Kosovo: Parlamentswahlen im Protektorat - Die Illusion der Selbstbestimmung
Ein Schritt zur Unabhängigkeit?
Kurz vor den Parlamentswahlen im Kosovo erschien in der Schweizer Wochenzeitung ein interessanter Hintergrundartikel über die isolierte Situation der Minderheiten im UN-Protektorat. Entscheidungen über die Zukunft der Region müssen bald fallen, damit unkontrollierte Entwicklungen und größere Konflikte mit der UN-Verwaltung vermieden werden, sagt der Autor Andreas Ernst.
Wer in diesen nebligen Vorwahltagen durch den Kosovo fährt und
Vergleiche anstellt mit der Lage vor einem Jahr, kommt erst einmal zu
einer positiven Bilanz. Die Kriegsspuren sind um ein weiteres Stück
beseitigt, tausende von Minen zerstört und ebenso viele Gebäude wieder
instand gestellt. Viele Hauptstrassen haben frische Beläge, was sie
allerdings nicht sicherer macht, denn viele Autofahrer rasen nun noch
schneller über die von Schlaglöchern befreite Piste. Man kommt also recht
flott voran, aber – und das ist die wirkliche Neuigkeit – es kann geschehen,
dass einen ein Verkehrspolizist anhält, höflich eine saftige Busse
aufbrummt und dafür sogar eine Quittung ausstellt. In der Hauptstadt
Pristina schwindet die Euphorie über solche zivilisatorischen
Errungenschaften schnell. Die Strassen sind hoffnungslos verstopft,
Parkplätze gibt es keine, Abfallberge türmen sich in den Hinterhöfen, und
sowohl die Strom- wie auch die Wasserversorgung brechen immer wieder
zusammen. Die wirtschaftliche Erholung, von der Beamte der
Uno-Übergangsverwaltung Unmik gelegentlich sprechen, ist eine
Schimäre. Noch gibt es kaum Produktionsbetriebe, und ein Grossteil des
Dienstleistungssektors hängt vom Geld der internationalen Organisationen
oder der albanischen Diaspora ab. Vor allem in der Schattenwirtschaft mit
ihrem fliessenden Übergang in den kriminellen Untergrund blühen die
Geschäfte. Die offizielle Arbeitslosigkeit wird mit 50 Prozent veranschlagt.
Neben der misslichen wirtschaftlichen Lage gilt die Hauptsorge der
Menschen der persönlichen Sicherheit. Eine aktuelle repräsentative
Umfrage der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa) mit dem eigenartigen Titel «Kosovo-Sorgen» kommt zum Schluss,
dass Recht und Ordnung an oberster Stelle der BürgerInnenwünsche
stehen. Dann folgen Erziehung und das Gesundheitswesen. Getrennt von
den zwei Millionen AlbanerInnen wurde auch die serbische Minderheit
befragt, die heute um einen Drittel dezimiert noch etwa 100 000 Menschen
zählt. Das Resultat überrascht nicht: Hauptsorge bilden Grundrechte wie
jenes auf persönliche Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit, gefolgt von
der Gesundheitsversorgung (die in den Minderheiten-Enklaven besonders
schlecht ist) sowie Erziehung und Arbeitslosigkeit. Die Uno-Verwaltung hat
einiges unternommen, um den miserablen Zustand von Justiz und Polizei
zu verbessern. Aber die Resultate sind bisher wenig ermutigend. Ein Jurist
des OSZE-Büros in Mitrovica zieht eine düstere Bilanz: «Das
Justizsystem funktioniert in der Praxis schlecht. Bis vor kurzem wussten
die Richter buchstäblich nicht, welche Gesetzbücher sie konsultieren
sollten, die alten jugoslawischen aus der Zeit des autonomen Status oder
die neueren serbischen, die viele per se ablehnten. Oft ist auch das
Verhältnis dieser Kodexe zu den Unmik-Regulationen unklar.»
Isolierte Minderheiten
Die Lage der Minderheiten ist nach wie vor prekär. Der Rückgang
rassistisch motivierter Kriminalität wird von vielen BeobachterInnen mit der
verschärften Segregation begründet; vor allem die SerbInnen leben
abgeschirmt in ihren ghettoähnlichen Enklaven. In einigen ländlichen
Gebieten wurden im Sommer allerdings systematische Raubzüge an Vieh
und Gerätschaften unternommen. Ein Bericht des Uno-Flüchtlingswerks
vermutet dahinter den Versuch, die ethnischen Säuberungen zu vollenden,
indem die wirtschaftliche Grundlage der serbischen und anderen
Minderheiten geschwächt und diese zur Abwanderung gezwungen werden.
Der «Sorgenkalender» der OSZE verfolgte nicht zuletzt die Absicht, die
politischen Agenden der kosovo-albanischen Parteien zu beeinflussen.
