Der Erbe des Comandante
Der ehemalige Busfahrer Nicolás Maduro sieht sich als neuer Präsident Venezuelas vor enorme Herausforderungen gestellt
Von Harald Neuber *
Der neue Präsident Venezuelas muss einen politischen Prozess fortführen, der in hohem Maße auf seinen Amtsvorgänger Hugo Chávez zugeschnitten ist. Es kann ihm gelingen, weil er selbst ein Produkt der Bolivarischen Revolution ist.
Der neue Präsident Venezuelas muss einen politischen Prozess fortführen,
der in hohem Maße auf seinen Amtsvorgänger
Hugo Chávez zugeschnitten ist. Es kann ihm gelingen, weil er
selbst ein Produkt der Bolivarischen Revolution ist.
Man würde Nicolás Maduro nicht
erkennen, käme er alleine in den
Saal. Der stämmige 50-Jährige
zieht die Aufmerksamkeit nur
deshalb auf sich, weil er sich den
Weg durch die Menge im Konferenzsaal
des verstaatlichten Hotels
ALBA – des ehemaligen Hilton Caracas
– inmitten eines Pulks von
Leibwächtern bahnt. Binnen Tagesfrist
hat ein routiniertes Bauteam
den Raum in ein zeitweiliges
Fernsehstudio verwandelt. »Diálogo
Bolivariano«, prangt hinter
der Bühne, auf der mehrere Gäste
Platz nehmen. »Bolivarischer Dialog
«. Die Sendung ist die erste persönliche
Note Maduros, der an
diesem Tag noch Übergangspräsident
und Kandidat ist. Der am
5. März verstorbene Hugo Chávez
hatte sich wöchentlich in der Talkshow
»Aló, Presidente« zu Wort
gemeldet, einem stark auf seine
Person zugeschnittenen Format.
Anders als der langjährige Anführer
der Bolivarischen Revolution
sitzt Maduro nicht alleine vor der
Kamera, er teilt sich die Bühne mit
Gästen. An diesem Montag Ende
März begleiten ihn unter anderen
Boliviens Vizepräsident Álvaro
García Linera, der Präsident des
staatlichen Rundfunks Argentiniens,
Christian Bauer, und Venezuelas
Außenminister Elías Jaua.
Maduro eröffnet die Debatte
und übergibt das Wort nach einem
kurzen Kommentar über die bevorstehende
Wahlkampagne an den Argentinier. Er wippt auf dem
Barhocker hin und her, nestelt an
dem weißen, zerknitterten Hemd,
das er über der Hose trägt, steht
nach einer Weile auf, um sein Bein
auszuschütteln. Es scheint, als
fühle sich der ehemalige Busfahrer
im Rampenlicht nicht sonderlich
wohl. Aber Maduro hält seine neue
Rolle durch. Gut zwei Stunden lang
diskutiert er mit seinen Studiogästen
über linke Politik, Angriffe und
Winkelzüge der venezolanischen Opposition und die notwendige Integration
der lateinamerikanischen Staaten.
Schließlich verabschiedet er sich mit einer Entschuldigung. Er
müsse eine Delegation der wiederverstaatlichten Telefongesellschaft CANTV empfangen. »Sie werden mir einen Scheck mit den Überschüssen
aus dem vergangenen Jahr überreichen«, erklärt
Maduro. Früher, als CANTV noch privat war, seien diese Gewinne
in die Taschen der Konzernchefs geflossen. »Heute werden wir mit diesem Geld das soziale Wohnungsbauprogramm unterstützen«, fügt er hinzu. Dies sei eine der Änderungen der Revolution.
Man hat den Eindruck, als
müsse sich Nicolás Maduro noch in
seine Rolle finden, in die er binnen
weniger Wochen gedrängt wurde.
Bevor Hugo Chávez am vergangenen
9. Dezember nach Kuba zu
seiner vierten und letzten Krebsoperation
nach Havanna aufgebrochen
war, hatte er den damaligen
Vizepräsidenten zu seinem
Wunschnachfolger ernannt, sollte
er selbst sein Amt nicht mehr ausfüllen
können. In diesem Fall solle
»Nicolás Maduro – und das ist
meine feste Überzeugung –, wenn
neue Präsidentschaftswahlen erforderlich
wären, zum Präsidenten gewählt werden«. Die Republik
und die Revolution seien bei Maduro
in guten Händen.
