Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Empörten-Virus

Die spanische Protestbewegung hat ihr Ziel erreicht und die Welt mit ihrer Revolte angesteckt

Von Ralf Streck *

Ursprünglich sollte der 15. Oktober ein europaweiter Aktionstag werden. Mehr auszurufen hätten sich die spanischen Empörten im Frühsommer nicht getraut. Inzwischen hat sich der Protest globalisiert und der kommende Sonnabend ist ein Kristallisationspunkt für die Empörten in mehr als 40 Ländern der Welt geworden.

Es war der 30. Mai, als die spanische Protestbewegung der »Indignados« auf Versammlungen in Protestcamps einen zentralen Aktionstag am 15. Oktober festlegte. Zwar hatte die Plattform »Wahre Demokratie Jetzt« (DRY) auf eine internationale Ausweitung der Proteste gehofft, aber dass sich die Bewegung der »Empörten« nun auf 45 Länder aller Kontinente erstreckt, hatte man damals nicht zu träumen gewagt. Auch in den USA, wo derzeit die heißesten Proteste laufen, haben sich die Wall-Street-Belagerer dem Aufruf angeschlossen. Die verbindenden Forderungen der internationalen Proteste sind eine echte demokratische Kontrolle der Banken- und Finanzwirtschaft, ein Stopp der Sozialkürzungen und Privatisierungen sowie der Ruf nach partizipativer Demokratie.

In Spanien selbst wird es am Sonnabend viele Demonstrationen geben, aber auch außerhalb des Landes. Mit der freiwilligen Auflösung der Protestlager Ende Juni hat sich die Bandbreite der Aktionen vergrößert. In Madrid wurde Ende Juli entschieden, den Schritt zur »Globalisierung der Proteste« zu gehen. 50 Marschierer machten sich auf den Weg nach Brüssel, wo sie am vergangenen Wochenende eingetroffen sind.

Auf dem Weg wurde die Gruppe immer größer, am 16. September waren es bereits Hunderte, die bei einem Zwischenstopp in Paris eintrafen. Bis nach Brüssel wuchs die bunte Truppe weiter an. Während die Camps auf den 1500 Kilometern meist toleriert wurden, hat die Polizei in Brüssel in der Nacht zum vergangenen Sonntag den Elisabeth-Park gewaltsam geräumt und 48 Aktivisten festgenommen. Der Park sollte in dieser Woche zum »Internationalen Sitz der Empörung« werden. Hier sollte die zentrale Demonstration vorbereitet und ein alternatives Parlament eingerichtet werden. Das passiert nun in einem verlassenen Universitätsgebäude, das die Regierung ihnen angeboten hatte.

Mit den Aktionen wollen die Empörten vor dem anstehenden EU-Gipfel in Brüssel zeigen, dass sie sich vom Europaparlament und den EU-Institutionen in der belgischen Hauptstadt nicht vertreten fühlen.

Die Indignados bereiten auch in Spanien viele Proteste für das Wochenende vor. Schon in den letzten Wochen haben die Empörten mit der Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) Zwangsräumungen von Familien verhindert, die ihre Raten angesichts einer Arbeitslosigkeit von mehr als 21 Prozent nicht mehr an die Banken bezahlen können. Deshalb wird es auch zu Aktionen vor Banken und Parlamenten kommen. Unterstützt werden soll eine Volksinitiative, die nach Monaten nun auf dem parlamentarischen Weg ist. Die Gesetzesinitiative sieht vor, dass die Hypothekenschuld mit der Rückgabe der Immobilie an die Bank beglichen ist, wie zum Beispiel in den USA. Dafür hatten die Initiatoren 500 000 Unterschriften gesammelt. In Spanien verlieren die Familien ihre Wohnung und sitzen zusätzlich noch auf einem Schuldenberg. Denn nach derzeitiger Rechtslage übernehmen die mit Milliarden gestützten Banken die Immobilien nur für die Hälfte des Werts, wenn sie nicht zwangsversteigert werden können.

In den letzten Wochen rückte auch die Mobilisierung gegen die Einschnitte ins Bildungssystem immer stärker ins Zentrum. In verschiedenen Regionen streiken immer wieder Lehrer und Schüler gegen das Sparprogramm. Die Gewerkschaften haben für den 20. Oktober zu weiteren Streiks im Bildungssektor aufgerufen. Neue Empörte gibt es in Spanien auch unter Sozialarbeitern, Selbstständigen und sogar unter Apothekern, denen die Regionalregierungen ausstehende Rechnungen seit Monaten nicht bezahlen.

