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Caracas: Merkel versucht zu spalten

Venezuela antwortet auf Verbalattacken der Bundeskanzlerin. Widerspruch aus dem Bundestag

Von Harald Neuber *

Der Streit um die Venezuela-Kritik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel geht in eine neue Runde. Am Dienstag (Ortszeit) veröffentlichte das venezolanische Außenministerium eine Stellungnahme, in der die Angriffe der CDU-Politikerin auf Präsident Hugo Chávez als Gefahr für die Beziehungen beider Staaten bezeichnet wurden. »Ihre Äußerungen berühren nicht nur die bilateralen Beziehungen«, heißt es in dem Kommuniqué. Sie stünden auch im Widerspruch zu der Absicht Berlins, die Zusammenarbeit mit Lateinamerika und der Karibik zu verbessern. Offenbar versuche Merkel, die lateinamerikanischen Staaten zu spalten.

In einem Interview mit dpa hatte Merkel zuvor harsche Kritik an Venezuela geübt. Präsident Chávez unterstellte sie, die Beziehungen zur EU beeinträchtigen zu wollen. Am Wochenende werden Merkel und Chávez am EU-Lateinamerika-Gipfel in der peruanischen Hauptstadt Lima teilnehmen.

Nun distanzierten sich auch mehrere Bundestagsabgeordnete von Merkels Lateinamerika-Politik. Schon in der letzten Legislaturperiode habe sich die CDU »stark an der Regierung von Álvaro Uribe in Kolumbien orientiert«, sagte der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele gegenüber junge Welt. »Diese Linie versucht Bundeskanzlerin Angela Merkel nun offenbar fortzusetzen.« In Venezuela sei zwar nicht alles »demokratisch und nicht alles entspricht unseren demokratischen Vorstellungen«, so Ströbele weiter, aber im Vergleich dazu sei die Lage der Demokratie und der Menschenrechte in Kolumbien »katastrophal«. Dies müsse die Bundesregierung einsehen.

In einer Bundestagsdebatte am vergangenen Freitag hatte auch der SPD-Politiker Lothar Mark auf diesen Gegensatz hingewiesen: »Man muß zur Kenntnis nehmen, daß alle Schritte, die von ihm unternommen wurden, demokratisch abgesegnet waren«, sagte Mark über den venezolanischen Präsidenten. Die Linke-Abgeordnete Heike Hänsel forderte Merkel indes auf, »den politischen Entwicklungen, die in Lateinamerika von den neuen linken Regierungen ausgehen, Rechnung zu tragen«. Bislang folge die Bundeskanzlerin einer gegenteiligen Linie, so Hänsel gegenüber jW. Mit Ausnahme von Brasilien führte ihre Reiseroute ausschließlich in rechtsregierte Staaten.

* Aus: junge Welt, 15. Mai 2008

Prinzipien der Gleichheit und Nichteinmischung

Erklärung der venezolanischen Regierung zu dem Disput zwischen der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela, Hugo Chávez:

Wenige Tage vor der Ausrichtung des 5. Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika, der Karibik und der Europäischen Union – ein Treffen, das den respektvollen Dialog zwischen den Staaten beider Regionen ohne Ausnahmen vertiefen soll –, erklärte die Bolivarische Republik Venezuela zu den unfreundlichen Äußerungen der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Dorothea Merkel, in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa über den legitimen Präsidenten der Republik folgendes:

Die Bolivarische Republik Venezuela ist zunächst erstaunt darüber, daß die deutsche Kanzlerin unmittelbar vor ihrem Besuch in unserer Region und dem Gipfeltreffen in Lima mit Präsident Chávez einen der demokratischen Staatschefs Lateinamerikas angreift. Ihre Äußerungen berühren nicht nur die bilateralen Beziehungen, sie stehen auch im Widerspruch zu der Absicht der deutschen Regierung, die freundschaftlichen Bande mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik enger knüpfen zu wollen.

Die Bolivarische Republik Venezuela hat in ihren Beziehungen zu Deutschland stets Respekt walten lassen. Sie bittet deswegen auch die Bundesrepublik Deutschland um ein entsprechendes Verhalten.

