kosovo ein ganzes Volk ausgerottet würde. Mit diesem Slogan begründeten Politiker/innen der rot-grünen Regierungskoalition ihr Eintreten für den NATO-Krieg als vorgeblich letztes Mittel um den Mordbanden von Milosevic Einhalt zu gebieten. Dass ein solches militärisches Eingreifen - der Begriff "Krieg" wurde tunlichst vermieden - nicht mit dem Buchstaben des kodifizierten Völkerrechts vereinbar war, wurde durchaus konzidiert, allerdings mit dem Hinweis auf die "Nothilfe"-Situation zu rechtfertigen versucht. Insbesondere unter Jugendlichen fiel diese Argumentation auf fruchtbaren Boden. Das hat m.E. zwei Gründe.
  • Einmal spielen rechtliche, noch dazu völkerrechtliche Gesichtspunkte im Denken und Handeln junger Menschen grundsätzlich keine nennenswerte Rolle. Die mit den bürgerlichen Nationalstaaten entstandenen und nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein gültig gewordenen Verkehrsformen der internationalen Politik sind vom Erfahrungshorizont Jugendlicher himmelweit entfernt. Gern ist man bereit Rechtsfragen außen vor zu lassen, wenn es um existenzielle Fragen von Leben und Tod geht. Die Alt-Achtundsechziger werden sich daran erinnern, mit wie viel rhetorischem Geschick sie seinerzeit auf der Differenz zwischen Legalität und Legitimität bestanden und damit im Grunde genommen alle Rechtsfragen zu politischen Fragen erklärten, die so oder so zu entscheiden wären.
  • Zum anderen fehlt den Jugendlichen von heute jene politische Sozialisation, welche die Elterngeneration durch die Friedensbewegung der 80er und frühen 90er Jahre erfahren hat bzw. selbst konstituiert hat. Vieles spricht dafür, dass die Bewegung der 80er Jahre, die trotz ihres politischen Ein-Punkt-Charakters (keine Stationierung neuer Atomraketen) ein wesentlich breiteres Spektrum an Themen und Überzeugungen besetzte, das außen- und sicherheitspolitische Denken der Menschen nachhaltig beeinflusst hat. Die Friedensbewegung hatte nicht nur eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Raketen mobilisieren können, sie hat gleichzeitig das Prinzip des Friedens und der Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen gesellschaftsfähig gemacht. Diese Hegemonie des Friedensgedankens in der deutschen Öffentlichkeit wurde schlagartig sichtbar während des 2. Golfkriegs, als eine überwältigende Mehrheit der Menschen einen von den Vereinten Nationen autorisierten Krieg gegen den Irak ablehnte, obwohl der Irak zweifelsfrei als Rechtsbrecher und Aggressor (Überfall auf Kuwait) identifiziert war. Diese friedenspolitische Sensibilisierung betraf übrigens nicht nur die Bevölkerung der alten BRD. Auch in den neuen Bundesländern, deren Bewohner den Aufschwung der (west-)deutschen Friedensbewegung zu Zeiten der DDR vermutlich mit großer Sympthie begleitet haben, war das Feld für Frieden und Abrüstung lange bestellt gewesen: Von der "friedlichen Koexistenz" der beiden Weltsysteme über die konkrete Gestaltung gutnachbarlicher Beziehungen in den deutsch-deutschen Verhältnissen bis zu den einseitigen Abrüstungsmaßnahmen des Ostens in der Gorbatschow-Ära wurde die DDR-Öffentlichkeit auf unbedingte Gewaltlosigkeit in der internationalen Politik eingeschworen. Dass gerade von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe, war nicht nur offizielle Staatsdoktrin, sondern entsprach auch dem tatsächlichen Denken einer großen Mehrheit der DDR-Bevölkerung.