Denn diese beschränken sich in der Regel auf die Forderung nach
Unabhängigkeit. Wenige Tage vor der Parlamentswahl an diesem Samstag
hat sich das kaum geändert. In den Vordergrund gerückt werden hingegen
die persönlichen Qualitäten der KandidatInnen. So rief der Führer der
Allianz für die Zukunft Kosovos (AAK), Ramush Haradinaj, seinen
AnhängerInnen an einer Versammlung zu: «Wenn einer euch fragt,
weshalb er AAK wählen soll, sagt ihm nicht, wir seien die besten
Patrioten. Denn alle Albaner sind Patrioten. Aber sagt ihm, Haradinaj steht
morgens früher auf und er arbeitet mehr als Thaci und Rugova.» Das sind
neue und geradezu puritanische Töne des ehemaligen Kommandanten der
UCK, der bisher eher den Ruf eines Raufbolds hatte.
Für landesübliche Verhältnisse verläuft der Wahlkampf friedlich. Es war
denn auch nicht der Wahlkampf, sondern ein Dokument, das die Gemüter
des kosovo-albanischen Politestablishments in Wallung brachte. In dem
Papier, das der Unmik-Chef Hans Haekkerup mit dem stellvertretenden
Ministerpräsidenten der jugoslawischen Teilrepublik Serbien, Nebojsa
Covic, ausgehandelt hatte, werden Massnahmen zur Verbesserung der
Lage der serbischen Minderheit im Kosovo angekündigt. Insbesondere wird
festgehalten, dass die Bestellung eines kosovarischen Parlaments
keineswegs der erste Schritt zur formalen Unabhängigkeit des Kosovo sei,
der gemäss Uno-Resolution 1244 noch immer ein Bestandteil
Jugoslawiens ist. Das Dokument war die entscheidende Voraussetzung
dafür, dass Belgrad die Kosovo-SerbInnen aufforderte, an den
Parlamentswahlen teilzunehmen, um durch institutionalisierte
Zusammenarbeit ihre Lage zu verbessern. Wie gross der Wähleranteil bei
der frustrierten und demoralisierten serbischen Bevölkerung sein wird, ist
offen – ihre Führer haben ganz unterschiedlich auf den Aufruf Belgrads
reagiert. Unisono war dagegen das Echo von albanischer Seite. Zwar
befürworten die drei grossen Parteien (vgl. Kasten) den serbischen
Urnengang. Die Äusserung Covics, damit sei Belgrad wieder ein Stück
näher an Pristina gerückt, wurde aber empört zurückgewiesen. «Wir sind
seit 1991 unabhängig», beschied Ibrahim Rugova, «und haben seither
unsern Staat aufgebaut – der unabhängige Kosovo ist ein Fait accompli!»
Für Hashim Thaci ist das Dokument der Ausfluss des von der Uno im Mai
beschlossenen «Verfassungsrahmenwerks für provisorische
Selbstverwaltung», eines Quasigrundgesetzes, das demokratische
Strukturen definiert, in entscheidenden Fragen aber die Exekutivgewalt
beim Unmik-Chef belässt. Haekkerup beeilte sich, Covic zu widersprechen
– wenn auch nicht wirklich: Das Dokument befasse sich nicht mit der
Zukunft, sondern bekräftige den gegenwärtigen Stand. Aber dieser wird
durch die Uno-Resolution 1244 definiert, welche die Unabhängigkeit
ausschliesst. Süffisant liess sich Covic vernehmen, es sei nun an den
politischen Führern der Kosovo-AlbanerInnen, ihrer Wählerschaft reinen
Wein über den Status der Provinz einzuschenken.
Jedem seine Interpretation
Nicht nur das Belgrader Dokument wird ganz unterschiedlich interpretiert.
Dramatischere Folgen dürften die verschiedenen Einschätzungen beim
«Verfassungsrahmenwerk» haben, das nach eingeschränkten
Konsultationen mit der kosovo-albanischen Politikerelite und ohne deren
Segen beschlossen worden war. Gemäss dieser Quasiverfassung wird das
am 17. November gewählte Parlament, mit wenigen garantierten Sitzen für
die Minderheit, einen Präsidenten des Kosovo wählen, der seinerseits
einen Ministerpräsidenten und eine Regierung ernennt. Diese Regierung
führt im Wesentlichen die innenpolitischen Geschäfte, kümmert sich um
wirtschaftliche Fragen sowie um das Erziehungs-, Justiz- und
Medienwesen. Aber die Regierungsgewalt bleibt in engen Grenzen, denn
der Chef der Uno-Verwaltung kontrolliert weiterhin das Budget, regelt alle
Aussenbeziehungen sowie das Verhältnis zur internationalen
Kosovo-Streitmacht Kfor. Mehr noch: Er kann das Parlament auflösen und
Neuwahlen ausschreiben. Kosovo-albanische KritikerInnen bezeichnen
dieses Arrangement als kolonialistisch und monieren, dass es sogar noch
hinter der «substanziellen Autonomie» zurückbleibe, welche die Resolution
1244 vorsehe. In der Bevölkerung ist dagegen die von PolitikerInnen und
Medien verkündete Ansicht verbreitet, man wähle nun Parlament und
Präsident als ersten Schritt zur Unabhängigkeit. Mit grosser
Wahrscheinlichkeit dürfte das Modell, im politischen Alltag mit ganz
unterschiedlichen Ansprüchen und Interessen konfrontiert, zu permanenten
Reibereien zwischen der quasiautonomen Regierung und dem
übergeordneten Souverän in Gestalt Haekkerups führen. Schon mit Blick
auf ihre Wählerschaft werden sich die PolitikerInnen so wenig wie möglich
einschränken lassen wollen, um wenigstens die Illusion der
Selbstbestimmung zu wahren.
