Venezuela steht im Wahljahr 2010 vor großen Herausforderungen
Von Gregory Wilpert *
Das Jahr 2010 wird womöglich eins der schwierigsten Jahre
für die Chávez-Regierung seit 2002, dem Jahr des Putschversuchs
und des Ölförderungsstopps. Ende letzten Jahres
sah es noch so aus, als ob Venezuela das schlimmste der
weltweiten Wirtschaftskrise erstmal überstanden hätte –
doch dann begannen sich die schlechten Nachrichten zu
häufen. Bereits im November 2009 begann eine Reihe von
Banken zusammenzubrechen, und einige Korruptionsfälle
kamen in diesem Zusammenhang zutage. Als nächstes gab
die Zentralbank im Dezember bekannt, dass die venezolanische
Wirtschaft in 2009 um 2,9 Prozent geschrumpft sei –
also um fast einen Prozentpunkt mehr als erwartet. Und
dann wurde Anfang dieses Jahres immer deutlicher, dass
die Wasser- und Elektrizitätsversorgung des Landes bis
Mitte 2010 nicht gesichert ist. Diese und andere Herausforderungen,
vor denen die Chávez-Regierung dieses Jahr
steht, stellen Chávez’ Chancen in Frage, die für den 26. September
2010 angesetzten Parlamentswahlen, zu gewinnen.
Bankpleiten und Korruption
Ende November 2009 gab das venezolanische Finanzministerium
bekannt, dass vier kleine Banken von der Regierung
übernommen würden, weil es Hinweise darauf gab, dass
diese Geldinstitute administrative Irregularitäten begangen
hatten. Zusammen mit der Übernahme wurden auch einige
Bankdirektoren festgenommen und für andere wurden Haftbefehle
erlassen. Der Hauptgrund für die Übernahmen und
die Haftbefehle schien zu sein, dass diese Bankdirektoren
unter anderem Bankvermögen in größerem Umfang unterschlagen
hatten.
Obwohl diese vier Banken, die in einem Konsortium organisiert
waren, nur etwa 10 Prozent der Sparguthaben der Venezolaner
kontrollierten, sorgte der Vorgang in Venezuela für
viel Aufsehen, da die betreffenden Bankdirektoren und insbesondere
der Hauptaktionär des Konsortiums, Ricardo Fernandez,
der Regierung sehr nahe stand. Fernandez gehörte zur
sogenannten «Bolibourgeoisie» (eine Wortkombination aus
«Bolivarianer», also Regierungsanhänger, und Bourgeoisie),
da er in den zehn Jahren Chávez-Regierung zu einem der
reichsten Venezolaner geworden war. In der Opposition und
auch unter Chávez-Anhängern wurde vermutet, dass sein
Vermögen nicht legitim erworben war. Seine Festnahme
wurde so gedeutet, dass die Regierung sich jetzt um Korruption
in den eigenen Reihen kümmern würde. Bis zu diesem
Zeitpunkt hatte es so ausgesehen, als ob die pro-Chávez
Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Diaz hauptsächlich oppositionelle
Politiker wegen Korruption verfolgte.
Nur eine Woche nach der Verhaftung von Ricardo Fernandez
wurde ein weiterer bedeutender «Bolibourgeois»-Bankier verhaftet,
Arne Chacón, der Bruder des Chávez-Vertrauten Jesse
Chacón, der seit vielen Jahren mehrere wichtige Ministerposten
besetzt hat, zum Beispiel als Justiz- und Innenminister und
zuletzt als Wissenschafts- und Technologieminister. Jesse
Chacón gab kurz nach der Verhaftung seines Bruders sein
Amt auf, um der Regierung und den Untersuchungen nicht
im Wege zu stehen.
Inzwischen sind weitere Haftbefehle erlassen und weitere drei
Banken vom Staat übernommen worden. Die venezolanische
Justiz hat anscheinend endlich mitbekommen, dass weder
Chávez noch die ihn unterstützende Bevölkerung weiterhin
Korruption in den eigenen Reihen dulden würden. Die für September
2010 angesetzten Parlamentswahlen waren möglicherweise
ein diesbezügliches Wecksignal. Da die betroffenen
Banken alle recht klein sind und die großen Banken
anscheinend von dieser Krise nicht betroffen sind, sind ernsthafte
wirtschaftliche Konsequenzen nicht zu erwarten. Es ist
jedoch möglich, dass verhaftete Bankiers noch weitere Regierungspolitiker in die Korruptionsaffären mit hineinziehen, was
Chávez bei den Wahlen teuer zu stehen kommen könnte.