Mit Fischers "Auschwitz"-Parole und Scharpings "moralischer" Überhöhung des Krieges gegen Jugoslawien wurde die außen- und sicherheitspolitische Vorstellungswelt der deutschen Gesellschaft im Innersten getroffen. Da ernennt die Bundesregierung kurzerhand Moral und Gefühl zu den ausschlaggebenden Bestimmungsgründen des Regierungshandelns und stellt beides über Völkerrecht und Grundgesetz! Die Diskussion darüber hält bis heute an. Von ihrem Ausgang hängt sehr viel ab: Letztendlich wird darüber entschieden, ob sich die deutsche Außenpolitik dem US-amerikanischen Credo annähert, das Bill Clinton vor wenigen Jahren in die Formel gegossen hat: "Wenn unsere nationalen Sicherheitsinteressen bedroht sind, werden wir handeln - gemeinsam mit anderen, wenn wir können, aber allein, wenn wir müssen. Wir werden auf Diplomatie setzen, wenn wir können, aber auf Gewalt, wenn wir müssen", (zit. n. Mutz 1999, S. 84), oder ob zu einer insgesamt relativ zurückhaltenden Außenpolitik zurückgefunden wird, welche die Bonner Republik 40 Jahre lang bestimmte. Es geht um nicht weniger als um die Frage: Faustrecht, Chaos und globale nationale Interessenpolitik oder Völkerrecht, Weltordnung gleichberechtigter Staaten und friedlicher Interessensausgleich zwischen den Nationen.

Aus diesem Grund möchte ich im Folgenden drei Fragen diskutieren, die der NATO-Krieg gegen Jugoslawien aufgeworfen hat und von deren Beantwortung möglicherweise das Schicksal der Menschheit im 21. Jahrhundert abhängt:
  1. War das militärische Eingreifen der NATO in den Kosovo-Konflikt notwendig um die Situation der Menschen in der Region zu verbessern?
  2. Ist es überhaupt möglich oder denkbar mit militärischen Mitteln, d.h. letztlich mit Krieg Menschenrechte bzw. deren Einhaltung zu erzwingen?
  3. Existiert, wie vielfach behauptet wird, ein Widerspruch zwischen dem geltenden Völkerrecht und dem Universalitätsanspruch grundlegender Menschenrechte?
Bei der Beantwortung der Fragen werde ich mich sowohl auf die realen Ereignisse und Ergebnisse des NATO-Kriegs stützen als auch auf die innere Logik und Systematik des Völkerrechts (soweit dies für einen Nicht-Fachmann möglich ist).

1 NATO-Krieg für Kosovo-Bewohner?

Schon zu Beginn des Krieges am 24. März 1999 war die Diskrepanz zwischen der NATO-Rhetorik und den realen Verhältnissen im Kosovo offensichtlich. Die regierungsamtliche Begründung für die NATO-Luftschläge lautete: Es muss eine drohende oder schon beginnende "humanitäre Katastrophe" verhindert werden. Und eine Woche nach Beginn des Krieges triumphierte Verteidigungsminister Scharping mit der Feststellung: Jetzt handelt es sich um Völkermord! (Gemeint waren nicht die pausenlosen Luftangriffe der NATO, sondern das serbische Vorgehen gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo.) Es verging eine weitere Woche, bis sich Scharping Gewissheit für die Rechtmäßigkeit seines Tuns verschaffte: Am 7. April notierte er in seinem Tagebuch triumphierend: "Endlich haben wir einen Beweis dafür, dass schon im Dezember 1998 eine systematische Säuberung und die Vertreibung der Kosovo-Albaner geplant waren." (Scharping 1999, S. 103) Der "Beweis" bestand aus einem geheimdienstlichen Papier, das Außenminister Fischer zwei Tage zuvor dem Verteidigungsminister zur Auswertung überlassen hatte, dem sogenannten "Hufeisenplan".

Dieser Plan, in dem angeblich die "systematische Vertreibungspolitik" der Serben detailliert und unter Angabe eines militärischen Operationsplans aufgelistet war, drückte auch der emotional aufgeheizten Debatte im Bundestag am 15. April seinen Stempel auf. Der Bundeskanzler und die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien außer der PDS kriegten sich gar nicht mehr ein vor Angriffen auf den Verbrecher und Völkermörder Milosevic, dessen Untaten in eine direkte Linie zu den Nazi-Verbrechen an den Juden gebracht wurde. Der "Hufeisenplan" als serbische Neuauflage von Hitlers "Mein Kampf"! Gregor Gysi (PDS) stand auf verlorenem Posten, als er wenigstens versuchte auf Ungereimtheiten des Hufeisenplans hinzuweisen, z.B. auf folgende "Kleinigkeit": "Darf ich Ihnen sagen, was an diesem Plan merkwürdig ist? Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat die Originalüberschrift diesen Planes vorgelesen. Diese Überschrift war in Kroatisch und nicht in Serbisch verfasst. Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass das serbische Militär in kroatischer Sprache einen solchen Plan verfasst? Da sind doch Zweifel geboten." (zit. nach Lutz) Dieter S. Lutz vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik sieht noch eine Reihe weiterer "Ungereimtheiten" dieses Plans, der bis heute nicht veröffentlicht wurde, obwohl sich Scharping anlässlich einer Pressekonferenz zum 1. Jahrestages des Beginns des NATO-Kriegs zum wiederholten Mal darauf berief. (FR vom 23.03.2000) In einem vor kurzem erschienenen Buch bezweifelt der frühere Bundeswehrgeneral und langjährige Rüstungskontrollexperte bei der OSZE, Heinz Loquai, dass es den Hufeisenplan überhaupt jemals gegeben habe (Loquai 2000).

