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Spuren des Krieges: "Früher arbeiteten hier viele Menschen"

Herbstreise durch das ehemalige Jugoslawien

Von Hannes Hofbauer *

Teil I: Erinnerungen an den Kampf in und um die kroatische Stadt Vukovar im Jahr 1991

Kroatien empfängt uns unaufmerksam. Mit Wiener Autokennzeichen ist man hier am Sonntagnachmittag in die falsche Richtung unterwegs. Zig PKW mit ostösterreichischen Kennzeichen kommen einem auf der Strecke von Osijek nach Mohács entgegen, in sechs bis sieben Stunden, noch vor Mitternacht, werden die kroatischen Gastarbeiter in Wien sein. Der kroatische Zollbeamte spricht uns wie selbstverständlich wegen des Wiener Kennzeichens auf Kroatisch an und ist verdutzt, als wir in gebrochenem Südslawisch darauf aufmerksam machen, daß wir nichts verstehen. In diesem Fall will er nicht einmal einen Blick in unsere Reisedokumente werfen.

Vukovar gleicht auch 16 Jahre nach dem dreimonatigen Krieg im Jahr 1991 einer zerstörten Stadt. 80 bis 90 Prozent der Bausubstanz sind zwischen August und Oktober 1991 im Kampf der jugoslawischen Volksarmee mit kroatisch-nationalen Milizen dem Erdboden gleichgemacht worden. Im örtlichen Museum hängt ein Foto, das damals um die Welt ging: Häuser, Kirchen und das stolze Schloß, die unter jugoslawischem Artilleriefeuer und Fliegerangriffen zu Steinhaufen zusammengeschossen worden waren. Heute prägen große Freiflächen das Bild der früheren Barockstadt an der Donau. Jedes zweite Haus ist immer noch eine Ruine. Eingestürzte und abgebrannte Dachstühle erschweren die Wiederaufbauarbeiten. Das Einkaufszentrum an der Donau und das ehemals repräsentative Grand Hotel in der Stadtmitte – bereits im ersten Jugoslawien, dem Königreich von 1918 bis 1941, zu einem Arbeiterheim umgewandelt –, auch der große Wasserturm und das ausgedehnte Bauwerk des Schlosses der Grafen von Eltz – alles fällt seit 16 Jahren in sich zusammen bzw. erinnert als Mahnmal des Krieges an die schlimmsten Tage, die Vukovar in seiner langen Geschichte erlebt hat.

Schwierige Kontaktaufnahme

Franziskanerkirche und Franziskanerkloster, auf dem Hügel südlich des Stadtzentrums von Vukovar gelegen, machen im Sommer 2006 von weitem einen freundlichen Eindruck. Die frisch gestrichene Außenfassade zeugt von der finanziellen Kraft des Vatikans; im Jahr 2000 war die Renovierung der Fassade abgeschlossen, wie eine Inschrift am Portal des Gotteshauses verkündet. 1991 hatte der barocke Kirchturm zwei Artillerietreffer der jugoslawischen Volksarmee abbekommen; die Bilder dieser Untat gingen damals um die Welt. Turm und Dachstuhl erstrahlen indes wieder neu. Im Kircheninneren allerdings wurden bis zum September 2006 nicht viel mehr als die nötigsten Aufräumarbeiten durchgeführt. Die Wände sind mit Einschußlöchern übersät, die rohe Ziegelwand ist an mehreren Stellen von Bränden schwarz gefärbt, nur der Fußboden wurde nach dem Krieg betoniert. Die serbisch-orthodoxe Kirche gegenüber, dem Heiligen Nikolaus geweiht, wurde schon Mitte der neunziger Jahre, als die kroatische Bevölkerung aus dem Ort vertrieben worden war, wieder restauriert. Auch sie ist im Inneren verwüstet und kahl, wie ein Blick durch das Schlüsselloch zeigt.

Niemand, der hier an der pravoslawischen, der »rechtgläubligen« Kirche vorübergeht, will mit uns über den Krieg und seine Folgen sprechen. Die Menschen wirken verängstigt, huschen an den unbekannten Ausländern vorbei, die sie ein wenig mißtrauisch beäugen. Mehr Glück mit der Kontaktaufnahme haben wir vor dem protzigen Schloß der Grafen von Eltz. Bis 1945 residierte hier die deutsche Adelsfamilie, unter Tito wurde es verstaatlicht. In dem Zustand, in dem es sich heute befindet, werden es die Nachfahren der von Eltz sicherlich nicht einmal geschenkt bekommen wollen. Es ist schwer beschädigt.

»Am 25. August 1991 gab es die ersten Luftangriffe auf Vukovar«, erzählt die Direktorin des städtischen Museums, das seit ein paar Monaten wieder einige Räume in den Ruinen des Schlosses bezogen hat. Das Kriegs- und Weltbild der jungen Frau entspricht den denkbar einfachen Mustern aus aktuellen kroatischen Lehrbüchern in Punkt und Komma. Da gibt es die Guten, die Widerstandskämpfer, die Helden, die kroatische Zivilbevölkerung und ihre Milizen auf der einen Seite und die Bösen, die Belagerer, die Mörder, die jugoslawische Volksarmee auf der anderen Seite.

Die Opferung Vukovars

»Vukovar ist gefallen.« So titelten wohl sämtliche Tageszeitungen im deutschen Sprachraum am 19. November 1991. Tags zuvor war die jugoslawische Armee in der Hauptstadt Ostslawoniens einmarschiert, die nach den blutigsten Kämpfen im kroatischen Sezessionskrieg zu über 90 Prozent zerstört war. Sie glich einem Trümmerfeld.

