Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bilderstreit um MH17

Rüstungsfirma widerspricht Vermutung über Abschuss der malaysischen Boeing in der Ostukraine durch russische BUK-Raketen. Hinweise auf Fehler in "Bellingcat"-Analyse

Von Reinhard Lauterbach *

Der russische Hersteller des Luftabwehr-Raketensystems BUK, Almaz-Antey, hat energisch der Beschuldigung widersprochen, ein an die russische Armee geliefertes Modell der Rakete sei für den Absturz der malaysischen Boeing im Juli 2014 verantwortlich. Hingegen passten die Einzelheiten des Absturzes zu der Hypothese, dass eine ukrainische BUK-Batterie die tödliche Rakete abgeschossen habe. Wie das Unternehmen am Dienstag in Moskau erklärte, sprächen hierfür sowohl der Einschlagwinkel der Raketensplitter in das abgeschossene Flugzeug als auch bestimmte Charakteristika ihrer Flugbahn. Außerdem hätte die Rakete, wenn sie aus dem Gebiet der Aufständischen abgeschossen worden wäre, das malaysische Flugzeug von vorn getroffen und dessen Kabine abgesprengt. Die Reste des Cockpits waren jedoch in vergleichsweise gut erhaltenem Zustand geborgen worden.

Auf welcher Datengrundlage sich Almaz-Antey äußerte, wurde nicht mitgeteilt. Die Originalfragmente der Boeing befinden sich in den Niederlanden. Die dortigen Behörden haben für den Herbst 2015 ihren Abschlussbericht angekündigt.

Nach Darstellung von Almaz-Antey hat das Unternehmen in den 1990er Jahren Raketen für die BUK1-Systeme an die Ukraine geliefert. Kiews Armee habe zuletzt 991 Stück davon besessen. Noch im Jahre 2005 hätten Techniker des Betriebs in der Ukraine daran gearbeitet, die Lebensdauer der alten Projektile zu verlängern.

An der Kritik der britischen Rechercheplattform »Bellingcat« an den russischen Satellitenfotos vom Abschussgebiet aus dem vergangenen Juli mehren sich inzwischen die Zweifel. Sowohl russische als auch westeuropäische Experten für digitale Bildbearbeitung wiesen darauf hin, dass allein die Aussage, eine Aufnahme sei nachträglich bearbeitet worden, wenig bedeute. Jedes Originalbild werde vor seiner Veröffentlichung zwangsläufig zugeschnitten, in einem geläufigen Format gespeichert und datenreduziert. Dies sei kein hinreichender Hinweis auf eine böswillige Manipulation. Das Programm »fotoforensics«, mit dem die britischen Rechercheure Hinweise auf nachträgliche Bildbearbeitung gefunden haben wollen, sei unprofessionell benutzt und die Ergebnisse tendenziös interpretiert worden: Jedes neue Abspeichern einer Vorlage erhöhe den Anzeigewert für Veränderungen am Originalbild.

Bei der Bildserie angeblicher russischer Militärfahrzeuge im Konfliktgebiet mit einer wachsenden Öllache an einem davon leistete sich »Bellingcat« im übrigen einen Chronologiefehler. Die größte der unterstellten Öllachen ist nicht auf dem zeitlich letzten der sechs Bilder zu sehen, sondern auf einem aus der Mitte des Beobachtungszeitraums. Im übrigen scheint es zweifelhaft, dass es Wochen braucht, bis das Motoröl aus einem Fahrzeug ausgelaufen ist, das – wie Änderungen in seinem Abstellwinkel gegenüber anderen Fahrzeugen zeigen – in der Zwischenzeit bewegt worden sein muss.