Von welchen Geheimdiensten auch immer der "Hufeisenplan" letztendlich aufgestöbert oder selbst verfasst wurde: Noch wichtiger war doch die Frage nach den Taten der jugoslawischen Armee vor dem 24. März 1999, wurde doch der NATO-Einsatz mit dem beginnenden Völkermord und den Verbrechen der Serben gegen die Menschlichkeit begründet. Gegen diese "ideologisch-psychologische Rechtfertigung" des Krieges (Woit 2000) ließen sich damals schon zwei handfeste Argumente in Feld führen:

a)
Einmal ging die offizielle Lagebeurteilung des Auswärtigen Amts unmittelbar vor Kriegsbeginn noch davon aus, dass es im Kosovo keine schwerwiegenden Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen gab. Jedenfalls sei die politische Repression der Kosovo-Albaner so gering zu veranschlagen, dass sie nicht für einen Asylgrund in der Bundesrepublik ausreichend sei. Die deutsche Sektion der Internationalen Juristenvereinigung gegen Atomwaffen IALANA brachte diese Lageeinschätzungen ans Licht der Öffentlichkeit; immerhin wurden bis Kriegsbeginn albanische Asylbewerber von deutschen Gerichten unter Verweis auf diese Dokumente abgelehnt und zum Teil wieder abgeschoben. (IALANA-Presseinformation 22.04.99) So urteilte der Hessische Verwaltungsgerichtshof im März 1999, dass Flüchtlinge aus dem Kosovo keinen generelle Anspruch auf Asyl in Deutschland haben. Die Lage im Kosovo habe sich "seit Herbst stabilisiert". Wegen der "mangelnden Verfolgungsdichte", so die Richter, müssten abgeschobene Albaner nicht mit Verfolgung rechnen. Das auf Abwehr von gewaltsamen Abspaltungsbestrebungen der Untergrundarmee UCK gerichtete Vorgehen der serbischen Polizei sei "dem Grunde nach legitim".

