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"La diaria" – das Wunder von Uruguay

Ein kleines linkes Blatt mauserte sich in nur wenigen Jahren zur zweitgrößten Tageszeitung

Von Bettina Hoyer *

Vor fünf Jahren gründete eine Kooperative in Uruguay das linke Zeitungsprojekt »La diaria«. Inzwischen sind die Macher mit ihrem kritischen und modernen Schreibstil auf Erfolgskurs.

»Ihr wollt auf einen sehr schwierigen Markt. Ihr habt kein Geld. Ihr werdet an den Zeitungskiosken nicht verkauft. Ihr müsst also ein Verteilungsproblem lösen. Und was passiert, wenn ein Nachbar dem anderen die abonnierte Zeitung klaut? Wenn der Hund sie schnappt und zerbeißt? Wenn die Zeitung vom Regen nass wird? Dann wollt ihr auch noch eine Kooperative sein! Wäre es nicht viel besser, ihr gründet ein ganz ›normales‹ Unternehmen?« Marcelo Pereira grinst verschmitzt. Dies seien häufige Reaktionen auf den Wagemut gewesen, vor fünf Jahren die uruguayische Tageszeitung »La diaria« aus der Taufe zu heben.

Der 53-jährige Politikjournalist ist Chefredakteur und Mitbegründer des Blattes, das auf 16 Seiten im Tabloid-Format von montags bis freitags in ganz Uruguay erscheint. Mit 1050 Abonnements fingen sie an. Unterstützung kam aus sozialen Netzwerken, Freunde und Bekannte halfen mit einem Abo und ermöglichten den Anfang. Heute hat das Blatt rund 7000 Abonnenten – es ist nur auf diesem Wege zu beziehen –, es hat sich zur zweitgrößten von insgesamt fünf Tageszeitungen in Uruguay gemausert. In einem Land, das nur 3,5 Millionen Einwohner hat, ist das eine beachtliche Leserzahl.

»La diaria« hat als einzige Zeitung in Uruguay in den letzten Jahren zulegen können. Bei der Konkurrenz stagnieren die Auflagen oder sie brechen ein. »Wir wissen bis jetzt noch nicht, wo unsere Wachstumsgrenze ist«, sagt Pereira. Größte Zeitung des Landes ist das konservative Blatt »El País« mit einer täglichen Auflage von 10 000 Exemplaren. Wenn das Zeitungskollektiv diese Zahlen erreichen könnte, könne sich das Projekt selbst tragen, führt er aus. Einnahmen und Ausgaben hielten sich bereits jetzt die Waage, doch das Kollektiv hat noch Schulden aus den Anfangszeiten.

Die Zeitung beschäftigt 150 Mitarbeiter, 30 davon sind Journalisten und Fotografen. Diejenigen, die sechs Stunden täglich für »La diaria« arbeiten, erhalten rund 300 Euro Lohn – alle anderen entsprechend weniger. Zum Leben reicht das nicht. Die meisten haben daher noch zwei bis drei andere Jobs. »Das geht, weil unsere Leute sehr jung sind. Aber sie bekommen Kinder und dann sieht die Sache schon anders aus«, sagt der Chefredakteur, der auch der Älteste im Team ist. Bisher seien trotzdem kaum Leute gegangen. »Das ist wie mit dem Vögelchen, das in deiner offenen Hand sitzt. Es könnte wegfliegen. Aber es will gar nicht.«

Es sei die Freiheit beim Schreiben und der Reiz der Eigenverantwortlichkeit. Eine gelebte, kritische »linke« Position und Mitbestimmung als Prinzip, beschreibt Pereira, der während der Diktatur im Widerstand aktiv war, die Vorzüge der Zeitung. Keine Unterstützung einer Partei, eine kritische linke Position auch zur derzeit regierenden »Frente Amplio«, darauf habe man sich verständigt.

»La diaria« macht überhaupt einiges anders als die anderen Blätter. Statt alle Leser in jeder Nische bedienen zu wollen, »sollte das eine Zeitung werden, die in 20 Minuten gelesen werden kann. Denn das ist die durchschnittliche Zeit, die mit Zeitunglesen verbracht wird«, weiß Pereira. Zudem werden alle Artikel namentlich gekennzeichnet. Ein persönlicher Stil ist – im Gegensatz zur üblichen Schreibe der anderen Blätter in Uruguay – erwünscht. Die Fotos in Schwarz-Weiß fallen auf. Und die Namen der Fotografen werden auch genannt. »Das war völlig unüblich in unserem Land. Man wusste nie: Ist das ein Bild aus dem Archiv oder ist es von gestern? Und von wem?« Mit dem Abo-Vertrieb werde zudem die mafiöse Verkaufsstruktur an den Kiosken des Landes umgangen. Und es komme gut an, wenn die Zeitung, die dadurch sogar mit umgerechnet 60 Cent billiger als die Konkurrenz ist, ins Haus geliefert werde. Zielgruppe sind junge Leser und Leserinnen bis 35 Jahre. Ein Lesepublikum, das bisher wenig beachtet wurde.

Chefredakteur Pereira wünscht sich, dass »La diaria«, was in Argentinien und Uruguay auch umgangssprachlich »Grundversorgung« bedeutet, künftig Mitarbeiter selbst mit zwei Kindern noch ernähren kann. Und »dass sie mich mit jedem Tag weniger brauchen. Dass neue Leute ins Kollektiv kommen, das Vermächtnis des Projekts aufnehmen und es weiterentwickeln«.

* Aus: Neues Deutschland, 23. April 2011


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