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Montenegro: Der sichere Sieg fand nicht statt

Hat Jugoslawien doch noch eine Zukunft?

Damit haben die wenigsten gerechnet: Die montenegrische Koalition des amtierenden Präsidenten Milo Djukanovic "Der Sieg gehört Montenegro", die in den Tagen und Wochen vor der Parlamentswahl so selbst- und siegessicher aufgetreten war, kam bei der Wahl am Sonntag (22. April 2001) auf vergleichsweise schlappe 42, 1 Prozent der Stimmen (35 Sitze). In einem Abstand von lediglich 5.000 Stimmen kam ihr mit 40,7 Prozent und 33 Sitzen die pro-jugoslawische Koalition der Sozialistischen Volkspartei (SNP) Predrag Bulatovics sehr nah. Für eine Regierungsmehrheit in Montenegro würden Djukanovic nun auch drei Abgeordnete zweier Albaner-Parteien - die natürlich einen strikt separatistischen Kurs fahren - nicht genügen. Er muss auf die Unterstützung des Liberalen Bundes (LS) - 7,7 Prozent der Stimmen und sechs Sitze -, einer Partei, die lange vor Djukanovic für Unabhängigkeit eintrat, bauen.

Dieses Wahlergebnis muss als politische Sensation gewertet werden. Es widersprach allen Prognosen, die auch hier zu Lande immer wieder kolportiert worden waren. Einen Tag vor der Wahl war noch folgendes Umfrageergebnis bekannt gegeben worden: Djukanovics Koalition "Der Sieg gehört Montenegro" konnte danach mit 47 Prozent der Stimmen rechnen, das Bündnis "Gemeinsam für Jugoslawien" kam danach auf 36 Prozent. (Süddeutsche Zeitung, 23.04.2001) Nun haben die einen fünf Prozent weniger, die anderen fünf Prozent mehr - bei einem Gemeinwesen von gerade einmal 650.000 Menschen eine beträchtliche Abweichung, wofür sich die Demoskopen eigentlich schämen müssten. Aber auch die vollmundigen Verheißungen der Politiker haben nicht gehalten, was sie versprachen: Der Berater des Präsidenten, Miodrag Vukovic hatte vor der Wahl mehrmals mit erhobenem Daumen verkündet, dass alles auf eine "absolute Mehrheit" der Djukanovic-Koalition hinauslaufe. Davon ist die Koalition weit entfernt. Auf eine absolute Mehrheit im Parlament kann sie nur kommen, wenn sie sich mit einer Reihe anderer Parteien zusammenschließt.

Erst nach einigen Stunden Stimmenauszählung trat Djukanovic in der Nacht zum Montag vor seine Anhänger trat und erklärte: "Wir haben gesiegt" und es sei "ein großer Schritt zu einem unabhängigen Montenegro getan". Im Parlament gebe es nun eine "Übermacht" der Parteien, die für Unabhängigkeit einträten. Bei nüchterner Betrachtung schmilzt diese "Übermacht" aber auf ein normales Maß zusammen, insbesondere wenn es um eine so entscheidende Frage wie die eines Austritts aus einer Bundesrepublik und der Gründung eines neuen Staates geht. Eine Zweidrittel-Mehrheit sowohl im Parlament als auch bei einem Plebiszit wäre da doch das Mindeste, was man verlangen könnte. Weder ist das eine noch das andere in Sicht, und dennoch beeilte sich der Präsidentenberater nach der Wahl zu erklären, Montenegros Unabhängigkeit - und damit das Ende des Bundesstaates Jugoslawiens - sei beschlossene Sache. Und er fügte hinzu: Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament sei für die Abspaltung nicht erforderlich. Der Führer des projugoslawischen Bündnisses, der jugoslawische Ministerpräsident Zoran Zizic, sah das anders: "Sie werden .. sicherlich nicht die Zweidrittelmehrheit gewinnen, mit der nach einem Referendum rechtmäßig die Unabhängigkeit erklärt werden kann", sagte er vor der Wahl.

Nach Agenturberichten beherrschten in der Nacht nach der Wahl Anhänger der pro-jugoslawischen Koalition die Straßen, während sich die Anhänger Djukanovics zerstreuten. Der SNP-Vorsitzende Predrag Bulatovic sagte im Fernsehen, die beiden politischen Lager in Montenegro seien "Gegner, keine Feinde". Er äußerte außerdem "Zweifel" an der Rechtmäßigkeit der Wahlergebnisse. In der Tat waren verschiedentlich Kommentare zu hören gewesen, die behaupteten, Djukanovic verstände es, Wählerstimmen in die eigene Tasche zu "wirtschaften". In Belgrad erklärte der serbische Parlamentspräsident Dragan Marsicanin aus der Partei des jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica, die montenegrinische Wahl habe ein "scharfes Gespaltensein" der Bevölkerung Montenegros gezeigt. Ein Referendum unter diesen Umständen auszuschreiben, wäre "unlogisch und gefährlich". Sprecher der in Belgrad regierenden Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) erklärten, damit habe sich das geplante Unabhängigkeitsreferendum erledigt.

