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Vierte Gewalt putschte

Venezuela: Vor elf Jahren mußte Hugo Chávez den Präsidentenpalast verlassen. Fernsehsender spielten dabei die entscheidende Rolle. Massendemos vereitelten Staatsstreich

Von André Scheer, Caracas *

Am heutigen Donnerstag endet in Venezuela offiziell der Wahlkampf. Hunderttausende Menschen werden im Zentrum der Hauptstadt Caracas zu einer weiteren Großkundgebung zusammenströmen, um für einen Erfolg des sozialistischen Kandidaten Nicolás Maduro zu werben. Es ist ein historisches Datum, denn die Präsidentschaftswahl fällt mit dem elften Jahrestag des Putsches gegen Hugo Chávez 2002 zusammen, der innerhalb von 47 Stunden durch einen Volksaufstand vereitelt worden war.

Der damalige Staatsstreich gilt als der erste »Medienputsch«, denn eine entscheidende Rolle hatten die kommerziellen Fernsehsender gespielt. Am 9. April 2002 hatten der Unternehmerverband Fedecámaras, der sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaftsbund CTV und die rechten Parteien zu einem »Generalstreik« gegen die Regierung aufgerufen. Es ging um die Zukunft des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der bis dahin praktisch wie ein Privatunternehmen geführt worden war. Chávez wollte den Zugriff des Staates auf den Konzern, um aus dessen Einnahmen Sozialprogramme zu finanzieren. Offiziell dagegen richtete sich eine Großdemonstration der Opposition am 11. April 2002, die den Ankündigungen zufolge am Unternehmenssitz der PDVSA enden sollte. Doch in einer Sonderausgabe hetzte die rechte Tageszeitung El Nacional die Anhänger der Opposition auf: »Der Endkampf findet in Miraflores statt!« Zum Präsidentenpalast sollte die Demonstration ziehen, forderten die führenden Köpfe der Opposition und lenkten den Marsch um.

Es war eine Falle. Auf den Hochhäusern an den Straßen, durch die der Zug der Opposition ging, waren Heckenschützen positioniert worden, die das Feuer eröffneten – sowohl auf Regierungsgegner als auch auf Chavistas, die dort ihre Solidarität demonstrieren wollten.

Einer der Schauplätze war die Puente Llaguno, eine nur wenige hundert Meter vom Präsidentenpalast entfernte Brücke. Dort hatten sich Anhänger der Regierung versammelt, die ebenfalls beschossen wurden. Einige der Demonstranten erwiderten das Feuer, um andere zu beschützen. Die Bilder davon flimmerten kurz darauf über die Fernsehschirme der venezolanischen Zuschauer. Doch sie waren manipuliert worden: Die Kommentatoren behaupteten, die Chavistas hätten auf die »unbewaffnete Demonstration« der Opposition geschossen – obwohl diese gar nicht in Reichweite ihrer Waffen gewesen war.

»Ich befand mich damals hier auf der Puente Llaguno«, berichtete am Dienstag ein Augenzeuge im Gespräch mit junge Welt. Er zeigt auf ein Hochhaus: »Dort oben hatten sich Scharfschützen versteckt, die in unsere Richtung schossen. An diesem Tag starben hier, nur etwa fünf Meter von meinem Standort entfernt, vier Menschen. Unsere Freunde und Genossen wurden erschossen, die hier die Demokratie und die Freiheit verteidigen wollten.« Auf Fotos, die anschließend um die Welt gingen, ist auch er zu sehen, wie er versucht, einen der Getroffenen in Sicherheit zu bringen.

Doch die Macht der Fernsehbilder benutzte das Oberkommando der Streitkräfte als Vorwand, dem demokratisch gewählten Präsidenten die Gefolgschaft aufzukündigen. Die Generäle drohten, Miraflores zu bombardieren, wenn Chávez nicht zurücktrete. Dieser weigerte sich, eine Demission zu unterschreiben, begab sich aber in die Hand der Generäle.

Am 12. April 2002 bejubelten sich die Putschisten im Fernsehen. Während der damals einzige staatliche Kanal VTV abgeschaltet worden war, gratulierten sich Globovisión, RCTV, Televen und CMT und sprachen offen darüber, wie die Zuspitzung des Vortages vorbereitet worden war. Doch sie hatten nicht mit dem Volk gerechnet, das zu Millionen auf die Straße ging und den Putsch vereitelte. Am 13. April 2012 konnte Chávez nach Miraflores zurückkehren.

Konsequenzen für die Putschisten von damals gab es nicht. Lediglich die Sendelizenz des Privatsenders RCTV wurde einige Jahre später nicht verlängert, der Kanal ist aber weiter in den venezolanischen Kabelnetzen zu sehen. Die Zeitungen, die wie El Nacional zur »Entscheidungsschlacht« gerufen hatten, erscheinen ebenfalls noch immer.

Die Strategie der Regierung, die Vorherrschaft der oppositionellen Medien zu brechen, sah anders aus. Es wurden neue Fernseh- und Rundfunksender geschaffen und linke Zeitungen gegründet. ViVe, Ávila-TV, Alba-TV, TVes und der lateinamerikanische Nachrichtensender TeleSur haben das Monopol der Kommerzanstalten gebrochen. Hinzu kommen Hunderte kleine, lokale Alternativsender wie Catia TVe, die die Sichtweise eines Viertels der Bevölkerung auf die Mattscheibe bringen. Als Tageszeitungen erscheinen Vea und Correo del Orinoco landesweit, sowie als kostenlos verbreitete Lokalzeitungen Blätter wie Ciudad CCS in Caracas oder Ciudad VLC in Valencia.

Jetzt geht die Regierung einen weiteren Schritt. Aus den staatlichen Medien, aber auch aus den Alternativsendern und mit Hilfe von Straßenkünstlern und Musikern wird derzeit das »Bolivarische System für Kommunikation und Information« (SIBCI) aufgebaut. Es soll das journalistische und kulturelle Instrumentarium in in die Hand der Bevölkerung geben, um eine Informationsblockade wie am 11. April 2002 nie wieder zuzulassen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. April 2013


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