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Massakrierte Glaubwürdigkeit

MEDIENgedanken: Vermeintliche Augenzeugenberichte und journalistische Sorgfaltspflicht

Von Harald Neuber *

Die Nachricht versprach der Indigenen- und Menschenrechtsorganisation Survival International maximale Medienaufmerksamkeit: Im Süden Venezuelas sei eine Gruppe von Mitgliedern der Yanomami-Volksgruppe von Goldschürfern brutal ermordet worden, berichtete die Organisation mit Hauptsitz in London am 29. August. Augenzeugen hätten in der verlassenen Amazonas-Gemeinde Irotatheri »verkohlte Körper und Knochen« gefunden, hieß es in der Mitteilung, deren Duktus nur wenig Zweifel an dem Geschehen aufkommen ließ.

Der Fall fand umgehend nicht nur Eingang in die internationale Presse, er wurde in der heißen Phase der laufenden Kampagne für die Präsidentschaftswahlen in Venezuela am 7. Oktober auch von Gegnern der amtierenden Regierung von Präsident Hugo Chávez genutzt. Während Survival International das mutmaßliche Massaker noch in Anführungszeichen setzte, hinterfragten regierungskritische Medien wie die venezolanische Tageszeitung La Verdad das Geschehen nicht mehr. Nicht nur der Gouverneur des Bundesstaates Amazonas, Liborio Guarulla, von der oppositionellen Partei MPV erhob schwere Vorwürfe gegen die Regierung. Der Skandal wurde so schnell hochgeschrieben wie er verpuffte. Zwei Wochen nach der Erstmeldung ruderte die Londoner Organisation zurück. »Survival International glaubt nun auch, dass es keinen Angriff von Bergleuten auf die Yanomami-Siedlung in Irotatheri gegeben hat«, hieß es am 11. September.

Die Episode zeigt, wie anfällig internationale Medien, inzwischen für tendenziöse oder manipulierte Meldungen geworden sind. Eines der Hauptprobleme bei dem fiktiven Massaker im venezolanischen Amazonasgebiet ist, dass es niemand nachgeprüft hat. Wie auch? Der Passauer Kommunikationswissenschaftler Oliver Hahn und zwei Koautoren beschreiben in einem 2008 erschienenen Buch über Auslandskorrespondenten, wie der zunehmende Kosten- und Rationalisierungsdruck Medien dazu zwingt, »die Anzahl ihrer Auslandsbüros und -korrespondenten zu reduzieren«. Zugleich erleben wir das Globalisierungs-Paradoxon, dass wir in Zeiten vereinfachter Kommunikation und höherer regionaler Interdependenz effektiv über weniger und vor allem stärker homogenisierte Information verfügen. Für politische Interessengruppen und ihre Vorfrontorganisationen ist es dadurch deutlich einfacher als noch vor wenigen Jahrzehnten, über Prozesse des »Agenda-Settings« oder »Framings« bestimmte Inhalte und politische Tendenzen gezielt in den medialen Diskurs einzuspeisen.

Im Fall des vermeintlichen Massakers in Venezuela hat all dies der Organisation Survival International der Vorwurf eingebracht, bei der Verbreitung der Falschmeldung einer politischen Motivation gefolgt zu sein. Selbst wenn auch dies nichts mehr als eine unbewiesene Behauptung ist, gibt es solche Fälle gerade in Lateinamerika und der Karibik. Beispiel Kuba: Deutsche Medien berichteten in den vergangenen Jahren wiederholt von bis zu 200 politischen Gefangenen in Kuba. Doch selbst Amnesty International schreibt im aktuellen Jahresbericht, dass alle aus politischen Gründen Inhaftierten im März freigelassen wurden. Eine in den Medien kursierende Liste mit bis zu 200 Namen stammt von der regierungsfeindlichen Organisation CCDHRN des Aktivisten Elizardo Sánchez. Von internationalen Organisation werden die Daten nicht ernst genommen. Und dies aus gutem Grund: Unter den Namen der »politischen Gefangenen« findet sich auch der verurteilte Terrorist Raúl Ernesto Cruz León. Der gebürtige Salvadorianer war 1997 für eine Bombenserie verantwortlich, bei der ein 32-jähriger italienischer Tourist, Fabio di Celmo, getötet wurde. Dennoch gelingt es der CCDHRN und ihr nahestehenden Organisationen wie der deutschen, rechtsgerichteten »Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte« immer wieder, die vermeintlich hohe Zahl politischer Gefangener auch in der hiesigen Presse zu lancieren.

»Wirklichkeitsentwürfe« nennt der Hamburger Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg solche Berichte: Bewusst oder unbewusst geformte Bilder einer vermeintlichen Realität. Die genannten Fälle zeigen beispielhaft, dass diese Entwürfe einer Wirklichkeit aktiv oder passiv zustande kommen können, durch bewusste Manipulation wie im Fall der »politischen Gefangenen« in Kuba oder durch die Integration politisch auslegbarer Meldungen in ein bestehendes Weltbild.

Im Fall des »Massakers« in Venezuela scheint Survival-Direktor Stephen Corry dieses Problem nicht zu sehen. Man werde »auch weiterhin vernünftige Einschätzungen auf Basis unserer Erfahrungen tätigen«, sagte der Anthropologe in einer Stellungnahme in Interviewform. »Woher wissen Sie, dass die Siedlung nicht zerstört wurde?«, wurde er gefragt. »Aus unseren eigenen vertraulichen, verlässlichen und sachkundigen Quellen, unabhängig von Regierung und Medien«, antwortete Corry. Die Frage ist, weshalb diese Quellen nicht gleich konsultiert wurden.

Der Autor ist Korrespondent der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina und lebt in Berlin.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 29. September 2012


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