Eigentlich hatten die Empörten einen Generalstreik geplant. Doch bisher ist die Bereitschaft dazu in den Führungen der beiden großen Gewerkschaften gering, während sie an der Basis reift. Die Aktivisten erwarten, dass es nach den vorgezogenen Neuwahlen am 20. November so weit sein könnte, wenn nämlich die neue Regierung mit neuen Grausamkeiten aufwartet.

* Aus: neues deutschland, 12. Oktober 2011


Der Millionairs March zieht durch New York / Festnahmen in Boston / Tag 25 von Occupy Wall Street

Von Max Böhnel **

Tag 25 von Occupy Wall Street wird nach dem Willen der Aktivisten, die inzwischen zu Hunderten Nacht für Nacht auf dem Liberty Plaza unweit der Wall Street übernachten, ein Tag des Protestes gegen bekannte Angehörige des “einen Prozent” sein, das – so die Ankündigung – “den Reichtum auf Kosten der 99 Prozent anhäuft”.

Ein entsprechender Demonstrationszug, der sogenannte "Millionaire's March", soll an den Wohnorten und anderen Grundstücken wohl bekannter Mogule wie Rupert Murdoch, Howard Milstein, John Paulson oder David Koch vorbeiziehen. Bei Howard Milstein handelt es sich um einen schwerreichen Grundstücksmakler. John Paulson ist ein Hedgefonds-Manager, der zur Zeit als Geldmaschine für den Wahlkampf des Republikaners Mitt Romney fungiert. David Koch wiederum ist ein milliardenschwerer Industrieller, der die rechtsextreme "Basisbewegung" namens Tea Party mitfinanziert. Auch das Haus von Jamie Dimon soll angesteuert werden, dem Chef der Grossbank JP Morgan Chase.

Auf der Zielliste fehlt der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg, der als Gründer der gleichnamigen Finanzdaten-Agentur mit einem geschätzten Privatvermögen von 20 Milliarden Dollar eigentlich zu den 1 Prozent gehört. Aber offenbar wollen sich die Aktivisten vom Liberty Plaza nicht mit ihm anlegen. Bloomberg hat Occupy Wall Street beschuldigt, mit den Protesten und Besetzungsaktionen die Finanzindustrie zu zerstören, damit der Stadt New York ihre wichtigste Steuerquelle zu entziehen und letztendlich Arbeitsplätze vernichten zu wollen. Andererseits sagte New Yorks Mann Nummer eins, die Demonstranten könnten "bis auf unbestimmte Zeit" unter zwei Bedingungen weiter campieren: solange sie das Wetter aushalten und keine Gesetze brechen.

Wachen soll darüber die Polizei in Uniform und in Zivil, die Bloombergs politische Vorgaben großzügig interpretieren darf. Dass andere Städte in den USA die tolerante Maske ablegen, wurde mitten in der Nacht zum Dienstag in Boston deutlich. Weit nach Mitternacht nahmen Polizisten über 100 Teilnehmer von "Occupy Boston" fest.

Insgesamt sind innerhalb von vier Wochen (Occupy Wall Street begann am 17. September) in 70 Grossstädten Protestlager entstanden. Aus mehr als 600 kleineren Gemeinden in allen Teilen der USA werden ähnliche Demonstrationen berichtet. Nach wie vor gibt es weder eine zentrale Führung noch eine einheitliche Forderung.

In den Massenmedien wird die Unzufriedenheit der "99 Prozent" gerne als linkes Pendant zur rechtsextremen Tea Party bezeichnet. Die New Yorker Professorin für Politikwissenschaften Francis Fox Piven haelt diesen Vergleich allerdings für oberflächlich. Die Tea Party strebe die Wiederherstellung einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit an, "als die Welt noch einfach war, Männer noch Männer, Frauen noch Frauen und die Führer weiße Männer waren, als die Kirche noch über kleine Ortschaften regierte und, außer im Vaudeville-Zirkus, Minderheiten unsichtbar blieben",sagt die Professorin, die selbst Zielscheibe des rechtsextremen TV-Hetzers Glenn Beck war.

Das ist der Anfang

Im Gegensatz zu den weißen, älteren und nicht armen Anhängern der Tea Party, die von rechten Geschäftstleuten unterstützt wird, sind die Leute von Occupy Wall Street ueberwiegend jung, vereinen alle möglichen Hautfarben auf sich und sind vor allem wohl informiert. Auf eine Bewegung, "die die Jungen, die Arbeiter, Minderheiten und Armen einschließt, warte sie seit Langem, sagt Francis Fox Piven und fügt hinzu: "Ich glaube, das ist der Anfang".

