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"Sarajevo war wie Beirut"

Jugoslawien-Tribunal: Radovan Karadzic stellt seine Sicht des Bosnien-Kriegs dar. Verfahren "auf unbestimmte Zeit" vertagt

Von Arthur Max (apn), Den Haag, und Gloria Fernandez *

Das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag (ICTY) versucht, den Schein der Fairneß zu wahren. Am Dienstag unterbrach das dortige Gericht den Prozeß gegen Radovan Karadzic »auf unbestimmte Zeit« und entsprach damit dem Antrag des ehemaligen Präsidenten der bosnisch-serbischen Republik. Der Vorsitzende Richter O-Gon Kwon erklärte, er wolle zunächst eine Entscheidung der Berufungskammer des Tribunals abwarten.

Zuvor hatte der Angeklagte Beschwerde gegen die Entscheidung des Gerichts eingelegt, daß sein Antrag auf eine Vertagung des Prozesses bis Juni abgewiesen worden war. Karadzic hatte argumentiert, mehr Zeit für die Durcharbeitung der über eine Millionen Seiten Dokumente und Unterlagen zu brauchen, die ihm von der Anklage vorgelegt worden waren. Zudem müsse er sich auf die Anhörung von Zeugen der Staatsanwaltschaft vernünftig vorbereiten können. Eben diese sollte am heutigen Mittwoch beginnen. Er bedauere die Umstände, die seine Entscheidung den bereits geladenen Zeugen bereite, sagte Richter O-Gon. Daß sich Karadzic ausreichend vorbereiten könne, gehöre aber zur »Fairneß« des Verfahrens.

Am Dienstag (2. März) hatte Karadzic die tags zuvor begonnene Verteidigungsrede mit einer ausführlichen Darstellung seiner Haltung zum Krieg in Bosnien-Herzegowina (BiH), in dem zwischen 1992 und 1995 Zehntausende Menschen starben, fortgesetzt und abgeschlossen. Die in Bosnien-Herzegowina lebenden Serben seien, so Karadzic, Opfer von »staatlich unterstütztem Terrorismus«, der nach der Unabhängigkeitserklärung der bosnischen Muslime Anfang März 1992 begonnen habe. So habe es 1992 nahezu stündlich Angriffe auf Serben gegeben, darunter eine Kirche und eine Hochzeitsgesellschaft. Zusammen mit anderen Politikern der Serbisch-demokratischen Partei (SDS) habe er versucht, »das serbische Volk vor seinem eigenen Staat zu schützen«.

Der 64jährige wandte sich erneut gegen den Vorwurf, er habe die muslimische und die kroatische Bevölkerung vertreiben wollen. Zweimal stand Karadzic auf, um anhand einer Karte von Sarajevo die spezielle Lage der Vielvölkerstadt darzustellen. »Ich habe 50 Jahre meines Lebens dort verbracht.« Sarajevo sei im Bosnien-Krieg keine belagerte Stadt gewesen, sondern »eine geteilte Stadt wie Beirut«. Auch die bosnischen Serben seien eingeschlossen gewesen, innerhalb wie außerhalb der Stadt.

Ausführlich ging Karadzic auf das »Massaker von Srebrenica« im Juli 1995 ein, das unter anderem ihm ebenso angelastet wird wie der Beschuß von Sarajevo. Die Berichte über die Ereignisse dort seien »maßlos übertrieben«. Die serbische Seite hätte damals auf Angriffe von muslimisch-bosnischen Kampfgruppen reagiert. Dabei seien »höchstens 2000 bis 3000« Menschen getötet worden, »aber keineswegs 8372, wie dies auf einem Gedenkstein behauptet wird«. Viele der später ausgegrabenen Leichen seien vermutlich aus anderen Kampfgebieten in die Gegend gebracht worden, meinte Karadzic. Er verlangte neue Untersuchungen, die sich unter anderem auf DNA-Analysen stützen müßten. Als »bösartige Propaganda« wertete er den Vorwurf, daß auch junge Männer grundlos erschossen wurden. Vielmehr habe er seinerzeit eindeutige Befehle gegeben, »keine Rachemorde an Muslimen zuzulassen«.

»Ich stehe hier heute nicht nur, um mich als sterblicher Mensch zu verteidigen. Ich stehe heute hier, um mein Volk, eine kleine Nation, die fünf Jahr­hunderte lang gelitten hat, zu verteidigen«, hatte der Expräsident der bosnischen Serben zu Beginn seiner Verteidigungsrede erklärt. Karadzic war im Juli 2008 nach 13 Jahren in Belgrad verhaftet und kurz danach nach Den Haag ausgeliefert worden. Ihm droht für den Fall einer Verurteilung lebenslange Haft.

* Aus: junge Welt, 3. März 2010


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