Den Protestvirus nach ganz Europa tragen
Der Volksmarsch der spanischen »Empörten« nach Brüssel ist in Frankreich angekommen
Von Ralf Streck, San Sebastián *
Die Indignados (Empörten) beschränken ihren Protest nicht mehr auf Spanien. Nach dem
erfolgreichen Marsch auf Madrid im Juli ist nun eine Gruppe Richtung Brüssel unterwegs. Das Ziel
ist das Europaparlament.
»Es geht um die Globalisierung der Proteste«, schallt es über den »Ensanche Enparantza«. So
heißt der zentrale Platz in der baskischen Stadt Irún, dessen Bild sich völlig verändert hat.
Erschöpfte Marschierer haben die Rucksäcke abgeworfen. Unter neugierigen Blicken von Passanten
bauen sie unter Bäumen ihre Zelte direkt neben dem Gebäude der Nationalpolizei auf, deren
Überwachungskameras das bunte Treiben filmen. Der Musikpavillon im Zentrum wird mit Beschlag
belegt, um wund gelaufene Füße zu verarzten. Spruchbänder zieren das Gebäude: »Volksmarsch
nach Brüssel« ist darauf zu lesen. »Wir gehen langsam, denn wir wollen weit kommen.«
Die »Indignados«, wie sie genannt werden, meinen damit nicht nur die 1500 Kilometer, die sie zu
Fuß von Madrid nach Brüssel zurücklegen wollen. Sie wollen ganz Europa mit ihrem Protestvirus
infizieren. Am Dienstag erreichten sie das Gebiet, wo die Grenze zu Frankreich das Baskenland
unter zwei Staaten aufteilt. Am Mittwoch haben sie feierlich dort die Grenze übertreten, wo sich einst
auf der Europabrücke Franco und Hitler die Hand reichten. Nun marschieren sie im Land von
Stéphane Hessel, des Kämpfers gegen den Faschismus und Überlebenden des KZ Buchenwald,
der mit der Streitschrift »Empört Euch« die Proteste befördert hat.
Seit dem 15. Mai lehnt sich die »Bewegung 15-M«, die eine Woche vor den Regional- und
Kommunalwahlen mit massiven Demonstrationen in vielen Städten entstand, gegen die
»Zweiparteiendiktatur« in Spanien auf. Sie fordert politische und soziale Veränderungen und trägt
ihre Forderungen nun selbst über die Grenzen hinaus. Denn überall würden die Kosten für die
Wirtschafts- und Finanzkrise auf die einfache Bevölkerung abgewälzt. Während Banken Milliarden
erhalten, fliegen Familien aus ihren Wohnungen, weil sie, von Arbeitslosigkeit geplagt, ihre
Hypotheken nicht bezahlen können. Dazu kommen, wie überall, tiefe Einschnitte ins Sozialsystem,
Renten- und Lohnkürzungen, beklagen die Empörten.
Vom Empfang im Baskenland sind sie überwältigt. Sie hatten die Unterstützung nicht erwartet. Denn
die Bewegung ist hier, wegen anderer Bedingungen, kaum spürbar. »Wir haben viel gelernt«, sagt
Jaidro López. Er stellt nachdenklich fest, schon im eigenen Land auf eine andere Kultur und Sprache
gestoßen zu sein, die man respektieren müsse. Das erklärt der 35-Jährige, der erstmals in den
grünen Bergen ist. In Irún wurde den Marschierern als Ehrenbezeugung der »Aurresku« getanzt,
und wie bei festlichen Anlässen üblich, erklang auch die »Txalaparta« (ein Perkussionsinstrument
aus Holzbalken) und erstaunte die Marschierer.
Begeistert waren sie auch von den vielen unterschiedlichen Menschen, die sich am Abend zum
Plenum versammelten, um zu debattieren und den Empörten Kraft mit auf den langen Weg zu
geben. In Kastilien, wo sich Jaidro einer Platzbesetzung in Toledo und später dann dem Marsch auf
Madrid angeschlossen hat, seien die Leute distanzierter. Doch überall komme man direkt mit den
Leuten in Kontakt und es könnten Grenzen überschritten werden.
Deshalb soll das Erfolgsrezept aus Spanien nun auf Europa übertragen werden. Bis zum 23. Juli
waren Marschkolonnen aus dem ganzen Land in die Hauptstadt gezogen, wo am 25. Juli in Madrid
mehr als 40 000 Menschen demonstrierten. »In einem Radio-Interview hatte ich scherzhaft gesagt:
Und jetzt auf nach Brüssel«, erzählte Jaidro, wie der Brüssel-Marsch entstand. Am nächsten Tag
stellte Jaidro erstaunt fest, dass eine Arbeitsgruppe ihn schon plante. Am 26. Juli machte sich eine
Gruppe von etwa 30 Marschierern aller Altersgruppen auf den Weg.
Inzwischen hat sich die Zahl der Teilnehmer mehr als verdoppelt, die aus mehr als einem Dutzend
Ländern kommen. Sie wollen auf dem Weg weitere Menschen dazu anstoßen, für reale
Veränderungen einzutreten. In Paris soll die Gruppe dann massiv anwachsen und sich mit anderen
Marschierern aus Deutschland, Italien und Griechenland vereinen, um gemeinsam den Marsch auf
Brüssel fortzusetzen. Dort ist am 8. Oktober vor dem Europaparlament eine Großdemonstration
geplant. Eine Station auf einem langen Weg. Denn am 15. Oktober wollen die Marschierer wieder in
Spanien sein. Dann sollen ein Generalstreik und viele Demonstrationen das Land lahm legen.
* Aus: Neues Deutschland, 19. August 2011
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