Doch die Geschichte der Zerstörung Vukovars ist facettenreich. Bereits im Juni, also noch vor der Mobilmachung der jugoslawischen Armee, wüteten in der Metropole Paramilitärs der »Hrvatske odbrambene snage« (HOS), der kroatischen Befreiungsarmee des rechtsradikalen Dobroslav Paraga, der wohl zu den blutrünstigsten Figuren des Balkankrieges zählte. Sie vertrieben mißliebige Serben und errichteten ein Gefangenenlager nahe der Stadt. Mehr als 1000 Serben fanden hier – nach serbischen Angaben – den Tod. Nachdem daraufhin im Spätsommer jugoslawische Armeeeinheiten die Stadt umzingelten und belagerten, rief der Befehlshaber der kroatischen Nationalgarde, die sich als reguläre Truppe verstand, Zagreb um Hilfe. Doch der kroatische Präsident Franjo Tudjman verweigerte Entsatztruppen. Über zwei Monate lang wurde Vukovar von jugoslawischen Bodentruppen beschossen, während im Inneren der Stadt der blanke Terror herrschte. Serben wurden von den HOS-Milizen hingemetzelt, die kroatische Zivilbevölkerung an der Flucht gehindert. Sie kam im Bombenhagel der Belagerer um. Zurück blieben Häuserruinen mit verkohlten Leichen – Schreckensbilder eines Krieges.

General Mile Dedakovic, der militärisch verantwortliche Kroate der Region, machte der Zagreber Führung später schwere Vorwürfe. Die Niederlage in Vukovar, so Dedakovic, sei vermeidbar gewesen. Mehr noch, der kroatische General unterstellte Tudjman indirekt, den Fall der Stadt absichtlich herbeigeführt zu haben, weil dieser für die Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit ein drastisches Bild serbischer Greueltaten gebraucht habe. Johannes Grotzky, ein erfahrener Journalist auf dem Balkan, berichtet in seinem Buch »Balkankrieg«, der General habe ihm gegenüber bestätigt, daß kroatischer Entsatz absichtlich verzögert worden sei, »um die eigene Verteidigung auszubluten«. Tudjman selbst hat sich zum Fall der Stadt später geäußert, indem er verschwörungstheoretisch von Verrat sprach, ohne einen Schuldigen zu benennen. Daß er selbst eine Inszenierung mit Tausenden Toten mitbefehligt haben könnte, daran will heute in Kroatien niemand erinnert werden. In der offiziellen Geschichtsschreibung des jungen Staates gilt Vukovar als »Heldenstadt«, deren Bevölkerung für die nationale Freiheit sterben mußte.

Zusammenleben heute

Auch heute finden sich in Vukovar Menschen, die diese Sicht der Ereignisse bestätigen. Lange und ausführlich erzählt uns z. B. ein Mitarbeiter des städtischen Museums seine Geschichte der Tragödie von Vukovar. Ja, er habe es erlebt, wie Paragas HOS-Milizen Jagd auf serbische Familien in der Stadt gemacht hätten, lange bevor die jugoslawische Volksarmee in den Konflikt eingegriffen hätte. Wie alle anderen litt auch er darunter, daß Vukovar in den Tagen allerärgster Bedrängnis – als die serbischen Generäle der jugoslawischen Armee die Donaustadt vollständig umzingelt hatten und der lokale kroatische Militärverantwortliche Zagreb um Entsatz anflehte – von Tudjman vergessen worden ist. Die Frage, ob dies etwa absichtlich passiert sei, um ein besonders drastisches Beispiel serbo-jugoslawischer Aggression der Weltöffentlichkeit vorführen zu können, beantwortet er mit den Augen bestätigend, getraut sich jedoch nicht, darüber laut und offen zu sprechen.

Serben und Kroaten leben jetzt wieder gemeinsam in der Stadt. Letztere wurden erst nach sechs- bis siebenjähriger Vertreibung im Rahmen einer vereinbarten Rückführungsaktion 1997 erneut angesiedelt, während die meisten wehrfähigen Serben nach der Rückkehr der Kroaten die Stadt verlassen mußten. »Heute ist es in Vukovar schon viel besser als noch vor vier, fünf Jahren. Die Menschen lernen, wieder miteinander zu leben.« Sorgen macht dem Museumsangestellten indes die Abwanderung junger Leute. Er betont, daß es kaum Kinder in der Stadt gebe: »Viele Familien sind zwar hier gemeldet, leben aber in Zagreb oder sonstwo in Kroatien, manche auch in Serbien.« Man wartet auf finanzielle Unterstützung zum Wiederaufbau des zerstörten Eigenheims oder einfach nur auf bessere Zeiten. Diese werden so lange nicht Einzug halten, ist der auskunftsfreudige Mann überzeugt, bis in Infrastruktur und Industrie investiert wird. »Früher arbeiteten hier viele in der nahen Schuh- und Gummifabrik ›Borovo‹ oder im Hafen, aber jetzt gibt es kaum Arbeit. Die Leute ziehen weg.« Am Ende unseres Gesprächs weist er auf eine interessante Beobachtung hin. Wir sollten nicht alles glauben, was in den neuen Büchern steht; nicht einmal die Einwohnerzahlen. Die sind in Wahrheit viel geringer, gerade deshalb, weil man zwar im neuen Kroatien gerne damit protzt, Einwohner der »Heldenstadt Vukovar« zu sein, weniger gerne aber in ihrer zerstörten Infrastruktur lebt.

