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"Vorausgesetzt, Sie leben dann noch"

Seit April 2012 wird in Spanien Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis medizinische Hilfe verweigert. Ein Gespräch mit Corina Tulbure *


Corina Tulbure ist Sozialarbeiterin und Beraterin für Einwanderer, andere gefährdete Gruppen und Minderheiten in der Vereinigung Gesundheit und Familie (Asociación Salut i Familia) in Barcelona.

Mit dem Prinzip eines universellen Gesundheitssystems scheint man in Spanien gebrochen zu haben. Die konservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte im vergangenen Jahr Kürzungen verabschiedet, durch die verschiedene Gruppen aus der Versorgung im öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen sind. Welche Menschen betrifft das?

Das königliche Dekret trat im April 2012 in Kraft. Dort wird festgelegt, daß Menschen, die keine Sozialabgaben zahlen, kein Recht auf eine Gesundheitsversorgung haben. Dies betrifft zum Beispiel Menschen, die hier seit Jahren leben und gearbeitet haben, jetzt aber erwerbslos sind – sowie illegal Beschäftigte. Nicht nur Migranten, auch viele Spanier sind nicht mehr gesetzlich krankenversichert. Nach der neuen Verordnung können zum Beispiel erwerbslose Frauen nicht mehr auf der Karte ihres Partners als Begünstigte registriert werden, sofern sie nicht verheiratet sind. All diese Menschen müssen jetzt für ihre Krankenversicherung selbst aufkommen. Das Dekret sieht allerdings drei Ausnahmen vor: Notfallversorgung, Betreuung von Schwangeren und von Kindern.

Was sind die Folgen dieser sozialen Ausgrenzung?

In Valencia starb kürzlich eine Migrantin aus Bolivien an akuter Bronchitis, weil solche Krankheiten in der Notaufnahme nicht behandelt werden. Die NGO »Ärzte der Welt« hat gewarnt, die Verweigerung einer medizinischen Grundversorgung sei nicht nur ein Angriff auf die Menschenrechte von Migranten, sondern auch ein Problem der öffentlichen Gesundheit: Leicht übertragbare Krankheiten wie Tuberkulose geraten so schnell außer Kontrolle.

Woher sollen Erwerbslose, die keine staatliche Unterstützung erhalten, das Geld für die Versicherung nehmen?

Im Großraum Madrid hat die Stadtregierung eine Versicherung geplant, die über 700 Euro im Jahr kostet. Sie liegt damit sogar über dem Beitragssatz privater Krankenversicherungen. Klar ist, daß wegen der massiven Kürzungen im öffentlichen Gesundheitssystem viele Menschen eine private Krankenversicherung abschließen werden, um nicht ohne jede Grundversorgung dazustehen. Die privaten Versicherer wittern ein gutes Geschäft.

Wie wurde das königliche Dekret bisher angewendet?

Vier Regionalregierungen haben sich geweigert, es umzusetzen: Andalusien, das Baskenland, Katalonien und Asturien. Am 1. September 2012 trat in Katalonien eine Verordnung zur Gewährung des Rechts auf medizinische Versorgung in Kraft.

Wie kam es dazu, daß eine konservativ-liberale Regierung wie die katalanische eine Verordnung verabschiedete, die illegalen Einwanderern und Arbeitslosen medizinische Grundversorgung sichert?

Als die CIU (Convergència i Unió) 2010 an die Regierung kam, sprach sie oft von einem »Gesundheitstourismus« und wollte die Ausgaben in diesem Bereich stark beschneiden, mußte aber auf Druck von empörten Bürgern, Verbänden und linken Parteien ihr Vorhaben aufgeben. Allerdings erhalten die Betroffenen jetzt nicht die bisherige Gesundheitskarte, sondern eine »Karte für Bedürftige«, eine Krankenversicherung zweiter Klasse. Im ersten Versicherungsjahr sind nur Besuche bei einem Allgemeinmediziner möglich. Erst ab dem zweiten kann man einen Spezialisten aufsuchen. Um aber in Besitz dieser Karte zu gelangen, muß man enorme bürokratische Hürden überwinden.

Können Sie diesen Prozeß beschreiben?

Man erhält die nötigen Formulare zur Beantragung der Karte erst Monate, nachdem man seinen Wohnsitz beim zuständigen Amt angemeldet hat. Es gibt unzählige Menschen, die durch Zwangsräumungen aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Das heißt, man muß als Betroffener zum Rathaus gehen und den Antrag stellen, ohne festes Dach über dem Kopf bei der Stadt oder Gemeinde als Einwohner registriert zu werden. Man gibt eine Adresse an, damit die Verwaltung einen Brief schicken kann – damit kann man wiederum zum Rathaus gehen und sich anmelden. Es dauert meist mehrere Monate, bis die Bestätigung der Verwaltung zugesandt wird. Danach dauert es drei Monate, bis man die Karte für Bedürftige beantragen kann. Erst wenn man sie erhalten hat, darf man einen Arzt aufsuchen – vorausgesetzt Sie leben dann noch.

Carmela Negrete *

* Aus: junge Welt, Montag, 18. März 2013


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