Dieser Wunsch hat sich am
Sonntag erfüllt. Allerdings setzte
sich Maduro nur denkbar knapp mit 50,7 Prozent der Stimmen gegen den
Vertreter des rechtsgerichteten
Bündnisses Tisch der Demokratischen
Einheit (MUD), Henrique Capriles, durch. Unter Chávez
wäre ein so knappes Resultat nur schwer vorstellbar gewesen. Im Oktober 2012 war Capriles noch klar mit 44 zu 55 Prozent gegen den Comandante unterlegen.
Dennoch stellt der Sozialist
Maduro gewissermaßen die Verkörperung
des revolutionären Ideals
dar. Der 1962 in einfachen
Verhältnissen geborene Nicolás
Maduro hat es aus dem Armenviertel
in den Präsidentenpalast
Miraflores geschafft. Dabei hat er
gerade einmal die Oberschule abgeschlossen
und nie studiert. Maduro
habe sich nach seinem
Schulabschluss umgehend eine
Arbeit gesucht, berichten Weggefährten.
Als Busfahrer bei den
städtischen Verkehrsbetrieben hat
er jedoch nicht lange gearbeitet.
Rasch engagierte er sich in der Gewerkschaft
und übernahm immer
wichtigere Posten. Des Öfteren sei
ihm gar das Gehalt gestrichen
worden, heißt es, weil er sich
krankgemeldet hatte, um politische
Aktionen zu organisieren.
Was davon der historischen Realität
entspricht und was Legende ist,
lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Tatsache ist, dass Maduro parallel
zu seiner gewerkschaftlichen
Tätigkeit in Verbindung mit der
linksnationalistischen Bewegung
MBR-200 im Militär kam. Der
Kontakt kam durch seine heutige
Ehefrau Cilia Flores zustande. Die
Juristin verteidigte Hugo Chávez,
der 1992 nach einem gescheiterten
Aufstand gegen den damaligen
Präsidenten Carlos Andréz Pérez
inhaftiert worden war. Maduro rief
zu Protesten für seine Freilassung auf.
1999 erstmals ins Parlament
gewählt, wurde Maduro im Jahre
2005 dessen Präsident. Nach sechs
Jahren im Amt des Außenministers
ernannte ihn Chávez im Oktober
2012 zu seinem Stellvertreter
als Staatsoberhaupt. »Seht, was
Nicolás der Busfahrer alles
schafft«, rief Chávez seinen
Landsleuten damals zu.
Ein solcher Aufstieg provoziert
allerdings den Hass der venezolanischen
Oberschicht. Auch Chávez
wurde in seinen ersten Jahren als
Präsident nicht akzeptiert. Den
»inquilino de Miraflores« nannte
man ihn, den Zwischenmieter im
Präsidentenpalast. Die Bezeichnung
»inquilino« wird in Venezuela
gemeinhin für Tagelöhner vom
Land verwendet, die sich für die
Zeit ihres Arbeitsauftrags tageweise
in der Stadt einmieten. Ähnlich
begegnen die ehemaligen Oligarchen
heute Maduro. In einer
Rundmail oppositioneller Jugendgruppen
wurde er dieser Tage als
»Usurpator« diffamiert. Immer
wieder hoben Regierungsgegner
die fehlende universitäre Ausbildung
des neuen Staatschefs hervor.
Die Schimpfwörter in Zeitungsartikeln
und Internetforen sind Legion. Auch Herausforderer
Capriles stellte die arrogante Haltung
der Oberschicht demonstrativ
zur Schau. »Junge, du bist hier
nicht der Präsident«, hielt er Maduro
herablassend vor, er sei »illegitim
an der Macht«, fügte er nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse
hinzu. Der Adressat reagierte erstaunlich gelassen und rief seine Anhänger wieder und wieder auf, sich nicht zu unbesonnenen Reaktionen
verleiten zu lassen.
