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Wer hat womit geschossen?

Vermutungen und Indizien zum Flug MH17: Ein Jahr danach ist der Abschuss der malaysischen Boeing über der Ostukraine nach wie vor nicht aufgeklärt

Von Reinhard Lauterbach *

UNO-Tribunal gefordert

Malaysia, die Niederlande und die Ukraine haben im Weltsicherheitsrat einen Resolutionsentwurf eingebracht, der die Einberufung eines UN-Tribunals zur Klärung der Verantwortung für den Abschuss von Flug MH17 über dem Donbass vor einem Jahr fordert.

Die Chancen auf eine kurzfristige Realisierung dieser Forderung sind jedoch gering. Der russische UNO-Botschafter Witali Tschurkin nannte den Antrag »vorschnell« und kritisierte, dass die Initiatoren nicht einmal die Veröffentlichung des offiziellen Untersuchungsberichts abwarten wollten, bevor sie Schlussfolgerungen zögen. Es wird damit gerechnet, dass Russland den Antrag notfalls mit seinem Veto stoppt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow, sagte, wenn schon ein internationales Tribunal zu Flugzeugabschüssen, dann möge es bitte auch den Abschuss einer iranischen Maschine durch die US-Luftwaffe 1988 mit über 250 Toten und den einer russischen Verkehrsmaschine durch übende ukrainische Truppen über dem Schwarzen Meer 2001 untersuchen.

An der Unglücksstelle will die international nicht anerkannte »Volksrepublik Donezk« am heutigen Freitag eine Gedenkfeier veranstalten. Dies kündigte der Präsident der Republik, Alexander Sachartschenko, am Dienstag an. Anwohner der Unglücksstelle haben schon spontan einen kleinen Gedenkstein angebracht und ihn mit Kinderspielzeug aus dem abgestürzten Flugzeug und anderen Erinnerungen an die Opfer geschmückt. Nach Schätzungen der örtlichen Behörden sind etwa 40 Prozent der Trümmer und sonstigen Überreste des Absturzes weiterhin nicht geborgen. Eine TV-Reportage der russischen staatlichen Föderalen Nachrichtenagentur (FAN) von Anfang der Woche zeigte auch ein handgemaltes Schild an der Absturzstelle, das Vorbeikommende zu einem stillen Gebet für die Opfer auffordert. Interviewte Anwohner trugen zum Hergang der Katastrophe wenig Neues bei; interessant an dem Bericht ist freilich die Aussage einer alten Frau: »Wir wissen nicht, wer sie abgeschossen hat.« Angesichts des bisher vertretenen russischen Standpunkts, es seien Ukrainer gewesen, stellt sich die Frage, ob dieses Zitat »durchgerutscht« ist oder ob hier diskret eine Position geräumt wurde. (rl)



Sicher ist zum heutigen Tage nur die Zahl der Opfer von Flug MH17: 298 Insassen der malaysischen Boeing 777 kamen ums Leben, als die Maschine am Nachmittag des 17. Juli 2014 über den damals umkämpften Regionen des Donbass abgeschossen wurde. Sofort danach beginnen die Ansichten auseinanderzugehen. Die Frage »Wer hat geschossen?« ist dabei verbunden mit der Frage »Womit wurde geschossen?«

Ein erster niederländischer Untersuchungsbericht vom September 2014 war in der Sache nichtssagend: Das Flugzeug sei »von einer Vielzahl hochenergetischer Partikel« getroffen und zum Absturz gebracht worden. Hochenergetische Partikel, das heißt: bei der Explosion eines Sprengkopfes auseinandergejagte Splitter, die die Außenhaut des Flugzeugs durchschlagen und die hydraulischen Systeme beschädigt hätten. Über den Urheber machte dieser Bericht keine Aussagen. Doch die Richtung ist klar: Es war eine Rakete. Wahrscheinlich des hochreichenden sowjetischen Systems BUK. Blieb die Frage, wer sie abgefeuert hatte. In Frage kamen: die ostukrainischen Aufständischen, russische oder ukrainische Truppen.

Die ersten Anschuldigungen wiesen in erwartbare Richtungen. Kiew beschuldigte die Rebellen und/oder Russland. Moskau legte bereits vier Tage nach dem Abschuss Satellitenaufnahmen vor, aus denen hervorgehen sollte, dass ukrainische Truppen verantwortlich waren. Eine ukrainische Flugabwehrraketeneinheit sei in jenen Tagen nordwestlich von Donezk stationiert gewesen und habe Raketen verschossen. Man fragt sich freilich, wozu sie dort hätte sein und zudem noch ihre teuren Raketen verschießen sollen: Die Aufständischen hatten keine eigene Luftwaffe; russische Kampfflugzeuge sind im Donbass nie in Erscheinung getreten. Moskauer Quellen suggerierten einige Tage lang, an der Stationierungsstelle seien aus dem Weltall Haufen von leeren Bierflaschen sichtbar gewesen. Das Unglück – ein Manöverunfall im Suff?