Über 2000 Einwohner kamen in den hundert Tagen der Kämpfe im Sommer und Herbst 1991 ums Leben, als Vukovar von der jugoslawischen Volksarmee Schritt für Schritt umzingelt und schließlich komplett eingeschlossen worden war. Der erste nach dem Krieg und der anschließenden Vertreibung im Jahre 2005 neu erschienene Reiseführer des traditionsreichen Donaustädtchens listet präzise die Opfer auf: »890 Freiheitskämpfer und 1200 Zivilpersonen«. Auch im Tod sind diese nicht gleich, wie ein Besuch des Gedenkfriedhofs östlich von Vukovar veranschaulicht. »Hrvatski Branitelj«, »kroatischer Kämpfer«, steht auf jenen Platten in den Stein gemeißelt, unter denen die »Verteidiger der Stadt«, so die offizielle Sprachregelung, liegen. Selbst manch ein 70jähriger hielt dieser Darstellung nach noch die Waffe in der Hand, als ihn der Tod ereilte. Ein »hrvatski branitelj« erhält auch – so er den hunderttägigen Krieg mit Verletzungen überlebte– eine staatliche Versehrtenrente. Eine um Bruder und Mann trauernde Frau gibt bereitwillig Auskunft über die Höhe der Zuschüsse. Bei vollständiger Invalidität kann solch eine staatliche Hilfe bis zu 1000 Euro monatlich ausmachen, ein Mehrfaches des Durchschnittslohnes, eine Summe freilich, die wie kein Geld der Welt den Verlust von Gliedmaßen wettmachen kann.

Ihre Begleiterin drängt die redselige Witwe zum Aufbruch, und wir finden uns plötzlich allein auf dem riesigen, vor knapp zehn Jahren neu angelegten Gräberfeld, das neben unzähligen identifizierten Leichen – in »Kämpfer« und Zivilpersonen unterteilt – ein monumental wirkendes Meer an 938 weißen Kreuzen einschließt. So viele Menschen wurden nach der organisierten Rückkehr der kroatischen Bevölkerung nach Vukovar im Jahr 1997 aus 13 Massengräbern exhumiert – in Kriegszeiten waren sie verscharrt worden – ohne daß ihre Identität geklärt werden konnte.

»Heil Hitler« in Borovo selo

Das ökonomische Herz des modernen Vukovar schlug bis zum Mai 1991 außerhalb der Stadt, im etwa zehn Kilometer Donau aufwärts gelegenen Ort Borovo selo. Dieser »Single-Factory-Ort« wurde im Jahr 1931 vom tschechoslowakischen Schuhfabrikanten Tomas Bat'a auf die grüne Wiese gesetzt. Wie im mährischen Zlin, dem späteren Gottwaldov und heute wiederum Zlin genannten Ort, errichtete Bat'a auch an der mittleren Donau ein Schuh- und Gummiwerk, das– nach seiner Nationalisierung unter den jugoslawischen Kommunisten – Ende der achtziger Jahre 22000 Menschen beschäftigte. 6000 bis 8000 von ihnen lebten direkt in Borovo selo, viele davon in britisch anmutenden Backsteingebäuden für zwei oder vier Familien mit quadratischen Grundrissen, die den Zweiten Weltkrieg bis zum Bürgerkrieg des Jahres 1991 unbeschadet überstanden.

Heute liegen die meisten Fabrikgebäude und viele Wohnblocks in Schutt und Asche. Zwar konnte die jugoslawische Volksarmee Anfang Mai 1991 die ersten kroatisch-nationalen Provokationen noch abwehren, dem mehrjährigen Bürgerkrieg, den Zagreb in den neunziger Jahren beharrlich »Heimatkrieg« nannte und dessen Bezeichnung sich zuletzt einer vermeintlich moderneren Diktion folgend in »Unabhängigkeitskrieg« wandelte, waren Fabrikgebäude und Fabrikstadt nicht gewachsen. Wie im westlichen Slawonien und in der Gegend rund um Knin waren in den Monaten nach dem Wahlsieg von Tudjmans »Hrvatska Demokratska Zajednica« (Kroatische Demokratische Union) im April 1990 und der im Dezember folgenden Verfassungsänderung kroatische Milizionäre in mehrheitlich serbisch besiedelte Städte und Dörfer gegangen, um den dortigen – zumeist serbischen– Autoritäten die Symbole des neuen bzw. alten kroatischen Nationalismus aufzudrängen: zu allererst die rot-weiße Schachbrettfahne anstelle der slawischen Trikolore. Für Serben ist sie freilich im übertragenen Sinn ein rotes Tuch, erinnerte doch das Schachbrett detailgetreu an den Pavelic-Staat Anfang der vierziger Jahre, der mit Hitlers Duldung mehrere Jahre in Kroatien Juden, Serben und Zigeuner terrorisierte, vertrieb und vernichtete.