Wirtschaft und Währungsabwertung
Als die Zentralbank ende Dezember bekannt gab, dass die
venezolanische Wirtschaft 2009 um 2,9 Prozent geschrumpft
war, sorgte das bei der Chávez-Regierung und ihren Unterstützern für große Überraschung. Zwar hat die Regierung den
Etat für 2009 um etwa sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr
gekürzt, es wurde aber angenommen, dass dies keine allzu
große Konsequenzen haben würde, weil die Sozialprogramme
nicht angetastet wurden. Dies war offensichtlich
eine Fehlkalkulation.
Die Wirtschaft wird dieses Jahr jedoch dadurch angekurbelt
werden, dass Chávez Mitte Januar unerwartet die Landeswährung
um 17 beziehungsweise 50 Prozent gegenüber dem
Dollar abwerten ließ (je nach Zweck des Umtauschs: dringendere
Importe können zum niedrigeren Wechselkurs importiert
werden und Luxusgüter zum höheren). Diese Abwertung
bedeutet, dass die Regierung ihr Öleinkommen faktisch verdoppeln
wird, da jeder Öldollar jetzt 4,30 Bolivares einbringen
wird, statt wie zuvor nur 2,15.
Diese Abwertung war notwendig, da der Wechselkurs fünf
Jahre lang bei 2.15 Bolivares pro Dollar eingefroren gewesen
war, während der Wert des Bolivars in diesen fünf Jahren
innerhalb Venezuelas wegen der Inflation um durchschnittlich
22 Prozent pro Jahr gefallen war, d.h. um 72 Prozent
insgesamt. Gegenüber dem Ausland jedoch blieb der Wert
gleich. Dies hatte zur Folge, dass Importe wie Milch, Getreide,
oder Fleisch gegenüber den einheimischen Produkten immer
billiger und letztere immer unprofitabler wurden. Auch venezolanische
Exporte (außer Öl) konnten im Ausland nicht kostendeckend
abgesetzt werden. In anderen Worten, obwohl
der festgelegte Wechselkurs half, Kapitalflucht zu unterbinden,
machte er Venezuela ölabhängiger denn je. Eine Anpassung
des Wechselkurses an den realen Wert der Währung
war also dringend notwendig, um der sinkenden Wirtschaft
wieder Antrieb zu geben.
Viele befürchten jetzt allerdings, dass die Abwertung die Inflation
wieder anheizen wird, da Venezuela gut 60 Prozent seiner
Konsumgüter importiert. Der ehemalige Zentralbankchef
Domingo Maza Zavala prognostizierte für 2010 eine Inflation
von 100 Prozent. Eine solche Behauptung scheint aber vor
allem der Opposition Schützenhilfe zu leisten, denn die
Januarinflationsrate betrug «nur» 1,7 Prozent – obwohl die
Abwertung im selben Monat stattfand. Damit ist die durchschnittliche
monatliche Inflationsrate überraschenderweise
zum Jahresanfang 2010 niedriger als im Vorjahr, die um die
2 Prozent pro Monat betrug. Dass die Inflation doch nicht so
schlimm ausfiel wie manche erwartet hatten, sollte nicht allzu
sehr überraschen, denn abgesehen von den preiskontrollierten
Importen, richteten sich bereits vor der Abwertung praktisch
alle anderen Importe nach dem Schwarzmarktwechselkurs,
der sich ohnehin schon der Inflation angepasst hatte.
Wasser- und Stromkrise
Während die venezolanische Wirtschaft letztes Jahr langsam
ins Stocken geriet, fiel gleichzeitig die alljährliche Regenzeit
fast komplett aus. Der Grund für diese Dürre scheint das Klimaphänomen
«El Niño» zu sein, der einmal alle paar Jahre
ungewöhnlich warmes Wetter in Südamerika und kaltes Wetter
in Nordamerika verursacht. Die Dimensionen der Dürre in
Venezuela wurden aber erst offensichtlich, als die Regenzeit
im Januar zu Ende war und es fast gar nicht geregnet hatte.