Hingegen hatten die Aufständischen in den Tagen vor dem Unglück bewiesen, dass sie eine effiziente Luftabwehr besaßen. Seit Beginn der Kämpfe hatten sie mit kleinen schultergestützten Raketen tieffliegende ukrainische Hubschrauber und Flugzeuge vom Himmel geholt, darunter eine den Flughafen Lugansk anfliegende IL-76 mit 49 Menschen an Bord. Drei Tage vor dem 17. Juli hatten sie erstmals eine ukrainische Maschine in 6.500 Metern Höhe abgeschossen. Als Reaktion sperrte die Ukraine den Luftraum über dem Donbass, aber nur bis in eine Höhe von 10.000 Metern. Warum nur darunter, ist bis heute eines der bestgehüteten Geheimnisse der Akte MH17.

Freilich ist die BUK-Rakete ein hochkomplexes Waffensystem, das man erst nach einer mehrmonatigen Ausbildungszeit bedienen kann. Das spricht gegen Aufständische als Schützen. Der Kiewer Verdacht – dem sich die USA rasch anschlossen, ohne Erkenntnisse ihrer eigenen Satellitenaufklärung beizutragen – richtete sich also schnell gegen ins Donbass »ausgeliehene« reguläre russische Truppen. Einen Tieflader mit einer Abschussrampe sichteten ukrainische Blogger noch am Abend des Abschusses und stellten das Bild ins Netz. Aufgrund einer mitfotografierten Reklametafel entbrannte ein Streit, wo die Aufnahme entstanden sei: in Krasnodon – also im Rebellengebiet kurz vor der Grenze zu Russland – oder in der von der Ukraine kontrollierten Stadt Krasnoarmijsk im Westen des Donbass? Zuletzt besserten westliche Rechercheure nach und behaupteten, der Transport sei in Lugansk fotografiert worden. Die aus westlichen und ukrainischen Geheimdienstquellen gefütterte britische Recherchegruppe »Bellingcat« wollte sogar die Route des Transports rekonstruiert haben: in zwei Tagen einmal quer durch das Aufstandsgebiet. Die Frage bleibt freilich, warum ein solcher russischer Transport – der angesichts der Brisanz des Einsatzes hätte diskret abgewickelt werden müssen – durch mehrere ostukrainische Großstädte gefahren sein soll, wo man ihn fotografieren und bezeugen konnte. Überdies fehlt die Antwort auf eine Frage: Russland mag die Mittel gehabt haben, die Boeing abzuschießen – aber wo bleibt das Motiv?

Noch schneller als die Niederländer war aus Russland ein »Verband russischer Ingenieure« mit einer Expertise auf dem Markt. Das bereits etwa einen Monat nach der Katastrophe ins Netz gestellte Papier stützt sich auf die bereits am 21. Juli veröffentlichten russischen Satellitenbilder und entwickelte ein ganz anderes Szenario: Die malaysische Boeing sei eben nicht mit einer Boden-Luft-Rakete beschossen worden, sondern zunächst aus der Bordkanone eines ukrainischen Kampfjets an- und dann mit einer Luft-Luft-Rakete abgeschossen worden. Die Bordkanonenhypothese stützt sich auf eine Analyse der am Boden aufgeschlagenen Wrackteile und der in ihnen zu sehenden Löcher. Die seien zu groß und zu rund für eine BUK-Rakete. Unabhängig von den russischen Ingenieuren war gleichzeitig der deutsche Luftfahrtblogger und Expilot Peter Haisenko zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Die Brisanz dieser These beruht darauf, dass sie Vorsatz voraussetzt, wenigstens bedingten. Sie wird vermutlich aus diesem Grund von offizieller russischer Seite nicht vertreten. Im Winter 2014/15 präsentierte das russische Fernsehen einen ehemaligen ukrainischen Luftwaffenoffizier, der behauptete, ein Kamerad von ihm sei am Abend des Unglückstages verstört von einem Feindflug zurückgekommen und habe etwas von einem »falschen Flugzeug am falschen Ort« gestammelt. Als die ARD seinen Kameraden im Winter vor die Kamera bekam, erklärte er, der Vorfall habe sich zwei Tage später abgespielt, und er sei verstört gewesen, weil zwei seiner Kameraden auf derselben Mission abgeschossen worden seien. Warum das doppelte Dementi, wenn eines gereicht hätte?