Vorschläge über Vorschläge
Natürlich gibt auch jenseits der Verpflichtungen der Uno-Resolution 1244
Argumente, die gegen die Selbstverwaltung des Kosovo sprechen. Dazu
zählen vor allem die fehlende Rechtssicherheit und die Verfolgung der
Minderheiten. Andererseits hat das Protektoratsregime genau diese
Minimalstandards in mehr als zwei Jahren auch nicht erreicht. Und es
deutet wenig darauf hin, dass sich das ändern könnte. Vor diesem
Hintergrund hat die auf Initiative der schwedischen Regierung gegründete
Unabhängige internationale Kosovokommission – den Vorsitz hat der
südafrikanische Richter Richard Goldstone – erneut vorgeschlagen,
Kosovo in die «bedingte Unabhängigkeit» (conditional independence) zu
entlassen. Darunter versteht sie die graduelle Übergabe von
Souveränitätsrechten des Unmik-Chefs an die Regierung, sowohl bei den
Finanzen und im öffentlichen Dienst wie auch bei der Polizei. Auch die
Aussenbeziehungen sollten die KosovarInnen selber bestimmen. Der
Kosovo müsse gute Beziehungen mit Serbien und Mazedonien aufbauen,
verlangt die Kommission. Ohne Selbstverantwortung fehle dafür aber der
Anreiz. Die Kommission möchte diesen Machttransfer allerdings an
Bedingungen knüpfen: keine Grenzänderungen (abgesehen von der selber
vollzogenen Abspaltung von Jugoslawien), Aufgabe der Maxime «eine
Nation – ein Land», Rechtsgleichheit für Minderheiten und
Rückkehrmöglichkeit für 200.000 vertriebene SerbInnen und Roma, Absage
an Gewalt als Mittel der Politik und Mithilfe am Aufbau neuer regionaler
Strukturen.
Was man diesem Plan zugute halten muss, ist die Überwindung der
Denkblockade bei BefürworterInnen und GegnerInnen der Unabhängigkeit,
die zum Stillstand der Diskussion geführt hat. Nichts aber ist so gefährlich
wie der Aufschub der Entscheidung über die Zukunft des Kosovo. Der
Status quo lädt politische und vor allem militärische «Unternehmer»
geradezu ein, ihr Glück direkt «auf dem Terrain» zu versuchen,
Einflusssphären auszuweiten und gegebenenfalls durch militärische
Tatsachen Grenzänderungen faktisch durchzusetzen – in der Hoffnung,
dass ihre internationale Legitimierung folgt. Das sind keine
Planspielereien, sondern Entwicklungen, die sich in Westmazedonien und
Südserbien in den vergangenen Monaten beobachten liessen.
Die wohl wichtigste Bedingung für eine friedliche Lösung der Kosovofrage
ist die Einbindung des Kosovo in ein regionales Netzwerk. Dazu hat der
Stabilitätspakt zwar den Weg gewiesen, ist aber nicht recht vom Fleck
gekommen. Er setzt bei der regionalen Integration von Handel und
Infrastruktur und somit beim Eigeninteresse der Beteiligten an und umgeht
vorerst die leidigen Blut-und-Boden-Fragen der IdentitätspolitikerInnen. Um
auch im politischen «Überbau» voranzukommen, hat kürzlich die
FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages eine Konferenz für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Südosteuropa unter der Schirmherrschaft der
OSZE vorgeschlagen. Mit Perspektive auf eine euroatlantische Integration
sollen sich die Beteiligten auf Massnahmen und Standards in
Minderheitenfragen, Rechtsstaat und Konfliktlösung einigen. Ob eine
solche Grosskonferenz der beste und schnellste Weg zum Ziel ist, sei
dahingestellt. Aber statt die beteiligten Länder einzeln nach «Brüssel» zu
schicken, würden sie angehalten, multilaterale Vertragswerke
abzuschliessen, welche die Balkanstaaten untereinander und mit Brüssel
verbinden würden. Der schnellste Weg nach Europa führt wahrscheinlich
über innerbalkanische Brücken und den Aufbau einer europäischen
Balkanregion.
Andreas Ernst, Pristina
Aus: WoZ, 15. November 2001
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