Mehr noch: Maduro versuchte,
die Angriffe der Rechten für sich zu
nutzen. Er kokettiert mit dem
Image des Emporkömmlings. Als
er bei der Wahlbehörde CNE seine
Kandidatur anmeldete, fuhr er eigenhändig
in einem Bus vor. Und
beim »Bolivarischen Dialog«
scheut er sich nicht, gehässige
Nachrichten vorzutragen, die ihn
über den Kurznachrichtendienst
Twitter erreichen. »Glaubst Du eigentlich
selbst, was Du da erzählst,
Du Blödmann, hahaha«, liest Maduro,
zuckt mit den Achseln und
sagt: »Ja, eigentlich schon.« Damit
hat er die Lacher auf seiner Seite.
Seine Gegner provoziert er mit
derart demonstrativer Gelassenheit
allerdings noch mehr, sie
nennen ihn eine »schlechte Kopie«
von Chávez.
Zumal Maduro als orthodoxer
Linker gilt, von dem manche sogar
eine Radikalisierung des Transformationsprozesses
erwarten. In
jüngeren Jahren war er in der
kleinen Sozialistischen Liga aktiv,
die sich bei einer marxistischen
Grundlinie auch des Maoismus
bediente und einer Guerillaorganisation
nahestand. In der Neuen
Linken Lateinamerikas ist das
nicht ungewöhnlich. Boliviens Vizepräsident
García Linera, heute
Anzugträger mit dem Habitus eines
Soziologieprofessors, sprengte
zu Beginn seines politischen Engagements
auch Strommasten. In
der stark segmentierten Gesellschaft
Venezuelas ist die Durchlässigkeit
der sozialen und politischen
Sphären aber weitaus geringer
als in anderen Staaten der
Region. Wer nicht als Renegat die
Seiten wechselt wie der ehemalige
Guerillero Teodoro Petkoff, der
heute das rechtspopulistische
Kampfblatt »Tal Cual« herausgibt,
wird mit einem linken Lebenslauf
von Venezuelas Oligarchie nicht
akzeptiert.
Anders als dem Militär Chávez
fehlt es dem Gewerkschafter Maduro
bisher zudem an natürlicher
Autorität. Das wird jedem Journalisten
klar, der sowohl Chávez als
auch Maduro interviewt hat. Chávez
lehnte sich in seinem Sessel
zurück und referierte selbstsicher
mit fester Stimme. Maduro sitzt
vorgebeugt, stützt die Unterarme
auf seine Knie, spricht bedächtig,
als ging es darum, die nächste Gewerkschaftsaktion
sorgfältig abzustimmen. Wenn Chávez an der Militärführung vorbeischritt,
schauten Generale und Admirale
streng nach vorn und vermieden
Augenkontakt. Wie werden sie reagieren,
wenn der neue Präsident
sie, die Männer von Chávez, absetzt?
Wenn er, dessen Jugendfreunde
aus dem Armenviertel bis
heute den Kern seiner Leibwache
bilden, Militärführung und Kabinett
neu strukturiert? Oppositionsführer
Capriles weiß um die
Spannungen, die zu erwarten sind.
Auch deswegen wandte er sich in
den vergangenen Wochen immer
wieder an das Militär, um Unterstützung
zu gewinnen.
Die Herausforderungen für den
künftigen Präsidenten Nicolás Maduro
sind enorm. Dafür steht nicht
nur, dass er die Wahl entgegen
vielen Voraussagen nur äußerst
knapp für sich entschieden hat.
Nun muss er sich den großen wirtschaftlichen
Problemen des armen,
reichen Erdölstaates Venezuela
widmen. Im Wahlkampf war das
Chávez-Erbe für dessen Wunschnachfolger
Segen und Fluch zugleich.
Im Schnitt über 200
Mal soll er den Namen
des »Comandante« im Wahlkampf
täglich in den Mund genommen
haben. Damit versuchte er offensichtlich,
die eigene Basis zu mobilisieren und das
emotionale Moment nach dem Tod
ihres Idols zu nutzen. Zugleich
aber schwächt der für Venezuela
typische Personenkult seine eigene
Position als neues Oberhaupt des
nach wie vor widersprüchlichen
Reformprozesses. Chávez war es
gelungen, verschiedene Strömungen
durch sein Charisma zusammenzuhalten.
Die »Chavisten«
hörten auf ihn. Von »Maduristen«
spricht in Venezuela noch niemand.
* Aus: neues deutschland, 16. April 2013
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