b)
Zum anderen muss die Zeit vom Oktober 1998 (Beginn der OSZE-Mission im Kosovo) bis Februar 1999 ("Verhandlungen" in Rambouillet) tatsächlich als relativ gewaltarm bezeichnet werden. Die zwischen dem US-amerikanischen Chefunterhändler Holbrooke und dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic am 13. Oktober 1998 ausgehandelte Vereinbarung hatte im Kern vorgesehen:
  • Waffenstillstand und Rückzug von jugoslawischen Sicherheitskräften sowie von UCK-Kräften;
  • Kontrolle des Waffenstillstands durch 2.000 OSZE-Beobachter.
Diese Übereinkunft entsprach im Übrigen auch dem Tenor der Resolutionen 1160 (März 1998) und 1199 (September 1998) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (VN), die ausdrücklich auch beide Konfliktparteien zur Beendigung der Gewalttaten aufforderten. Alle schon damals verfügbaren Informationen gingen dahin, dass sich Belgrad weitgehend an das Abkommen hielt, also z.B. den Großteil seiner Sicherheitskräfte aus dem Kosovo abzog, während die UCK alles daran setzte, das Abkommen zu Fall zu bringen. Dies bestätigte in dankenswerter Offenheit damals sogar NATO-Generalsekretär Solana, der am 27. Oktober 1998 erklärte: "Erfreulicherweise kann ich nun berichten, dass in den letzten 24 Stunden mehr als 4.000 Angehörige der Sonderpolizei aus dem Kosovo abgezogen worden sind....Die Kosovo-Albaner müssen die Resolutionen der Vereinten Nationen ebenfalls einhalten.... Ich fordere die bewaffneten Gruppen der Kosovo-Albaner auf, den von ihnen erklärten Waffenstillstand aufrechtzuerhalten." (Zit. n. Lutz 2000) Doch die UCK dachte gar nicht daran. Im Gegenteil: Im November/Dezember 1998 mehrten sich die Überfälle der UCK auf serbische Polizeistationen sowie Attentate und Verschleppungen sogenannter "Verräter" an der albanischen Sache u.ä. UCK-Einheiten versuchten jenes Terrain wieder zu besetzen, das von den serbischen Verbänden - in Erfüllung des Holbrooke-Milosevic-Abkommens - verlassen worden war. In einem Fernsehgespräch (ZDF, 21.09.1999) äußerte sich der während des Krieges zweithöchste NATO-General Naumann ebenfalls in eindeutiger Weise: "Die UCK spielte im Grunde eine Rolle, die uns den Erfolg des Herbstes 1998 kaputtgemacht hat. Sie stießen in das Vakuum, das der Abzug der Serben hinterlassen hat, nach und breiteten sich in einer Weise aus, die vermutlich niemand in irgendeinem unserer Staaten akzeptiert hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Deutschland akzeptiert würde, wenn da irgendjemand, der meint sich gegen den Staat auflehnen zu können, Straßensperren errichtet, Grenzposten überfällt, anfängt Uniformen zu tragen, Waffen zu schwenken. Wir würden das auch nicht tolerieren. Den Fehler hat die UCK gemacht, dass sie das Vakuum füllte und dabei auch nicht zimperlich mit den Serben umging. Also ist es verkehrt, die UCK in irgendeiner Weise für qualifiziert zu halten, sie könnte in der Liga der Engel mitspielen." (Zit. nach Lutz 2000). Verständlich, dass die jugoslawische Staatsmacht diesen Provokationen entgegenzutreten versuchte, mit ihren militärischen Gegenaktionen aber überreagierte und jedes normale Maß vermissen ließ. Ob in diese Kategorie auch das "Massaker" von Racak am 15. Januar 1999 gehört, konnte bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden. Zu viele Ungereimtheiten - Lutz spricht von "dirty secrets" - sind mit dem Ereignis verbunden, als dass es als schlüssiger Beweis für die systematische Tötung albanischer Zivilisten gelten könne. Zumindest gibt es ebenso viele Anzeichen dafür, dass es sich um eine Inszenierung handelte. Racak wurde jedenfalls die einzige wirklich schlagkräftige Begründung für die NATO, den Krieg gegen Jugoslawien nun auch konkret in die Wege zu leiten.

Aus a) und b) ergibt sich:
Die eigentliche Katastrophe (Flüchtlingselend, Mord- und Totschlag zwischen Serben und Albanern) setzte erst mit Beginn des Krieges ein bzw. vervielfachte sich unter dem Einfluss der Bombardierungen. Der NATO-Luftkrieg hat also keineswegs eine "humanitäre Katastrophe" verhindert, sondern sie erst möglich gemacht (vgl. hierzu Kalman 1999) Von Völkermord oder, wie Fischer sich auszudrücken beliebte, "Auschwitz" konnte hier schon gar keine Rede sein. Auch eine Bilanzierung der Opferzahlen im Kosovo nach dem 78-tägigen Luftkrieg zeigt, dass es gezielte massenhafte Vernichtungsaktionen der Serben gegenüber albanischen Bevölkerungsteilen nicht gegeben hat. Die Zahlen, die zwischenzeitlich von NATO-Kreisen in Umlauf gesetzt worden waren (da war zunächst von 100.000 ermordeten Albaner, dann von 10.000 die Rede) erwiesen sich eindeutig als falsch. Trotz groß angelegter Suche nach "Massengräbern" im Kosovo - die Suche dauert nun schon neun Monate - gibt es keine brauchbaren Hinweise auf systematische Erschießungen oder auf die von Scharping während des Krieges geradezu lustvoll geschilderten unerhörten Grausamkeiten "entmenschter" serbischer "Horden" an albanischen Frauen, Kindern und sogar Föten. Man wird wohl davon ausgehen können, dass im Kosovo während des NATO-Luftkriegs nicht wesentlich mehr als 2.000 Menschen ums Leben kamen, worunter sich aber keineswegs nur Albaner befunden haben, sondern auch zahlreiche Serben. Zählt man die Kriegstoten im übrigen Jugoslawien hinzu (die sog. "Kollateralschäden"), so starben unter dem NATO-Krieg in zweieinhalb Monaten mehr Menschen, als in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren verschärften Bürgerkriegs zwischen Serben und Albanern.