Die Bolivarische Republik Venezuela läßt sich nicht zu feindseligen Äußerungen gegenüber einem Mitglied der Europäischen Union hinreißen, wenn es seine Beziehungen zu dieser Region verbessern will. Die Bundesrepublik Deutschland ist eingeladen, diesem Beispiel zu einem Zeitpunkt zu folgen, in dem sie die Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik ausbauen will.

Zugleich weist die Regierung der Bolivarischen Republik Venezuela die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter anderem auf die Prinzipien der Gleichheit und Nichteinmischung hin. Sie sind Voraussetzung dafür, daß sich die bilateralen, biregionalen und internationalen Beziehungen in einem Klima der Höflichkeit, des Dialogs und des Verständnisses entwickeln.

Schließlich erinnert die Regierung der Bolivarischen Republik Venezuela die Regierung der Bundesrepublik Deutschland daran, daß Venezuela weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart ein Unruhefaktor in Lateinamerika, Europa oder der Welt gewesen ist. Es ist beruhigend zu wissen, daß Kanzlerin Merkel nicht die einzige Stimme in der Europäischen Union ist und daß ein einzelnes Land weder die Beziehungen zwischen Venezuela und der Europäischen Union noch die bi­regionalen Beziehungen belasten kann.

[Übersetzung: Harald Neuber]




Der EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima
ist ein Großereignis. 27 EU-Mitgliedstaaten und 33 Staaten aus Lateinamerika und der Karibik sowie die EU-Kommission nehmen teil. In Lima werden insgesamt über 60 hochrangige Delegationen sowie zahlreiche Beobachter, NGOs und Wirtschaftsvertreter dabei sein. Die Gipfelkonferenzen sollen die 1999 begonnene strategische Partnerschaft der beiden Regionen vertiefen. Es ist der 5. EU-Lateinamerika-Gipfel. Die Gipfel finden alle zwei Jahre statt. Der erste war 1999 in Rio de Janeiro.




Merkel kämpft gegen ein soziales Lateinamerika

Pressemitteilung der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, 15. Mai 2008

"Die Bundesregierung will das Scheitern des Neoliberalismus in Lateinamerika verhindern und das Streben nach sozialem Wandel sabotieren", kritisiert die Abgeordnete Sevim Dagdelen (DIE LINKE), die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf ihrer Lateinamerika-Reise und zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima begleitet. Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, fordert eine Neuausrichtung der Lateinamerika-Politik, die positiv auf die Akteure des sozialen Aufbruchs und der regionalen Integration zugeht.

"Zwei Jahrhunderte nach dem Beginn der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege betreiben Merkel und die EU eine Politik des Neokolonialismus in Lateinamerika", so Dagdelen. "Die Bundesregierung geht mit dem Ziel nach Lima, die neoliberalen Freihandelsabkommen weiter voranzubringen. Damit untergräbt sie ganz bewusst die regionale Integration, die sich im Rahmen der Bolivarischen Alternative (ALBA) vollzieht und der sich bereits etliche Staaten angeschlossen haben", betont Hänsel. Sie fordert: "Wir brauchen eine neue Lateinamerika-Politik, die die Integrationsprozesse dort positiv aufgreift und unterstützt."

Das meint auch Dagdelen: "Die Privatisierungspolitik und der Ausverkauf der natürlichen Ressourcen in den letzten Jahrzehnten hat die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Im Interesse transnationaler Konzerne setzt Merkel auf die Gegner des demokratischen und sozialen Aufbruchs und sucht den Schulterschluss mit repressiven rechten Regierungen wie mit dem Präsidenten Kolumbiens."

"Wir als Linke unterstützen jene emanzipatorischen und sozialen Kräfte, die die Reichtümer endlich gerecht verteilen wollen", sagt Dagdelen, die in Lima am Alternativengipfel der sozialen Bewegungen teilnehmen will, der parallel zum offiziellen EU-Lateinamerika-Gipfel stattfindet. "Der Alternativengipfel ist eine wichtige Gelegenheit, die tragenden Kräfte des sozialen Wandels und ihre alternativen Vorstellungen von einer gerechten Weltordnung kennen zu lernen. Vielleicht sollte Frau Merkel einen Besuch erwägen, damit sie endlich ein Bild vom neuen Lateinamerika bekommt, das von unten wächst."




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