In Borovo selo spielte sich das Unheil bringende Szenario mit dem Einzug der Schachbrettfahne am 1. und 2. Mai 1991 ab. Zwölf kroatische Territorialverteidiger waren damals von serbisch-stämmigen Polizisten in eine Falle gelockt und erschossen worden, um – wie diese meinten – ein für allemal die an schreckliche Zeiten erinnernde Symbolik los zu sein. Heute erinnert ein Gedenkstein an die als Helden gefeierten Kroaten. Und die schrecklichen Zeiten wiederholten sich. Die Fabrik Borovo, die Schuhe, Autoreifen und andere Gummiprodukte erzeugte, hat sie nicht überlebt. Zwischen den zerbombten Fabrikhallen, deren eigenartige Ästhetik einen frösteln läßt, werken noch 500 Arbeiter unter kroatisch-staatlicher Ägide. Die Bat'aschen Wohnblocks werden da und dort wieder renoviert. Drei Viertel der Bewohner sind allerdings nach dem großen Morden nicht mehr zurückgekehrt. Arbeit gibt es keine hier. Die Jugend sitzt in den drei, vier Kaffeehausgärten, trinkt Bier und Coca Cola, und als ein besonders kurz rasierter Glatzkopf im offenen Cabrio langsam die Hauptstraße entlang fährt, hebt ein etwa 20jähriger – wie eine alltägliche routinemäßige Geste – die Hand zum Hitlergruß. Er war im Jahr, als die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen die kroatische Sezession bzw. Unabhängigkeit bekämpften, gerade einmal vier oder fünf Jahre alt.

Wiederaufbau auf dem Lande

Unterhalb von Vukovar passieren wir das Städtchen Ilok. Hier wurde, folgt man dem Prospekt der örtlichen Weinkooperative, erstmals in Europa Wein in Flaschen gefüllt, um ihn an ferne Fürstenhöfe transportieren zu können. Es war die hocharistokratische Familie Odescalchi – Papst Innozenz XI. (1676–1689) entstammt ihr, die vom Wiener Hof mit den Gütern um Ilok belehnt worden war. Als Honorierung seiner Verdienste im Kampf gegen die Türken erhielt ein Neffe des Papstes nach der Zurückschlagung der Osmanen im Jahre 1688 diesen lößreichen Boden, auf dem heute wie damals die besten Weine gedeihen. Ein mehr als 100 Meter langer, endlos wirkender Keller ist mit über 100 Fässern bestückt, der Großteil davon neu gebunden. Bis zu 5 200 Liter fassen diese hölzernen Riesen. Mit Kreide sind an ihrer Vorderseite Sorten und Jahrgänge vermerkt: Traminac, Chardonnay, Grasevina, Rheinriesling. »Ilocki podrumi« hat sich nach dem Krieg wieder erholt und dominiert weithin sichtbar die Landschaft rechts der Donau.

Langsam gewinnt der mächtige Strom wieder an Fahrt, nachdem er in der ungarischen Tiefebene immer träger geworden war. Die kroatischen Dörfer entlang der Donau befinden sich im Wiederaufbau, wie z.B. das kleine Sarengrad. Das Franziskanerkloster wird demnächst in neuem Glanz erstrahlen, während die serbisch-orthodoxe Kirche schon jahrelang weder Gläubige noch Bauarbeiter gesehen hat.

Teil 2: Im serbischen Petrovaradin und an Milosevic’ Grab

Vier Metallcontainer, wenige Kilometer hinter dem kleinen kroatischen Städtchen Ilok, markieren die Grenze zu Serbien. Die grüne Versicherungskarte für den PKW ist das einzige, was die serbischen Behörden interessiert, dann noch ein kurzer Blick in den Kofferraum und schon breitet sich vor uns die Fruska Gora aus, ein dünn besiedelter, bergiger Landstrich rechts der Donau, der sicherlich wegen seiner schlechten Erreichbarkeit über ein Dutzend serbisch-orthodoxer Klöster beherbergt. In den allermeisten von ihnen leben heutzutage nur noch einzelne Mönche oder Nonnen, die mit tatkräftiger Unterstützung von Teilen der lokalen Bevölkerung ein einfaches Leben führen.

Vis-à-vis von Novi Sad erhebt sich die mächtige Festung Petrovaradin, deren Massivität dem spätbarocken französischen Militärarchitekten Sébastien le Pestre de Vauban zu verdanken ist. Ähnlich der Anlage im slowakischen Komarno, allerdings links der Donau gelegen, erfüllte Petrovaradin für das Habsburgerreich militärische Funktionen gegen osmanische Truppen und wohl auch gegen innere Erhebungen. Die Ironie der Geschichte wollte es, daß ungarische Revolutionäre im Juni 1849, als sie den Festungsblock Petrovaradin kontrollierten, von hier aus die bürgerliche, aber kaisertreue Stadt Novi Sad in Brand schossen. In der Stadt waren Aktivisten der jungen serbischen und kroatischen Nationalbewegung nicht bereit, für die ungarische Sache zu sterben. Sie machten den Ungarn das Angebot, gemeinsam gegen den Wiener Hof zu ziehen. Der Kopf der ungarischen Freiheitskämpfer, Lajos Kossuth, mit seinen Mitstreitern lehnte jedoch ab. Neben der ungarischen war für die Revolutionäre keine weitere nationale Erhebung im Reich der Stefanskrone denkbar.