2 Krieg für Menschenrechte?

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien kann also kaum als Beispiel dafür herangezogen werden, dass mit Krieg ein Beitrag zur Verteidigung von Menschenrechten geleistet werden könne. Das zeigt übrigens auch die Zeit nach dem Ende der Bombardierungen: Die bis zu 50.000 Mann starken KFOR-Truppen waren und sind nicht in der Lage oder nicht willens, Morde an Serben, Roma und anderen Volksgruppen im Kosovo zu verhindern und ethnische Säuberungen zu stoppen. Angesichts dieser Entwicklung sind auch jene rot-grünen Parteigänger, die seinerzeit den NATO-Angriff aus wirklich ehrenwerten Motiven mit gutmeinenden Argumenten befürwortet hatten, merklich still und - hoffentlich - nachdenklich geworden. Dennoch hält sich in diesen Kreisen und damit auch in Teilen der Friedensbewegung und Friedenswissenschaft hartnäckig die These, dass es grundsätzlich Situationen geben könne, in denen bei schweren inneren Konflikten in einem Land erst militärisches Eingreifen von außen Frieden schaffen und damit die Einhaltung von Menschenrechten gewährleisten könne. Die bisherigen Erfahrungen mit UN-mandatierten Militäreinsätzen spricht allerdings dagegen:
  • Der Militäreinsatz in Somalia (1993/95) hat weder eine Beruhigung der Situation im Land noch die erhoffte politische Stabilisierung gebracht. In Somalia herrschen heute dieselben Clans, dieselben Konflikte, dasselbe Chaos und dieselbe soziale Misere wie vor dem Eingriff. Und der Brunnen, den deutsche Soldaten in Belet Huen als humanitäre Geste angelegt hatten, war schon vor ihrem Abzug aus Somalia wieder versiegt. Seit 1995 ist sogar die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung weiter gesunken und weist mit 47 Jahren einen der niedrigsten Stände der Welt auf (1995: 49 Jahre). (Vgl. Globale Trends 1998, S. 447, Globale Trends 2000, S. 471)
  • In Bosnien hat das Eingreifen der US-Luftwaffe 1995 die Vertreibung von rund 200.000 Serben aus der Krajna unterstützt und damit geholfen ein "ethnisch sauberes" Kroatien zu schaffen. Und auch Bosnien selbst ist noch vier Jahre nach dem Dayton-Abkommen von einem wirklichen Frieden himmelweit entfernt. Das Land ist in drei ethnisch klar abgegrenzte Teile gespalten, deren imaginäre Einheit von der dauerpräsenten SFOR eher vorgetäuscht als hergestellt wird.
  • Der Golfkrieg 1991 und die ihm nachfolgenden Sanktionen gegen Irak haben weder zur Stabilisierung des Nahen Ostens beigetragen noch eine "Zivilisierung" des skrupellosen Willkürregimes von Saddam Hussein bewirkt. Die Opfer hingegen, die im Gefolge des Krieges und des UN-Embargos unter der Zivilbevölkerung zu beklagen sind, gehen in die Hunderttausende (allein 500.000 Kinder, die an Mangelernährung und fehlender medizinischer Betreuung starben). Damit übersteigt das durch die "Strafaktionen" der "Staatengemeinschaft" verursachte Leid in der irakischen Bevölkerung die von Irak bei dessen Überfall auf Kuwait verursachten Schäden um ein Vielfaches. Die menschliche Not im Irak ist so groß geworden, dass inzwischen auch der letzte Koordinator des Öl-für-Nahrung-Programms, der deutsche Diplomat Hans von Sponeck, sein Amt aus Protest gegen die Embargopolitik niedergelegt hat (vgl das Interview mit ihm in Der Spiegel Nr. 8/2000).

