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Völkerrecht gegen Fisch

Der Westsahara-Konflikt und die Interessen von EU und Bundesregierung

Von Sevim Dagdelen *

Die Zahl der Todesopfer im Zusammeng mit dem Massaker marokkanischen Militärs im saharauischen Protestlager nahe der Stadt Al-Aaiún ist nach Angaben der Befreiungsbewegung für die Westsahara, Polisario, vom Mittwoch auf 19 gestiegen. Dutzende Menschen wurden verletzt. Am Montag hatten Sicherheitskräfte mit Tränengas und Wasserwerfern das Lager angegriffen und teilweise niedergebrannt. Es war just der Tag, an dem unter Vermittlung der UN wieder Verhandlungen zwischen der marokkanischen Regierung und der Polisario in New York beginnen sollten. In den Lagern hielten sich bis zu 20000 Saharauis auf, um gegen ihre Diskriminierung unter marokkanischer Besatzung zu protestieren.

Die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahra durch Marokko seit 1975 und dessen Blockadehaltung gegenüber einem seit 1991 vorgesehenen Referendum über die Unabhängigkeit zog niemals ernsthafte Konsequenzen nach sich. Im Gegenteil: Das Land genießt in der EU-Nachbarschaftspolitik einen hervorgehobenen Status und erhielt in diesem Rahmen eine Milliarde Euro allein zwischen 2007 und 2010. Die marokkanischen Sicherheitskräfte, darunter Gendarmerieeinheiten, wie sie bei der Räumung des Lagers zum Einsatz kamen, werden von den USA, der EU und Deutschland ausgebildet und ausgerüstet. Die einseitige Parteinahme Brüssels kam in der gemeinsamen Erklärung der EU und Marokkos vom 7. März 2010 deutlich zum Ausdruck, wo beide eine gemeinsame Position zum Westsahara-Konflikt formulierten. Von Unabhängigkeit oder dem beschlossenen Referendum ist dort ebensowenig die Rede wie im jüngsten Bericht des UN-Generalsekretärs.

Auch die UN haben längst ihre Bemühungen aufgegeben, das in der Resolution 690 von 1991 vorgesehene Referendum durchzuführen, weil die relevanten westlichen Staaten sich weigern, Druck gegen Marokko aufzubauen. Im Gegenteil: Marokko macht sich zum willfährigen Vollstrecker von deren Interessen in der Region: Es schiebt unerwünschte Flüchtlinge in die Wüste ab und jagt angebliche Terroristen im Auftrag von EU und USA. Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara wurden quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflotten und internationalen Konzernen preisgegeben. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) erstellt wurde und ganz selbstverständlich Standorte in der Westsahara mit einschließt, kommt den europäischen Interessen entgegen: Er sieht die Einführung und Privatisierung erneuerbarer Energien durch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vorstufe des DESERTEC-Projektes gelten. Der Plan des von deutschem Großkapital dominierten und von der Bundesregierung unterstützten Projekts besteht darin, bis 2050 15–20 Prozent der in Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen in Nordafrika zu beziehen. Ohne Befragung und Hinzuziehung der einheimischen Bevölkerung bei den Planungen.

Während für kolonialisierte Völker wie die Saharauis unzweifelhaft ein Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit existiert, wird dieses für andere Territorien völkerrechtswidrig schlicht herbeigelogen und gewaltsam durchgesetzt. Im Sudan, am anderen Ende der Sahara, treiben Bundesregierung, EU und USA die Abspaltung des ölreichen Südsudan mit aller Gewalt und Höchstgeschwindigkeit voran. Seit der unter militärischem Druck erzwungenen Unterzeichnung des sogenannten »umfassenden Friedensabkommens« (CPA) 2005 wurde von einem Internationalen Haftbefehl gegen den Präsidenten bis hin zu einem EU-Militäreinsatz im benachbarten Tschad nichts unversucht gelassen, um die Zentralregierung zu destabilisieren, und im Süden ein neuer Staat aufgebaut wiederum unter kräftiger Beihilfe der deutschen GTZ. Im September gründete sich unter Leitung des deutschen Konzerns ThyssenKrupp ein Konsortium, das zukünftig den Abtransport des südsudanesischen Erdöls unter Umgehung des Nordsudans über die Ostküste Kenias durch eine neue Eisenbahnlinie gewährleisten will.

»Die Bundesregierung ergreift im Westsahara-Konflikt nicht Partei«, lautete die Antwort von Staatssekretär Dr. Wolf-Rithart Born auf die Frage nach der Position der Bundesregierung angesichts der jüngsten Vorfälle. Wenn es um Kapitalinteressen geht, gibt es für die Bundesregierung offenbar weder das Völkerrecht noch Menschenrechte.

* Unsere Autorin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages und Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion.

Aus: junge Welt, 11. November 2010



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