Geschichtsverfälschung

Im September 2006 geht der Blick von den Mauern der wehrhaften Anlage über die 300000 Einwohner zählende Metropole der Vojvodina. Ein Jahr zuvor ist hier die letzte der drei Donaubrücken, die Freiheitsbrücke, die die NATO im April 1999 bombardiert und in den Fluß versenkt hatte, wieder eröffnet worden. Die zwei einsam aus dem Fluß ragenden Pfeiler neben den Resten der Pontonbrücke, die mehrere Jahre lang Novi Sad mit Petrovaradin und weiter mit Belgrad verbunden hatte, stammen noch aus einem früheren Fliegerangriff. Diese Brücke, deren Verlängerung direkt in einen seither unbenutzten Tunnel unterhalb des Festungshügels führt, war 1942 von Piloten der Hitler-Wehrmacht zerstört worden.

Ein junges Paar, das die Szenerie am Fluß beobachtet, reagiert auf unsere Anfrage, wie denn die brückenlose Zeit verlaufen sei, mit einem Wust an Entschuldigungen. Die serbische Politik sei schlecht, der damalige Präsident Slobodan Milosevic ein Verbrecher gewesen, sie selbst könnten nichts dafür. Fast wollte man sie darüber aufklären, daß es NATO-Bomber und nicht Flugzeuge der jugoslawischen Volksarmee waren, die Novi Sad vom Rest Jugoslawiens abgetrennt hatten. Heute könnten sie nirgendwohin reisen, klagen die jungen Leute, nur hier oben auf der Festungsmauer sitzen und daran denken, wie schön die Städte und Landschaften an der Donau wären, die ihnen wegen der faktischen Unmöglichkeit, als Serben Visa für EU-Europa zu erhalten, verschlossen blieben. Daß in ihren Träumen die Schönheiten entlang der Donau – zwischen Wien und Schwarzwald – nur stromaufwärts liegen, verwundert angesichts ihrer Traumatisierung kaum. Opfer des NATO-Krieges, die sich für ihre eigene Regierung entschuldigen, trifft man in Serbien häufig. Die Unfaßbarkeit der 78 Bombennächte, in der Freunde und Verwandte starben, Wohnungen und Infrastruktur schwer beschädigt wurden, hat nicht nur ein Trauma hinterlassen, wie sie jeder Krieg verursacht. Schlimmer: EU-Europa und US-Amerika sind seit dem Ende des Krieges und mehr noch seit der Überführung von Milosevic nach Den Haag mit zivilgesellschaftlicher Verve daran gegangen, die Aufarbeitung der Geschehnisse selbst in die Hand zu nehmen. Von Schulungen für Lehrer im Rahmen einer sogenannten »Scholars’ Ini­tiative« bis zu Kursen für Journalisten wird eindringlich eine einzige Botschaft verkündet: Die NATO-Bombardements waren keine Aggression gegen Jugoslawien und die Serben, sondern eine Befreiungsaktion von einer Diktatur. Mehr und mehr Menschen scheinen bereit, die Geschichte dementsprechend zu lesen. Ihrer Desorientierung tut dies freilich keinen Abbruch, im Gegenteil, das Auseinanderklaffen zwischen Erlebtem und nun offiziell Apostrophiertem leistet psychischen Verarbeitungsproblemen Vorschub.

Im Kulturhaus »Matica Srpska«, was übersetzt soviel wie »serbische Bienenkönigin« heißt, empfängt uns Dobrila Martinov. Die kräftige fünfzigjährige Literaturwissenschaftlerin erzählt stolz die Geschichte dieser für ganz Serbien einmaligen Einrichtung. 1826 in Budapest gegründet, beschäftigt sich »Matica Srpska« seit nunmehr 180 Jahren mit der Förderung der serbischen Sprache, Musik und Geschichte. Im dunklen Festsaal des an der Pasic-Straße liegenden Hauses verbreiten noch dunkler gemalte Porträts der Verbandspräsidenten eine Schwere, wie sie draußen in den Straßen von Novi Sad nicht anzutreffen ist. Politik ist für unsere Gesprächspartnerin tabu, darauf haben sich alle Akademiker der »Matica Srpska« schon von Anbeginn geeinigt. Trotz unseres drängenden Fragens ändert sie ihr Verhalten nicht. Statt dessen erzählt sie uns die rührende Geschichte der Übersiedlung der aufklärerischen nationalen Kulturgesellschaft, wie sie unter dem Verbandspräsidenten Platon Atanaskovic im Jahr 1864 stattgefunden hat. Mit großem Tamtam und einem Dutzend Trompeten ging es damals flußabwärts von Budapest nach Novi Sad. Bücher, Schreibtische und alles transportable Inventar auf Schiffe gepackt, wurde das Kulturhaus entlang der Donau von den Menschen jubelnd empfangen. Wie ein Bienenvolk im Mittelpunkt ihres Stockes die Königin, so umschwärmten die Serben ihre »Matica Srpska«. »Es war ein Volksfest«, erzählt Frau Martinov, als ob sie selbst dabei gewesen wäre, »die Menschen standen entlang des Donauufers und erwarteten ihre Königin«, die »Matica Srpska«. Heute beherbergt die Kulturvereinigung unter anderem die größte Bibliothek der Vojvodina.