3 Menschenrechte und Völkerrecht: ein Widerspruch?

Am heißesten diskutiert ist die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht zum Menschenrecht. Dieses Problem treibt gerade auch jene um, die den NATO-Krieg gegen Jugoslawien zweifelsfrei als völkerrechtswidrig beurteilen, zum Schutz der Menschen vor Völkermord, ethnischen Säuberungen und anderen massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber durchaus eine Art Nothilferecht gelten lassen wollen. Dieses Argument ist nicht vorschnell wegzuwischen.
  • Nach der Präambel der Charta der Vereinten Nationen dient die Weltorganisation nicht nur dem Frieden zwischen den Staaten sondern auch dem Schutz der Menschenrechte. Die "Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion" ist den Staaten auch nach Art. 1, Ziffer 3 der Charta als Verpflichtung aufgegeben.
  • Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie die 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten und 1976 in Kraft getretenen politischen und sozialen Grundrechte der Menschen (sog. "Zivilpakt" und "Sozialpakt") sind Bestandteil des insoweit kodifizierten Völkerrechts.
  • Ein Bestandteil des Völkerrechts ist auch die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen vom Dezember 1948. Dort heißt es in Artikel I: "Die vertragschließenden Parteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten." Und in Artikel II wird versucht eine Definition von Völkermord zu geben: "In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören." Und als Mittel hierfür werden genannt:
    "Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
    Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
    vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
    Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
    gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe."

Die Staaten sind also verpflichtet, sich an die Normen des Völkerrechts einschließlich der genannten Konventionen zu halten und die Rechte, die sich daraus für die Menschen ergeben, zu garantieren. Was aber, wenn sich ein Staat nicht daran hält? Gibt das anderen Staaten das Recht sie mit Waffengewalt dazu zu zwingen? Verliert in einer sich globalisierenden Welt das Prinzip der Souveränität von Nationalstaaten seine Bedeutung? Die Antwort lautet eindeutig nein, und zwar aus folgenden Gründen:
  • Hauptziel der Vereinten Nationen ist die Friedenssicherung.
  • Eines der wichtigsten Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen ist die Garantie der Souveränität (Art. 2, Ziffer 7) und "territorialen Unversehrtheit" (Art.2,4) eines Staates. Gerade in einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch die Dominanz transnationaler, globaler wirtschaftlicher Aktivitäten und die Hegemonie einiger weniger Großmächte unter Führung der USA (Amin 1999) ist die staatliche Souveränität häufig der letzte Rettungsanker abhängig gehaltener Länder der "Dritten" und ehemals "Zweiten Welt". Diese aufzugeben, hieße ja nicht einer zivilen "Weltstaatlichkeit" (Lutz-Bachmann 1999) Platz zu machen, sondern sich noch stärker dem Diktat der "Neuen Weltordnung" von US-, Weltbank- und IWF-Gnaden zu beugen.
  • Nach Artikel 2 Ziffer 4 der Charta der Vereinten Nationen gilt zudem ein generelles Gewaltverbot, das jede Art der Anwendung von Waffengewalt ausschließt. Ein Recht zur "humanitären Intervention" steht in keinem Fall Einzelstaaten und Staatenkoalitionen zu, sondern allenfalls den Organen der Vereinten Nationen selbst. Damit widerspricht das neue strategische Konzept der NATO nicht nur direkt der VN-Charta, sondern auch dem eigenen NATO-Vertrag, in dem in Artikel 1 die Vorrangstellung der VN-Charta ausdrücklich anerkannt wird (vgl. Lutz 1999, S. 222).
  • Ein "Nothilferecht" für Staaten gibt es nur für den Fall eines bewaffneten Angriffs von außen (Art. 51). Doch selbst dieses Recht auf - auch "kollektive" - Selbstverteidigung erlischt, wenn der Aggressor abgewehrt ist. Dann gilt wieder das "Gewaltmonopol" des VN-Sicherheitsrats.
  • Zu militärischen Zwangsmaßnahmen kann ausschließlich der VN-Sicherheitsrat einzelne Staaten oder Regionalorganisationen ermächtigen (Art. 42, 48 und 53 VN-Charta).
  • Und auch dies kann der VN-Sicherheitsrat nur, wenn der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit ernsthaft bedroht sind.