Dadurch erreichte der Wasserstand an Venezuelas wichtigstem
Staudamm, dem Guri-Damm, ein historisches Tief. Da
Venezuelas gesamte Stromversorgung zu 70 Prozent vom
Guri-Damm abhängt, ist diese Versorgung jetzt nicht sichergestellt.
Experten sagen, dass die gesamte Elektrizitätsproduktion
des Landes noch vor Beginn der nächsten Regenzeit
im Mai zusammenbrechen könnte, wenn der Stromverbrauch
nicht sofort stark reduziert wird.
Auch wenn es zutrifft, dass «El Niño» die Dürre verschuldet,
wie die Regierung behauptet, ist das Argument der Opposition,
dass in den 11 Jahren der Chávez-Regierung der Elektrizitätskonsum
stärker gestiegen ist als die Produktionskapazität,
ebenfalls nicht von der Hand zu weisen.
Nach einigem Hin- und Her, beispielsweise der Einführung
von Energiesparmaßnahmen, die dann kurzerhand widerrufen
wurden, hat die Regierung im Februar eine sinnvolle Strategie
gefunden. Die neue Stromsparmaßnahme wird die
Strompreise für diejenigen herabsetzen, die ihren Verbrauch
senken, und für diejenigen drastisch erhöhen, die mehr als
vorher verbrauchen. Es ist aber immer noch nicht klar, ob
diese Maßnahme ausreichen wird, um eine ernstere Krise zu
vermeiden. Trotz des neuen Plans wird in fast dem ganzen
Land immer noch täglich stundenlang der Strom rationiert.
Unklarer Ausgang der Wahlen zur Nationalversammlung
Die Stromversorgungskrise, die Wirtschaftskrise, und die
fortdauernde Korruption sind bei der Opposition inzwischen
zu einem Wahlspruch geschmiedet worden, «Uno, dos, tres,
t’as ponchao!» was aus dem beliebten venezolanischen
Baseball kommt und so viel heißt, wie «Eins, zwei, drei, Du
bist raus!» (beim dritten verpassten Schwung gegen den
Baseball, dem «Strikeout», ist der Spieler für die Runde aus
dem Spiel). In der Tat stellen diese drei Probleme sehr große
Ärgernisse für die Bevölkerung dar. Zwar ist Chávez immer
noch der beliebteste Politiker Venezuelas, aber seine Popularität
hat schon etwas abgenommen in letzter Zeit, so dass
sogar ein regierungsnahes Umfrageinstitut (IVAD) feststellte,
dass Chávez im Januar mit nur ein Prozent Vorsprung (42,4
Prozent zu 41,5 Prozent) wiedergewählt werden würde. Das
ist sein tiefster Popularitätsstand seit dem Krisenjahr 2002,
als die Opposition einen Putsch und einen Ölförderungstopp
versuchte.
Wenn im Verlauf des Jahres keine klare Lösung für diese drei
Probleme absehbar wird, dann sieht es für die Bolivarianische
Revolution bei den am 26. September stattfindenden Nationalversammlungswahlen schlecht aus. Da die Opposition die
letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Jahr 2005 boykottiert
hatte, hat die pro-Chávez Koalition zurzeit etwa 90
Prozent der Sitze im Parlament. Nach den nächsten Wahlen
wird die Regierung Chávez froh sein, wenn sie eine Zweidrittelmehrheit
der Sitze erreichen kann. Weil im venezolanischen
Wahlsystem ländliche Wahlbezirke (wo Chávez meistens
beliebter ist als in den Städten) ebenso bevorzugt werden
wie Parteien, die verhältnismäßig viele Stimmen
bekommen, besteht noch die Möglichkeit, dass die Chávez-
Koalition diese Zweidrittelmehrheit gewinnt.
Ein Faktor, der sich für Chávez’ Partei, die PSUV (Vereinigte
Sozialistische Partei Venezuelas), positiv auswirken könnte,
ist seine Entscheidung, dass alle Kandidaten für die 165 Parlamentssitze
durch parteiinterne Wahlen bestimmt werden.