In der Fußgängerzone von Novi Sad herrscht hektisches Treiben. Zwischen die flanierenden, Schaufenster betrachtenden oder betriebsam die Straßenseite querenden Menschen haben sich zehn bis zwölf Leibwächter, Funkknopf im Ohr, gemischt. Zwei Autos mit Blaulicht, gefolgt von weiteren vier Karossen, nähern sich langsam der Zmaj-Jovan-Straße. Heraus steigen ein gedrungener Mann in dunkelblauem Anzug und eine ebenfalls dunkel gekleidete, kleinere Frau von mediterranem Äußeren. Es ist, so klärt uns ein Passant auf, der »Prinz« und seine griechische Gemahlin. Alexander II. Karadjordjevic hat zwar im republikanischen Serbien auch nach der Zerstörung Jugoslawiens keinerlei offizielle Funktion inne, dennoch wird er wie ein Staatschef chauffiert. Das mag unter anderem daran liegen, daß der aktuelle Außenminister, Vuk Draskovic, ein bekennender Monarchist und Karadjordjevic-Freund ist. Wirklich geliebt oder gar enthusiastisch gefeiert wird der »Prinz« hier im Zentrum der zweitgrößten serbischen Stadt allerdings nicht. Da hilft es auch wenig, wenn einige Helfer im Umkreis von 50 Metern damit begonnen haben, DIN-A-4-große, bunte Bilder der »Königsfamilie« an die Umstehenden zu verteilen.

Den Abend verbringen wir in einer Csarda, einer rustikalen Gaststätte, gleich an der Varadiner Brücke unterhalb der Petrovaradiner Festungsanlage. Hinter uns ragt der Uhrturm mit seinen bekannten vertauschten Zeigern in die Dämmerung und vor uns fließt die Donau dem Schwarzen Meer zu, das sie nach 1 250 Kilometern erreichen wird.

Keciga nennt sich die hiesige Fischspezialität, die von Wien kommend flußabwärts erstmals– freilich auf ungarisch – in Mohács auf der Speisekarte stand. Noch im legendären »Appetitlexikon« von Robert Habs und Leopold Rosner aus dem Jahr 1894 wird dieser Fisch als »Stirlet« auch auf Wiener Märkten gesichtet. Habs und Rosner beschreiben ihn als Abkömmling des Stör, der vom Schwarzen Meer Richtung Mitteleuropa wandert. Die im 20. Jahrhundert einsetzende Verbauung der Donau durch Wasserkraftwerke hindert den schmackhaften Räuber allerdings seit Jahrzehnten daran, den Weg in die Wiener Gastronomie zu finden. Der Kellner erklärt uns noch, daß der Keciga im Prinzip ein schmutziger Fisch sei, der stehende, ruhige Gewässerstellen am Rande des Stromes liebt, in Schwärmen vorkommt und deshalb auch zu Hunderten mit dem Netz gefangen wird. Kurz angebraten, zählt er jedenfalls – neben seinem großen Bruder, dem Stör, der unter der Bezeichnung Ossedrina z. B. in Odessa bis zu zwei Meter lang wird – zu den schmackhaftesten Wassertieren, die auf europäischen Tellern zu finden sind.

Interessiertes Innenministerium

Von dem untouristischen Teil Serbiens ist der vielleicht untouristischste die Stadt Pancevo. Mit ihren drei großen Industriekombinaten zählt der Donauort zu den wirtschaftlichen Herzstücken des krisengeschüttelten Landes. Neben der Raffinerie, die zusammen mit einer zweiten in Novi Sad ganz Serbien mit Erdöl versorgt, steht eine petrochemische Anlage direkt an der Donau sowie ein Düngemittelwerk wenige Kilometer im Landesinneren. Alle drei Betriebe wurden im April 1999 von Kampfjets der NATO zerstört, wobei große Mengen giftiger Substanzen in die Luft, in die Donau und in die Erde gelangt sind. »Die Stadtverwaltung hat noch Wochen nach den Angriffen gewarnt«, meint eine junge Pharmazeutin in der örtlichen Apotheke, »daß niemand ins Freie gehen dürfe, wenn es regnet, und überhaupt darauf geachtet werden müsse, keinen Kontakt zum Erdboden zu haben.« »Was ist das für ein Leben hier«, beklagt sich die Apothekenangestellte, die nicht den Eindruck einer kränkelnden, psychisch zerrütteten Frau macht. Ihre Kollegin antwortet auf unsere Frage, ob und wie denn die von der NATO ausgelöste Umweltkatastrophe in der 100 000 Einwohner zählenden Industriestadt bis heute ihre Spuren hinterlassen hat, indem sie einen Stapel Rezepte, die sie gerade in der Hand hält, schwingt und meint, das meiste davon seien verschriebene Antidepressiva. »Der Streß der Bombardements beschäftigt die Menschen immer noch«, erzählt die junge Pharmazeutin, die sich alle Zeit der Welt nimmt, um uns Auskunft zu geben. Im übrigen seien es weniger die freigesetzten Chemikalien, die sieben Jahre nach dem Krieg Krankheiten verursachen, sondern das zur Erhöhung der Durchschlagskraft von Munition verwendete abgereicherte Uran, das durch die Einsätze der NATO weitflächig in ganz Serbien, inklusive Kosovo, und in Bosnien verstreut wurde. Ähnlich äußert sich auch Vesna Begovic, Managerin des petrochemischen Unternehmens »Petrohemija«, die den NATO-Angriff– wie alle hier – unmittelbar erlebt hat. Wir treffen sie in der medizinischen Vorsorgestation des Betriebes. »Viele hier meinen, daß es neben dem Streß, dem Krebs auslösenden Uran, den Chemikalien auch noch biologische Kampfstoffe gab, die bis heute nicht identifiziert sind.« So hätten etwa schwangere Frauen Wochen nach den NATO-Angriffen fast auf den Tag gemeinsam ihre ungeborenen Kinder verloren. Das sei, so die Managerin, mit Streß allein kaum erklärbar. Die Gesundheit der Einwohner von Pancevo wird auch sieben Jahre nach der Katastrophe behördlich überwacht. »Gegen die Auswirkungen sind wir machtlos«, gibt sich die junge Apothekerin allerdings pessimistisch.

