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Medienfreiheit nicht nur für Ungarn

MEDIENgedanken: Zensur in Europa

Von Jörg Becker *

Da wartet also nun die EU-Kommission bis zum 4. Februar auf einen Bericht aus Budapest zum neuen ungarischen Mediengesetz. Die Ungarn mögen der EU-Kommission folgende drei Punkte erläutern: Stimmt es, dass sich auch Blogs bei der Medienaufsicht registrieren lassen müssen? Trifft es zu, dass dieses Gesetz auch für ungarischsprachige Medien im Ausland gelten soll? Und verlangt das neue Gesetz auch bei den sogenannten on-demand-Medien eine »Ausgewogenheit«?

Doch der kritische Geist des Europäischen Parlaments wird mit diesen nur drei Fragen der EU-Kommission fast hintergangen, hatte doch das Parlament im neuen ungarischen Mediengesetz eine frontale Attacke auf die Medienfreiheit insgesamt gesehen. Am deutlichsten hatte sich bei diesen Angriffen gegen das ungarische Mediengesetz Martin Schulz, SPD-Abgeordneter aus Aachen und Fraktionsvorsitzender der Sozialisten, hervorgetan. Auch er legte eine Art Drei-Punkte-Programm gegen Ungarn vor: Erstens sei die Opposition im Medienrat nicht vertreten. Zweitens verletze die Regierungsmöglichkeit zur Verhängung von Sanktionen gegen einzelne Medien das Prinzip der Gewaltenteilung; so etwas sei Aufgabe der Justiz und nicht der Exekutive. Und drittens schließlich könne man »ausgewogene« Berichterstattung nicht von oben anordnen; es gebe ein Medienrecht auf Unausgewogenheit und eigenwillige Meinung.

Die Kritik am neuen ungarischen Mediengesetz ist gerechtfertigt. Ungarn muss sich in der Tat den Vorwurf gefallen lassen, »europäische Werte« und den berühmten »Geist des Lissabonner« Vertrages zu verletzen. Und Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle sind dazu aufgerufen, gegen dieses Gesetz Sturm zu laufen. Aber es gibt sowohl kleine als auch große Anmerkungen, die man dazu machen muss.

Erstens: Weder das Völker- noch das Menschenrecht kennt den Begriff der Medienfreiheit. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gibt es nur den Begriff der Meinungsfreiheit. Eine Pressefreiheit – so wie es die Zeitungsverleger schon 1948 gerne gehabt hätten – kann es menschenrechtlich nicht geben, erst recht keine Medienfreiheit.

Zweitens: Die TV-Richtlinie der EU legt seit Langem fest, dass grenzüberschreitendes Fernsehen nach dem Recht des Sendestaats geregelt wird. Aber dieses Prinzip bevorzugt große Länder, da sie über immens große TV-Ressourcen und große Medienkonzerne verfügen, die es in kleinen Ländern nicht gibt. Kann man dagegen nicht die Rebellion eines kleinen Landes wie Ungarn nachvollziehen?

Drittens: Um die strukturelle Misere der gegenwärtigen ungarischen Medienpolitik zu begreifen, muss man einen Blick auf die jüngste Geschichte des Landes werfen. Erinnert sich niemand mehr daran, dass nach dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 90er Jahre gerade die ungarischen Medien durch eine bemerkenswert anstößige Koalition aus ehemals höchsten Funktionären der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) und hochrangigen Vertretern der Axel Springer AG die ungarischen Zeitungen in einem Ausmaß privatisierten, wie es in keinem westeuropäischen Land bis dato praktiziert worden war? Wo soll eine demokratische und partizipative Medienkultur in Ungarn herkommen, wenn sie sowohl unter der USAP als auch unter Springer völlig unter die Räder kam?

Doch diese Gedanken betreffen nur drei kleine Abers und es gäbe viele weitere. Das größte Aber betrifft freilich die Glaubwürdigkeit der im Westen Europas handelnden Länder und Politiker. Da regiert in Italien seit Langem Silvio Berlusconi mit seinen Medien- und Werbekonzernen ein ganzes Land: schamlos, ohne Gesetz und nur mit käuflichen Gruppen- und Freundescliquen. Da schafft es in Italien seit Jahren eine Politikergruppe, sich parlamentarisch selbst zu ermächtigen, eine nicht mehr auflösbare Liaison aus Politik, Geschäft, Unterhaltung, Sex, Fernsehen und Zeitungen einzugehen, um sich selbst Pfründe zu sichern. Ganz Italien ist inzwischen zu einer 24-Stunden-TV-Talkshow verkommen – die einen spielen, die anderen gucken Theater. Italien als neoliberaler Selbstbedienungsladen für die Reichen und Schönen!

Es ist besonders das Unvermögen einer Sozialdemokratie, Medienfreiheit nur noch in Abwehrposition von Staat denken und definieren zu können, aber sich kaum um Freiheitsbeschränkungen durch privatwirtschaftliche Medienmonopole zu kümmern. Da ist der Vatikan fortschrittlicher. In seiner Instruktion »Aetatis Novae« über Medienpolitik von 1992 geißelt der Heilige Stuhl nicht nur »staatliche Medienkontrolle«, sondern ebenso das »Profitdenken und die Interessen der Werbefachleute« und solche Medien, die, »vom Profitgeist getrieben, künstliche Konsumbedürfnisse und Konsumvorbilder erzeugen.«

Ich finde die Debatte um Ungarns Mediengesetz unerträglich heuchlerisch!

* Der Autor ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an den Universitäten in Marburg und Innsbruck.

Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2011



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