Vielleicht muss die Frage nach dem Vorsatz auf einer anderen Ebene als der des einzelnen Piloten angegangen werden. Warum hat die Ukraine, obwohl sie seit dem 14. Juli wusste, dass die Rebellen hochreichende Raketen hatten, den Luftraum nur unterhalb von 10.000 Metern gesperrt, obwohl der zivile Luftverkehr knapp oberhalb dieser Grenze abläuft? Waren es wirklich nur die finanziellen Motive – der drohende Verlust der Überfluggebühren –, wie etwa der Berliner Luftfahrtrechtler Elmar Giemulla vermutet, der die deutschen Opfer in einer Schadenersatzklage gegen Kiew vertritt? Oder wurde hier in Kiew eine kaltblütige Provokation eingefädelt – man spielte mit dem Leben der Passagiere eines beliebigen Zivilflugzeuges, im Wissen, dass ein Zivilflugzeug die Freund-Feind-Kennung nicht besitzt, auf die Luftabwehrraketen ansprechen, weil es sie nicht braucht, denn über Kriegsgebieten haben Zivilmaschinen nichts zu suchen? Indem es für einen gegnerischen Zielschützen praktisch unmöglich ist, bei ausbleibender »Freund«-Kennung ein Zivilflugzeug und eine angreifende Militärmaschine auf dem Radar zu unterscheiden, so dass ein tragischer Fehler praktisch unausweichlich war? Auch wenn das nur ein Indizien und keine Beweise sind: Die weitere politische Entwicklung lief ganz im Kiewer Sinne. Wenige Tage später verhängte die EU erstmals umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Russland.

Jedenfalls hat Kiew offenbar etwas zu verbergen. Wenige Tage nach dem Abschuss vereinbarten die beteiligten Staaten auf ukrainischen Antrag eine Schweigeverpflichtung: Ermittlungsergebnisse dürfen nur mit Einwilligung aller Beteiligten veröffentlicht werden. Insofern wäre es ein kleines Wunder, wenn der für den Oktober angekündigte offizielle Report aus den Niederlanden substantiell Neues bekanntmachen würde.

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. Juli 2015


Auffälliges Schweigen

Von Reinhard Lauterbach **

Als Russland vier Tage nach dem Abschuss von MH17 seine Satellitenbilder veröffentlichte, wussten die USA sofort eines: alles Lüge. Man werde schon bald eigene Aufnahmen und eindeutige Beweise gegen Moskau vorlegen.

Inzwischen ist ein Jahr vergangen, und die angekündigte Publikation der amerikanischen Aufklärungsbilder steht weiterhin aus. Die Erklärungen dafür waren anfangs skurril: Da hätten die zum Abschusszeitpunkt dichten Wolken die Satelliten am Knipsen gehindert, und ein über dem Schwarzen Meer herumfliegendes AWACS-Aufklärungsflugzeug habe gerade den Film gewechselt. Später gab es gar keine Begründungen mehr.

Ray McGovern, 27 Jahre lang als Analyst bei der CIA beschäftigt, hat eine andere Erklärung für dieses Schweigen. Die eigenen Aufklärungsbilder der USA bewiesen offenbar nicht das, was sie sollten, und würden aus politischen Gründen zurückgehalten. Besäße Washington eindeutige Beweise für eine Schuld der Regierungsgegner, so würde »John Kerry oder sonstwer das von jedem Dach krähen«. Statt dessen ziehe es Washington vor, die Sache in der Schwebe zu halten und es bei allgemeinen Beschuldigungen Russlands und der »prorussischen Separatisten« zu belassen. McGovern berief sich in einem Gespräch mit der russischen Agentur TASS auf frühere Kollegen, die noch in der CIA aktiv seien. Er forderte eine »wirklich unabhängige Untersuchung«, ohne freilich zu präzisieren, wer diese Untersuchung vornehmen solle.

McGovern, Jahrgang 1939, zählt zu den Gründern der Gruppe »Ehemalige Aufklärer für gesunden Menschenverstand« (Veteran Intelligence Professionals for Sanity), die sich im vergangenen Jahr auch mit der Aufforderung an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt hatte, nicht blind dem US-Kurs zu folgen (siehe jW vom 4. September 2014). 2006 gab er eine ihm zur Pensionierung verliehene Auszeichnung der CIA aus Protest gegen die Teilnahme von Agenten des Dienstes an der Folterung von »Terror«verdächtigen zurück.

** Aus: junge Welt, Freitag, 17. Juli 2015


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