** Aus: neues deutschland, 11. Oktober 2011


Dynamische Ruhe

Attac und neue Internetgruppen rufen zu Protesten gegen die neoliberale Krisenpolitik auf

Von Ines Wallrodt ***


Athen, Madrid, New York sind derzeit die Zentren der Krisenproteste. Doch auch hierzulande soll demonstriert werden. Im Netz gründen sich neue Gruppen nach spanischem und amerikanischen Vorbild. Ob der Funke aber wirklich über den Atlantik fliegt, mag niemand vorhersagen.

Die Welt ist in Aufruhr, vor den Frankfurter Bankenzentralen und im Berliner Regierungsviertel ist es dagegen ruhig. Ob die Protestwelle in den nächsten Wochen doch noch die Bundesrepublik erreicht, ist derzeit kaum absehbar. Der Aktionstag am Sonnabend - ausgerufen von den spanischen Empörten, europäisiert von Attac und aufgegriffen von der amerikanischen Bankenbesetzerbewegung - ist so etwas wie ein Stimmungstest. In zahlreichen deutschen Städten sind Demonstrationen geplant.

Linke und globalisierungskritische Organisationen hoffen seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise vor drei Jahren vergeblich auf Krisenproteste im Land. Angebote haben sie regelmäßig gemacht, doch die Resonanz war bislang bescheiden. Die Parole »Wir zahlen nicht für eure Krise« schaffte es nicht, sich über Städte und Plätze auszubreiten. Banken- und Börsenbesetzungen im vergangenen Jahr wurden abgesagt oder es kam nur eine Handvoll Menschen. Weder der arabische Frühling noch der spanische Sommer haben eine relevante Zahl der Deutschen dazu gebracht, ihr Zelt aus dem Keller zu holen. Statt Bewegung Ernüchterung bei den Aktivisten.

Doch jetzt gibt es die Proteste in den USA gegen die Macht der Finanzwirtschaft und der Ruf »Occupy Wallstreet« geht um die Welt. Die Belagerung von Banken und Börsen genießt inzwischen große Aufmerksamkeit. Nach den arabischen Revolutionen und den Jugendrevolten in Südeuropa sind deutsche Medien sensibilisiert für die Macht der Straße und fragen mehr ungeduldig als ängstlich: Schwappt der Protest auch zu uns? Die dadurch zusätzlich erreichte Verbreitung könnte die Bewegung beflügeln.

Denn auch hierzulande nagt das Unbehagen. Forderungen, Banken und Börsen an die Leine zu legen, werden nicht mehr nur von Linken geteilt. Davon zeugt etwa, dass innerhalb von 24 Stunden mehr als 45 000 Menschen in einer Online-Aktion die FDP aufforderten, die Finanztransaktionssteuer nicht länger zur blockieren. Zum kommenden Krisenaktionstag mobilisieren in diversen Städten neue Internetgruppen, die mit ihren Namen »Echte Demokratie jetzt!« und »Occupy« an die aktuellen Demokratiebewegungen anknüpfen. Aus dem Kreis langjähriger Politaktivisten speisen sie sich nicht. Im Gegenteil betonen sie, sie seien weder Partei, noch Verein, noch Organisation.

Andererseits drückt die Krise in Deutschland nicht genauso wie anderswo. Das Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit ist längst nicht so extrem wie in Spanien, das deutsche Sozialsystem musste schon vor Jahren bluten und die Hauptlast der Krise wird bislang - durchaus mit Zustimmung der deutschen Bevölkerung - erfolgreich auf andere Länder abgeschoben. Von den 163 000 Menschen, die Occupy Wall Street auf Facebook unterstützen, sind die deutschen Nachahmer weit entfernt.

Entsprechend vorsichtig ist Attac mit Prognosen. Es gebe derzeit eine Dynamik, heißt es aus dem Frankfurter Büro, aber was daraus wird, wisse man nicht. Vielleicht braucht es nur einen Funken, planvoll entzünden lässt er sich aber nicht. Das weiß das Bewegungskind Attac am besten.

Der 15. Oktober könnte allerdings einen Rahmen bieten. Dezentral sind Aktionen geplant. Bei einer ganztägigen Anhörung zur Krise in Berlin will Attac Ursachen, Folgen und Alternativen öffentlich behandeln. »Zeugen« aus besonders betroffenen Ländern wie Griechenland oder Island sind eingeladen, um ihre prekäre Lebenssituation zu beschreiben. Und auch eine Bankenaktion soll erneut versucht werden. Diesmal vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Die EZB sei eine der mächtigsten, undemokratischsten Institutionen der EU, »die Griechenland, Irland und Portugal schlimmere Maßnahmen aufzwingen will als der IWF«. Und das will wirklich was heißen.

*** Aus: neues deutschland, 12. Oktober 2011


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