Das Ausland rudert zurück

Solange Slobodan Milosevic Staatspräsident Jugoslawiens war, wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen in Podgorica im westlichen Ausland wohlwollend begleitet. Djukanovic wurde bereits wie der Regierungschef eines selbstständigen Staates behandelt, und auch die ökonomischen Weichen wurden - etwa mit der Einführung der DM als alleingültiger Währung in Montenegro - eindeutig auf eine Loslösung von Jugoslawien gestellt. Der Außenminister Montenegros (das gab es also auch schon), Branko Lukovac, sagte vor der Wahl: "Wir wollen es nicht mehr hinnehmen, dass Entscheidungen über unser Leben und unsere Zukunft woanders gefällt werden." Der Mann muss aufpassen, dass er nicht vom Regen in die Traufe kommt. Denn eine - gewisse - Abhängigkeit vom nahen Serbien, mit dem viele verwandtschaftliche Beziehungen bestehen, könnt sich als lebensnäher heraussstellen als eine - wenn auch freiwillig eingegangene - Abhängigkeit vom fernen "Westen": von Brüsel und Berlin etwa oder von Washington.

Doch so weit ist es nicht. Berlin und die anderen Hauptstädte der Europäischen Union sind längst nicht mehr so anerkennungssüchtig wie in den neunziger Jahren, als Slowenien, Kroatien und Bosnien in die Unabhängigkeit gelotst - später auch gebombt - wurden. An Montenegro zeigen sich bilderbuchhaft die Kurzatmigkeit und der Opportunismus der westlichen Politik gegenüber Jugoslawien: Milosevic reichte als Grund dafür, einen Vielvölkerstaat zu zerschlagen und Montenegro in die Unabhängigkeit zu locken. Seit dem Sturz von Milosevic warnen die EU und die USA vor einer Unabhängigkeitserklärung. Diese könnte weitere Abspaltungsversuche - und damit auch blutige Konflikte - insbesondere im Kosovo auslösen, so heißt es plötzlich. Als hätten die bereits erfolgten Sezessionen der früheren Teilrepubliken nicht auch zu den gleichen schrecklichen Resultaten geführt! Doch diese blutigen Konflikte waren gerechtfertigt, weil es ja um Milosevic ging. Doppelzüngig auch die Berufung auf das "Selbstbestimmungsrecht" der Völker, das offenbar nur unter bestimmten Regierungs- und Machtkonstellationen (Milosevic!) gilt. Ohne Milosevic keine Berufung mehr auf das Recht auf Unabhängigkeit!? Bundesaußenminister Fischer rief jedenfalls am Tag nach der Wahl Belgrad und Podgorica zur unverzüglichen Aufnahme von Gesprächen über eine "gemeinsame Zukunft" auf. In dasselbe Horn stieß der "Koordinator" des Südosteuropa-"Stabilitätspakts" Bodo Hombach, als er einen "Dialog" über die Verfassung forderte.

Die Wahlbeteiligung unter den 448.000 Stimmberechtigten Montenegros war mit 81 Prozent außergewöhnlich hoch. Dies zeigt, dass dieser Wahl nicht nur die Funktion zukam, ein neues Parlament zu wählen, sondern dass es in gewisser Weise schon ein vorgezogenes Referendum über die Unabhängigkeit war. Deren Verfechter haben trotz ihrer absoluten Mehrheit eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Eine staatliche Separation lässt sich kaum gegen (fast) die Hälfte der Bevölkerung durchziehen, auch wenn das der gegenwärtige Präsident Djukanovic, der seine politische Karriere ganz mit der Unabhängigkeit verknüpft hat, so vorhat. Es ist zur Zeit ruhig in Montenegro, es wird aber nicht ruhig bleiben, wenn die Unabhängigkeit durchgepeitscht werden sollte. Und die Wirkung auf die übrigen Regionen im ehemaligen Jugoslawien könnte verheerend sein, insbesondere auf Bosnien, wo gegenwärtig vor allem die nationalistischen Kroaten zündeln, und auf das Kosovo und auf Makedonien, wo die UCK-Nationalisten jederzeit wieder auf ihr "Recht" auf Sezession pochen können. Solche Aussichten auf einen unruhigen und kriegerischen südlichen Balkan verderben auch dem Westen den Spaß an dem gewonnenen Terrain. Sie wären dem eigenen Publikum auch kaum noch zu vermitteln, wo doch der Hauptschuldigeseit Monaten entmachtet und seit Wochen in Belgrad hinter Gittern sitzt.
Pst



Peter Münch über den "Machtkämpfer" Milo Djukanovic

... Die Unabhängigkeit ist seine Mission – heutzutage jedenfalls.

