Donbass droht auch offiziell Kriegszustand
Präsident Turtschinow reiste ins Krisengebiet
Von Klaus Joachim Herrmann *
Einen Plan zur friedlichen Lösung
des Konfliktes in den Gebieten
Donezk und Lugansk kündigte der
designierte ukrainische Präsident
Petro Poroschenko bei einem
Treffen mit US-Präsident Barack
Obama am Mittwoch in Warschau
für die Zeit unmittelbar nach seiner
Amtseinführung an. Das wäre
der kommende Samstag.
Bereits an diesem Mittwoch
begab sich zur Aufklärung der
»komplizierten Lage« der bis dahin
immer noch als Übergangspräsident
agierende Alexander
Turtschinow in den umkämpften
Osten. Eine weitere schwierige
Aufgabe ließ er in der Hauptstadt
Kiew zurück. Der Sicherheits- und
Verteidigungsrat war am Vortag
von ihm beauftragt worden, die
Notwendigkeit einer Einführung
des Kriegszustandes im Donezker
und Lugansker Gebiet, also in den
nach deren eigenem Verständnis
neuen »Volksrepubliken«, zu prüfen.
Dieser Auftrag des Oberkommandierenden
ließe sich als Eingeständnis
der Erfolglosigkeit der
am 15. April entfachten »Anti-
Terror-Operation« deuten. Sonst
müsste kaum eine weitere Stufe
der Eskalation unter dem Vorwand
einer »Begrenzung des Konfliktes
« und der Vermeidung
»massenhafter Opfer unter der
friedlichen Bevölkerung und den
Militärdienstleistenden«, wie es
im präsidialen Prüfauftrag heißt,
genommen werden. Selbst der
Erste Vizepremier Witali Jarema
zeigte sich unentschlossen. Eine
Einschränkung der Bürgerrechte
könne der Lösung der Probleme
nützen, ihr aber auch schaden,
vertraute er Journalisten laut
UNIAN vor der Regierungssitzung an.
Die bewaffnete Auseinandersetzung
in der Ostukraine dauerte
an. Gemeldet wurde eine Attacke
hunderter prorussischer Separatisten
auf Soldaten der ukrainischen
Armee in der Stadt Lugansk
in der Nacht zu Mittwoch. Es sei
über zehn Stunden lang gekämpft
worden. Das ukrainische Militär
informierte, die »aktive Phase der
Anti-Terror-Operation« gegen
Slawjansk, Semjonowka und
Krasny Liman dauere an. Am
Dienstag seien im Gebiet Donezk
300 Angehörige der Volkswehr
getötet und 45 ukrainische Soldaten
verletzt worden. Die Angaben
schwanken jedoch je nach
Quelle zwischen Dutzenden und
einigen Hunderten.
Mehr als 7000 ukrainische
Flüchtlinge seien im südrussischen
Gebiet Rostow eingetroffen,
informierte laut RIA/Novosti
der russische Beauftragte für Kinderrechte,
Pawel Astachow. Mit
jedem Tag nehme die Flüchtlingszahl
zu. Der Beschuss der ostukrainischen
Stadt Slawjansk erschwere
jedoch derzeit ein sicheres
Verlassen der Stadt. »Vorerst
kann niemand aus Slawjansk ausbrechen.