Ein Besuch des Düngemittelwerkes wird zur mehrstündigen Odyssee durch das Exekutivsystem des Betriebs und des Staates. Das Piktogramm, das auf das Fotografierverbot hingewiesen hat, habe ich tatsächlich übersehen. Mehrere Meter vor dem Fabriktor des »HIP Azotora« klickt der Auslöser meiner altertümlichen Spiegelreflexkamera und schon kommt ein junger, kahl rasierter Torwächter auf mich zu, schußbereite Pistole im Halfter, um mir mein Vergehen vorzuwerfen. Aggressivität ist nicht im Spiel, der Sicherheitsmann entpuppt sich als umgänglich, entschuldigt sich sogar für die Unannehmlichkeit, muß aber – »Sie verstehen, die Vorschrift«– den Chef des Sicherheitsdienstes holen. Nach wenigen Minuten fährt dieser mit Chauffeur vor. Wir erfahren, daß die Düngemittelfabrik gerade mitten im Privatisierungsprozeß steht, eine – hier wenig beliebte – litauische Firma den Mehrheitsanteil gekauft hat und eben dabei ist, Personal drastisch abzubauen. Der Sicherheitschef hat also allen Grund, besonders hart durchzugreifen. Es geht nicht zuletzt um seinen Job.

Warum ich fotografiert habe, will er von mir wissen. Meine Antwort, wir wollten uns als interessierte Touristen die Nachwehen des NATO-Bombardements ansehen, befriedigt ihn nicht. Ihn unterstützen zwei Mitarbeiterinnen, die sich beide in ausgezeichnetem Englisch immer wieder für die entstandenen Unannehmlichkeiten entschuldigen. Schon ist die erste Stunde um, in der wir uns in der Vorhalle des Bürokomplexes– ungemütlich – eingerichtet haben. Eine der beiden Übersetzerinnen erklärt uns die gerade in diesen Wochen hochsensible Phase, in der das Unternehmen stecken würde: »Wissen Sie, wir haben viel zu viele Angestellte im Betrieb. Früher wurde, um des sozialen Friedens willen, nie jemand gekündigt. Jetzt steht eine große Entlassungswelle bevor.«

In der Zwischenzeit ist, ohne daß wir es bemerkt hätten, die Polizei verständigt worden. Der Sicherheitsbeamte will, daß ich das Objektiv meines Fotoapparates schließe; er traut sich nicht, ihn in die Hand zu nehmen. Drei Polizisten fahren in einem klapprigen »Jugo« der Firma Zastava vor, auch ein Werk, das 1999 von F-16-Fliegern der NATO in Schutt und Asche gelegt worden war. Personalien werden aufgenommen, Pässe fotokopiert, eine Art Festnahmebescheinigung zur Unterschrift vorgelegt. Dann geht es zur Polizeistation, wo sich ein ähnlicher Vorgang wiederholt. Diesmal wird meine Begleiterin, die mit der ganzen Sache eigentlich nichts zu tun hat, besonders penibel gefilzt, eine herbeigeholte Polizeibeamtin zieht sich vorsichtig Plastikhandschuhe über und amtshandelt entsprechend. Unsere Taschen werden geleert, nichts Auffälliges befindet sich zwischen Ersatzbrille, Büchern und Schreibgeräten.

Schon rechnen wir damit, daß es bald mit oder ohne Bußgeldzahlung – für den Fotoapparat bzw. den inkriminierten Film interessiert sich auf der Polizeistation niemand mehr – ein Ende haben wird. Mittlerweile sind bereits über zwei Stunden seit dem Delikt vergangen. Doch es gibt noch eine höhere hierarchische Stufe in der Bürokratie. Es geht, diesmal ohne polizeiliches Begleitauto, aber mit Polizisten, im eigenen PKW zur fremdenpolizeilichen Abteilung des Innenministe­riums in Pancevo. Zwei Herren in Zivilkleidung empfangen uns, einer spricht leidlich Englisch. Die Fragen wiederholen sich nun bereits zum dritten Mal. Und weil die Beamten sichtlich nicht wissen, was sie mit uns machen sollen und einen gefestigten politischen Eindruck machen, ändern wir die Strategie. Aus Touristen werden Journalisten. Nicht ganz zufällig habe ich ein paar Bücher von mir dabei, die vom Belgrader Verlag Filip Visnjic ins Serbische übersetzt worden sind. Darunter jenes im Jahr 2001 erschienene über den Balkankrieg: »Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens«. Der Beamte des Innenministeriums wirkt interessiert, als er die Seiten durchblättert, zunehmend sogar begeistert. Plötzlich beginnt er, seinem Kollegen aus meinem Buch vorzulesen. Meine Anti-NATO-Haltung findet in der serbischen Exekutive breite Zustimmung. Impressum und Autorenbiographie werden fotokopiert und dem Akt beigelegt. Dann meint der Beamte lächelnd, wenn wir nächstens wieder einmal Bilder der Pancevoer Chemiefabrik oder des Düngemittelwerkes bräuchten, sollten wir uns diese doch von der Internetseite Google Earth besorgen, gibt uns Pässe sowie Fotoapparat zurück und schüttelt uns zum Abschied freundlich die Hände.