Die VN-Charta hat schließlich sogar für den Fall vorgesorgt, dass es zu unterschiedlichen Auslegungen internationaler Rechtsbestimmungen oder zu Widersprüchen zwischen ihnen kommt. In Art. 103 VN-Charta heißt es hierzu: "Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang." Der Völkerrechtler Norman Peach zieht daraus den Schluss: "Tritt also das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einer der Menschenrechtspakete und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang." (Peach in Hösler u.a. 2000, S. 83) Bei genauem Hinsehen kann es auch gar nicht anders sein. Jeder Krieg zerstört Menschenleben (das erste Menschenrecht ist das auf Leben!) und lebensnotwendige Ressourcen. Er kann daher nur als Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff von außen oder allenfalls als eine Art Nothilfe gegen Handlungen, die Völkermord bedeuten, geführt werden.

Als Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten kann Krieg dagegen nicht eingesetzt werden. Hierzu existieren andere, nicht-militärische Mittel und Instrumente, die zum Teil auch von den Vereinten Nationen eingesetzt wurden und deren sich jeder Staat oder jede Staatengruppe bedienen kann. Diplomatie, wirtschaftlicher Druck bzw. wirtschaftliche Hilfe, soziale und kulturelle Kooperation oder Mediation in innerstaatlichen Konflikten durch wirklich neutrale Vermittler sind nur ein paar Stichwörter zu einem umfassenden Katalog ziviler Konfliktbearbeitung. Sie kommen nicht immer ohne Zwang aus, sie haben aber immer das Ziel, Gewalt einzudämmen und die Konfliktparteien durch Zugeständnisse von einer friedlichen Lösung zu überzeugen (sog. Win-Win-Strategien). Die Ziel-Mittel-Relation muss gewahrt bleiben. Das heißt: Wer Menschenrechte wieder herstellen möchte (und nicht nur mit dem Menschenrechtsargument Kriege zu ganz anderen Zwecken führen will), kann dies nur, indem er menschenrechtsadäquate Mittel einsetzt. Nichts anderes verlangt das Völkerrecht.

Literatur:
Samir Amin (1999): Stoppt die USA und die NATO! Für eine demokratische polyzentrische Welt. In: U. Cremer, D.S. Lutz (hrsg.): Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Die Sicht der anderen zum Kosovo-Krieg und ihre alternativen Lehren und Konsequenzen, Hamburg, S. 10-26
Globale Trends 1998. Fakten - Analysen - Prognosen, hrsg. von I. Hauchler, D. Messner, F. Nuscheler, Frankfurt a.M. 1997
Globale Trends 2000. Fakten - Analysen - Prognosen, hrsg. von I. Hauchler, D. Messner, F. Nuscheler, Frankfurt a.M. 1999
J. Hösler, N. Paech, G. Stuby, Der gerechte Krieg?, Bremen
Michael Kalman (1999): Krieg, Flucht und Vertreibung. In: U. Albrecht, P. Schäfer (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg. Fakten - Hintergründe - Alternativen, Köln, S. 125-141
Heinz Loquai (2000): Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden
Dieter S. Lutz (1999): Das Faustrecht der Nato. Politische und rechtliche Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung der westlichen Staaten. In: T. Schmid (Hrsg.), Krieg im Kosovo, S. 218-242
Dieter S. Lutz (2000): Völkermord, Moral und die Unabwendbarkeit von Kriegen am Beispiel Kosovo, Vortragsmanuskript, 18.02.2000
Matthias Lutz-Bachmann (1999): "Weltstaatlichkeit" und Menschenrechte nach dem Ende des überlieferten "Nationalstaats". In: H. Brunkhorst, W.R. Köhler, M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt a.M., S. 199-215
Reinhard Mutz (1999): Über den Rubikon - Die neue NATO schafft Fakten. In: Friedensgutachten 1999, hrsg. von B. Schoch, U. Ratsch und R. Mutz, Münster-Hamburg-London, S. 80-89
Rudolf Scharping (1999): Wir dürfen nicht wegsehen, Berlin
Ernst Woit (2000): NATO gegen Jugoslawien - die ideologisch-psychologische Rechtfertigung des Krieges. In: W. Richter, E. Schmähling, E. Spoo (Hrsg.)(2000): Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Schkeuditz, S. 69-89


Hier geht es zu weiteren aktuellen Hintergrundberichten und interessanten Analysen zum NATO-Krieg:

Beiträge über Kosovo, Jugoslawien und NATO-Krieg

Zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zurück zur Homepage