Die Stadt ist blockiert
und unter Beschuss genommen.«
Rund 40 Prozent der Einwohner
haben aber nach Angaben des
»Volksbürgermeisters« Wjatscheslaw
Ponomarjow bereits die
Stadt verlassen.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Juni 2014
Massenmord im Donbass
Kiews Truppen setzen erneut Artillerie und Luftwaffe ein. Berichte über Tötung verwundeter Aufständischer in Krankenhaus. Westen verspricht Poroschenko Hilfe
Von Arnold Schölzel **
Bei schweren Kämpfen im Osten der Ukraine haben Regierungstruppen seit Dienstag nach Regierungsangaben mehr als 300 Aufständische getötet. Der Presseoffizier der »Antiterroristischen Operation« Kiews, Wladislaw Selesnjow, erklärte am Mittwoch, bei den Gefechten rund um die Stadt Slowjansk seien zudem rund 500 Rebellen verletzt worden. Auf Seiten der Armee seien zwei Soldaten getötet und 45 verletzt worden. Eine Sprecherin der Aufständischen erklärte lediglich, die Zahl der Toten in der Region steige kontinuierlich. Die Streitkräfte Kiews beschossen erneut verschiedene Orte mit Artillerie und setzten die Luftwaffe ein. Dabei wurde u. a. die Wasserversorgung mehrerer Städte der Region Lugansk zerstört. Übergangspräsident Alexander Turtschinow koordinierte die Operation persönlich am Mittwoch vor Ort. Am Dienstagabend hatte auch die OSZE auf Grund eigener Beobachtungen bestätigt, daß am Montag im Zentrum von Lugansk ein Luftangriff stattgefunden hatte (siehe jW vom Dienstag). Das leugneten Verantwortliche in Kiew weiterhin ebenso wie auch die in Washington von Journalisten nach dem Vorfall befragte Sprecherin des US-Außenministeriums Jen Psaki.
Der Chef der »Volksrepublik Donezk«, Denis Puschilin, teilte der Nachrichtenagentur Itar-Tass mit, im Krankenhaus der Stadt Krasny Liman nördlich von Slowjansk seien mehr als 25 verwundete Rebellen von regierungstreuen Bewaffneten erschossen worden. Er sprach von einem »himmelschreienden Kriegsverbrechen«. Nach anderen Quellen handelte es sich bei den Mördern um Angehörige des faschistischen »Rechten Sektors«. Die zuständige Eisenbahnbehörde bestätigte, daß am Dienstag Einrichtungen der Bahn, Vorortbahnen und das benachbarte Krankenhaus in Krasny Liman aus der Luft angegriffen worden seien. Dabei seien Patienten, aber auch ein Arzt getötet worden.
Angesichts der Brutalitäten und der Flucht Tausender Einwohner nach Rußland, forderte Moskau erneut den Westen auf, die Strafaktion in der Ostukraine zu stoppen.
In NATO und EU sowie den meisten Medien des Westens ist das Interesse an dem von Kiew forcierten Krieg jedoch gering. US-Präsident Barack Obama, der in Warschau den gewählten Präsidenten der Ukraine Petro Poroschenko traf, garantierte dem Land dauerhafte militärische Hilfe. Er warf Rußlands Präsidenten Wladimir Putin »dunkle Taktiken« und eine »Aggression« vor. Am Dienstag hatte Obama die Stationierung zusätzlicher US-Soldaten in Osteuropa angekündigt und für die »Sicherheit Polens und der anderen Verbündeten in Mittel- und Osteuropa« eine Milliarde US-Dollar (735 Millionen Euro) bereitgestellt. Am Mittwoch lehnte allerdings nach Tschechien auch die Slowakei eine Stationierung von NATO-Truppen ab. Ähnlich wie Obama drohte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag Rußland mit neuen Sanktionen und rechtfertigte dessen Ausschluß vom G-7-Gipfel am Abend in Brüssel. Sie behauptete: »Indem Rußland seine Grenzen nicht oder nicht ausreichend kontrolliert und in großem Umfang Kämpfer und Munition in den Südosten der Ukraine gelangen können, trägt dies weiter zur Destabilisierung des Nachbarn bei«.
Unterdessen zeichnet sich ab, daß der Führer des »Rechten Sektors« in der Ukraine, Dmitri Jarosch, in der von Poroschenko zu bildenden Regierung einen hohen Posten erhalten wird. Das teilte ein Sprecher der Faschisten am Mittwoch mit.
** Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Juni 2014
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