Am Grab von Slobodan Milosevic

Vom 1718 abgeschlossenen Frieden zwischen den Habsburgern und dem Osmanischen Reich ist in Pozarevac nicht mehr viel zu sehen. Also beschließen wir, dem wichtigsten Serben der Stadt, der dem letzten Jugoslawien seinen Stempel aufgedrückt hat, unsere Ehre zu erweisen. Am städtischen Friedhof verneint ein Angestellter der Gärtnerei die Frage, in welcher Abteilung das Grab von Slobodan Milosevic zu finden sei. Der sei nicht hier, sondern zu Hause begraben. Unseren ungläubigen Blick beantwortet der freundliche Mann, indem er sich ins Auto setzt und uns den Weg zum Geburtshaus des im Gefängnis von Den Haag auf rätselhafte Weise verstorbenen letzten serbischen Präsidenten des 20. Jahrhunderts zu weisen. Vor einem großen grünen Tor macht er halt, meint, hier sei Milosevic’ Grab, und läßt uns zurück. Außer einer serbischen Fahne, die vor dem verschlossenen Anwesen auf hohem Mast weht, weist nichts auf irgend etwas Bedeutungsvolles hin. Wir treffen einen Gärtner, der wie ein Wachmann wirkt – es könnte auch umgekehrt sein – und auf unser Ansinnen, das Grab von Milosevic besuchen zu wollen, abwinkt. Das gehe nur sonntags, an Wochentagen gebe es keinen Zutritt. Unsere Beharrlichkeit und Überzeugungskraft machen aus der Regel, wie meistens in Serbien, eine Kann-Bestimmung. Nachdem wir den Fotoapparat und die Taschen auf Aufforderung abgelegt und versprochen haben, leise und andächtig zu sein, öffnet der Gärtner das grüne Tor. Dahinter breitet sich ein gepflegter Garten aus, Birnbäume säumen einen schmalen, mit Steinen ausgelegten Weg. Ein einfaches Grab, mit Blumen geschmückt, ist die letzte Ruhestätte jenes Mannes, den viele als Despoten und manche als Widerstandskämpfer gegen den Vormarsch der NATO sehen. »Slobodan Milosevic. 1941–2006« steht in goldgefaßter Schrift auf marmornem Stein zu lesen; daneben für seine Frau: »Mira Markovic. 1942 – ...«, ohne Sterbedatum, wie das überall in serbischen Familiengräbern der Brauch ist. Zum Schluß unseres Besuches heißt uns der Gärtner noch zwei Kerzen anzünden und entläßt uns ins postkommunistische Serbien.

Vergessene Flüchtlinge

Das Städtchen Negotin liegt zwischen dem Timok und der Donau, von beiden Flüssen einige Kilometern entfernt. Im Hotel Inex Krajina teilen sich die wenigen Gäste den Flur mit serbischen und Roma-Flüchtlingen aus dem Kosovo. Der größere Trakt des Gebäudes bietet auch sieben Jahre nach deren Vertreibung das Bild einer überfüllten Flüchtlingsherberge. In dicht beieinanderstehenden Doppelstockbetten leben einzelne Männer, aber auch ganze Familien mit ein wenig staatlicher Unterstützung und ohne Hoffnung auf Arbeit. In Negotin ist bereits seit mehreren Jahren kein Industriebetrieb mehr ansäßig. Die lokale Verteilerstelle von Jugopetrol wur-de – nach ihrer Zerstörung durch NATO-Flie-ger – zwar wieder aufgebaut, dennoch gibt es hier für Flüchtlinge nichts zu tun.

Im örtlichen Museum wird einem dann die geballte Geschichte dieses nach erstem Augenschein verlassen wirkenden Nestes gewahr. Zweimal in jüngerer Zeit herrschte der Wiener Hof über diesen 1 150 Flußkilometer von der Donaumetropole entfernten Ort: zwischen 1718 und 1739 und dann wieder zwischen 1789 und 1791. Diese »Österreichische Periode« bildete das historische Bindeglied von osmanischer Epoche, als der Landstrich gemeinsam mit nahen bulgarischen Gegenden unter der Bezeichnung »Vidinski Sandzak« von der Hohen Pforte verwaltet wurde, und der serbischen Staatlichkeit, zu der die Negotiner »Krajina« – Grenze – endgültig erst im Jahre 1833 dazustieß.

Am Hauptplatz des ostserbischen Mittelpunktsortes reckt sich in Bronze gegossen der Hajduke Veliko Petrovic auf dem Pferd. Zehn Jahre lang, zwischen 1804 und 1813, kommandierte er als militärischer Führer seine Mannen gegen die Türken, worauf die Bewohner Negotins noch heute stolz sind. »Ich werde eher meinen Kopf hergeben als die Krajina«, wird Petrovic gerne in der serbischen Geschichtsschreibung zitiert.

Beim Verlassen des Museums von Negotin fragen wir den einzigen Angestellten, der sich über eine Stunde lang mit uns unterhielt, ob er kein Eintrittsgeld verlange. »Manchmal schon«, antwortet der junge Mann, was soviel bedeutet wie: Für uns nicht. Wir haben seinen Ausführungen offensichtlich zu seiner vollsten Zufriedenheit und mit anerkennenswertem Interesse gelauscht.

* Dr. Hannes Hofbauer ist Historiker und Publizist aus Wien. Er bereist seit Jahren die osteuropäischen Länder

Aus: junge Welt, 9. und 10. November 2006



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