Historisch gesehen ist das sehr ungewöhnlich, weil nämlich
in der Vergangenheit die Parteioberen in allen Parteien, von
links bis rechts, normalerweise die Kandidaten hinter verschlossenen
Türen bestimmt haben. Die Opposition tut dies
immer noch und hat angesagt, dass nur 30 ihrer 165 Kandidaten
durch parteiinterne Wahlen bestimmt werden. Dies
wird dem Image der Opposition in der Bevölkerung vermutlich
schaden. Hinzu kommt, dass die Opposition weiterhin
keine klaren Leitfiguren hat, die eine kohärente und überzeugende
Alternative zu Chávez anbieten könnten. Zusätzlich
zum Führungsmangel ist die Opposition auch immer noch in
etwa ein dutzend kleine Parteien zersplittert. Im Gegensatz
dazu sind Chávez und seine Anhänger in der vor kurzem
gegründeten PSUV gesammelt, die immer öfter (aber immer
noch nicht in allen Fällen) ihre demokratische Prinzipien
umsetzt und dadurch besser dasteht als die Oppositionsparteien.
Prognose
Seitdem Chávez das Referendum für eine weitgehende Verfassungsreform
im Dezember 2007 knapp verloren hat,
scheint die Regierung nicht so richtig Fuß fassen zu können.
Ein sehr wichtiger Grund für die Ablehnung der Reform war
die Frustration vieler seiner Anhänger über die Inneffizienz
der beliebten Sozialprogramme, die seit ihrer Einführung um
2004 immer schlechter organisiert waren. Während Chávez
also die Präsidentschaft im Dezember 2006 mit 7,3 Millionen
Stimmen gewann, waren es nur 4,3 Millionen, die ein Jahr
später für Chávez’ Verfassungsreform stimmten. Da die
Opposition ihr Wahlergebnis aber von 4,3 auf 4,5 Million
erhöhen konnte, kann man also sagen, dass circa 3 Millionen
Chávez-Wähler die Verfassungsreform einfach boykottiert
haben. Informelle Umfragen bestätigten, dass die Unterstützer
von Chávez ihrem Präsidenten damit die Nachricht übermitteln
wollten, dass er sich doch mehr um tägliche Probleme,
wie die hohe Kriminalitätsrate und die schlecht funktionierende
Staatsbürokratie kümmern sollte, statt um eine
überaus komplexe Verfassungsreform.
Viel hat sich an dieser Grundstimmung in den letzten zwei
Jahren nicht geändert. Chávez genießt immer noch relativ
hohe Anerkennung und Unterstützung besonders unter den
ärmeren Venezolanern, denen nicht nur seine Sozialprogramme
gefallen, sondern auch die Versuche, die Gemeinden
durch die Einführung von consejos comunales zu demokratisieren
und den Bürgern so eine echte Beteiligung zu
ermöglichen. Dennoch ist die Situation mit derjenigen in
2007 vergleichbar, oder vielleicht sogar noch schlechter als
damals – nicht nur weil die alten Probleme von 2007 immer
noch nicht gelöst sind und nun Stromversorgung, Wirtschaft,
und Korruption noch hinzukommen, sondern weil genau wie
2007 Chávez selbst nicht auf dem Wahlzettel stehen wird.
Das bedeutet, dass viele Chávez-Anhänger bei den im September
stattfindenden Nationalversammlungswahlen möglicherweise
einfach wieder zuhause bleiben werden.
Die Konsequenz für Chávez – sollte er seine Mehrheit im Parlament
verlieren – wäre verheerend. Trotz aller politikwissenschaftlichen
Analysen, die besagen, dass der venezolanische
Staat sehr aufs Präsidentenamt zugeschnitten ist, hat die
Nationalversammlung in Venezuela eigentlich mehr Macht
als in vergleichbaren Staaten, wie zum Beispiel in den USA.
Im Gegensatz zu den USA ist der venezolanische Präsident
beispielsweise in keiner Weise beteiligt an der Ernennung von
Richtern, Wahlkommission, oder Generalstaatsanwaltschaft.
Er kann auch keine Gesetze per Veto verhindern. Das heißt,
eine Oppositions-geführte Nationalversammlung könnte
Gesetze rückgängig machen oder die Regierung mit zahlreichen
Untersuchungen lähmen. Chávez weiß genau, dass
diese Gefahr besteht. Ob seine Anhänger es wissen, wird sich
aber erst im September herausstellen.
* Gregory Wilpert ist Projektkoordinator der Rosa-Luxemburg-Stiftung
in Caracas.
Quelle: Standpunkte International 03/2010; auch als pdf-Datei erhältlich: www.rosalux.de
"RLS standpunkte" wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig.
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