Dass sich der gerade einmal 39-Jährige zum Vater der montenegrinischen Wiedergeburt stilisieren will, passt zur Karriere des Milo Djukanovic, der schnell aufstieg und ebenso schnell seine Positionen wechselte. Zu every body’s darling im Westen wurde er nach dem 1997 vollzogenen Bruch mit dem Belgrader Despoten Slobodan Milosevic im zeitlichen Umfeld des Kosovo-Krieges. Da brillierte der rhetorisch gewandte und durchaus charismatische Djukanovic in der Rolle des aufrechten Demokraten, der sein Land mit internationaler Unterstützung aus der serbischen Umklammerung lösen wollte. Der Westen zeigte sich dankbar und von seiner großzügigen Seite: Die Finanzhilfe floss reichlich nach Montenegro, und politisch erntete Djukanovic Sympathie für seinen Drang nach nationaler Selbstständigkeit.

Doch es war wohl nicht zuletzt der dunkle Schatten Milosevics, der seinen Gegenspieler als Lichtgestalt erscheinen ließ. Denn nach dem Abgang des Despoten strahlt Djukanovic wieder das aus, was ihn schon in jungen Jahren nach oben gebracht hatte: Den harten und unbedingten Willen zur Macht. Gegen den erklärten Willen seiner westlichen Gönner, die die demokratische Wende in Belgrad nicht gefährden wollen, verfolgt er weiter seinen Unabhängigkeitskurs und entlarvt damit seine persönlichen Ambitionen.

Die hat er bislang immer zu befriedigen gewusst. Der Spross einer alteingesessenen montenegrinischen Familie war mit 17 Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei geworden und nach dem Wirtschaftsstudium zielstrebig in die Politik eingestiegen. Im Schlepptau der Machtübernahme Milosevics in Serbien drängte er in Montenegro nach vorn. Seiner Art der Abrechung mit Altfunktionären der KP verdankte er den Spitznamen britva, das Rasiermesser. Als im Kroatien-Krieg von Montenegro aus Dubrovnik beschossen wurde, war der damals 29-jährige Djukanovic als treuer Gefolgsmann Milosevics gerade Premierminister.

Kürzlich hat er sich dafür im Namen Montenegros beim kroatischen Präsidenten Stipe Mesic entschuldigt. Auch dies sollte als Beleg dafür gelten, dass der junge Heißsporn, der in der Zeit des Jugoslawien-Embargos mit Schmuggel-Geschäften zu einem der reichsten Männer Montenegros geworden sein soll, zu einem wahren Staatsmann gereift ist. Das einzige, was Djukanovic noch fehlt, ist der eigene Staat.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 23. April 2001

Werner Pirker kommentierte in einer anderen Zeitung einen Tag vor der Wahl:

Die Anhänger der montenegrinischen Eigenstaatlichkeit messen nicht zum ersten Mal ihre Kräfte mit den Serbophilen und/oder Jugoslawisten. Seit der Befreiung Serbiens vom osmanischen Joch stellte sich die montenegrinische Schicksalsfrage: Eigenständigkeit oder Vereinigung mit Serbien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie im jugoslawischen Sinn, der Vereinigung aller Südslawen, entschieden. Im »Staat der Serben, Kroaten und Slowenen«, dem späteren »Königreich Jugoslawien«, war Montenegro ebenso wie Mazedonien ein Teil Serbiens. Die mehrheitlich integrationistisch eingestellten Montenegriner empfanden dies nicht als Herabwürdigung. In ihrem Selbstverständnis waren sie die Nachfahren der serbischen Helden vom Amselfeld, die sich in die Schwarzen Berge zurückgezogen hatten, wo sie der osmanischen Herrschaft widerstanden. Daraus ergab sich ein doppeltes nationales Bewußtsein: ein militant serbisches und ein spezifisch montenegrinisches. Die projugoslawischen Kräfte, für die Montenegro das gegen jede Fremdherrschaft widerständige Serbien verkörperte, wurden »Weiße«, die Befürworter eines unabhängigen Montenegros »Grüne« genannt. Im Volksbefreiungskrieg waren die weißen Montenegriner die ersten, die zu roten Partisanen wurden, während die Grünen mit den italienischen Besatzern kollaborierten.

Grün oder Weiß, lautet auch diesmal die Wahl. Die Grünen wollen einen unabhängigen Staat von des Westens Gnaden, die Weißen um die Sozialistische Volkspartei (SNP) kämpfen um den Fortbestand Jugoslawiens. Die SNP war die montenegrinische Auflage der Milosevic-Partei, die nach dem 5. Oktober das sinkende Schiff verließ und mit der serbischen DOS eine Koalition einging. Ihr Jugoslawien, um das sie kämpft, ist zum Anachronismus geworden. Was heute von Belgrad repräsentiert wird, ist ein Jugoslawien ohne jugoslawische Werte. Für ein seiner Unabhängigkeit und Blockfreiheit beraubtes Jugoslawien läßt sich keine Mehrheit mehr finden.

Der separatistische Wahn hat damit eine Eigendynamik erlangt, die der westlichen Befriedungsstrategie noch schwere Probleme bereiten könnte. Nicht nur die albanische Sezession im Kosovo erhielte durch die Lostrennung Montenegros neuen Auftrieb, auch das fragile Dayton-Konstrukt dürfte den Zentrifugalkräften auf Dauer kaum standhalten. So ist das mit dem Fluch der bösen Tat.

Aus: junge welt, 21. April 2001



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