Dafür wies ein niederländischer Blogger darauf hin, dass eines der zentralen »Beweisfotos« für den angeblichen BUK-Abschuss der Aufständischen ebenfalls nachträglich bearbeitet worden war. Das auch in einem kürzlich ausgestrahlten ARD-Film gesendete Bild zeigt eine Säule von Kondensationsgas vor wolkenlosem blauem Himmel. Aus allen Wetteraufzeichnungen ergibt sich jedoch, dass am Unglückstag der Himmel bedeckt war. Um dem Vorwurf einer plumpen Fälschung zu entgehen, rechtfertigte sich »Bellingcat« inzwischen damit, dass »zur Erhöhung des Kontrasts« die Blauwerte des Himmels verändert worden seien. Wenn es mal nur die waren.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 03. Juni 2015


Fälschungsanschuldigung gegen Russland nicht haltbar

Recherchegruppe wirft Russland Fälschung von Satellitenbildern vor / Bildanalyse wird jetzt in Frage gestellt **

Medienjournalisten werfen der Recherchegruppe vor, in ihrer Analyse der angeblich gefälschten russischen MH17-Satellitenbilder nicht stichhaltig zu argumentieren. Die Gründe für MH17 Absturz sind weiter unklar.

Es ist die Art von Nachricht zur Ukrainekrise, die in den großen Medien lange erwartet und dann fast bejubelt wird: »Moskau fälschte Satellitenbilder vom MH17-Abschuss« (FOCUS). Am Montag konnte man diese Überschrift so – oder so ähnlich - in allen großen Medienportalen von Tagesschau bis Spiegel lesen.

Hintergrund der Meldung: Die Recherchegruppe Bellingcat untersuchte die von Russland vorgelegten Satellitenbilder, mit denen das russische Verteidigungsministerium den Abschuss des MH17-Fluges der Malaysian Airline durch eine ukrainische Flugabwehrrakete beweisen wollte. Bellingcat kam nach einer »forensischen Untersuchung« zu dem Schluss, dass Russland mehrere dieser Bilder mit dem Bildbearbeitungsprogramm Photoshop manipuliert hätte.

Zweifel an dieser Analyse der Rechercheplattform wurden am Mittwoch gleich von mehreren Medienjournalisten geäußert. So erörtert Stefan Niggemeier auf seinem Blog, warum die von Bellingcat vorgebrachten Belege nicht stichhaltig seien.

Photoshop-Bearbeitung: Sagt nichts über Fälschung aus

Unter anderem machte Bellingcat die Fälschung daran fest, dass die Metadaten der Fotos eine nachträgliche Bearbeitung mit Photoshop anzeigen würden. Niggemeier führt aus, dass diese Bearbeitung nicht automatisch auf eine Fälschung hinweise. Schon die Aufbereitung der Fotos für die Pressepräsentation, darunter das Versehen der Bilder mit erklärenden Beschriftungen, werde als Photoshop-Bearbeitung in den Metadaten festgehalten.

Auch der digitale Bild-Forensiker Jens Kriese weist im Interview mit Spiegel online darauf hin, dass Russland vermutlich nicht so fahrlässig wäre, ausgerechnet Photoshop für die Bildfälschung zu verwenden und dann nicht einmal die Metadaten zu säubern. Die Nachrichtendienste würden vermutlich bessere Fälschungsverfahren kennen.

Fehlerstufenanalyse ELA: Subjektives Verfahren

Kritisiert wird außerdem die von Bellingcat angewandte Fehlerstufenanalyse »Error Level Analysis« (ELA), mithilfe derer sie nachweisen wollen, dass Russland in die Bilder nachträglich Wolken eingefügt habe – eventuell um unliebsame andere Bildinhalte zu verdecken. In Spiegel Online stuft Jens Kriese dieses Verfahren als »nicht streng wissenschaftich und subjektiv« ein und bezeichnet es als »Hobby-Methode«.

Das von Bellingcat für die Analyse benutzte Tool ist die Seite fotoforensis.com, die von dem Computerwissenschaftler Neal Krawetz gegründet wurde. Dieser twitterte am Montag, die Bellingcat-Analyse sei ein Beispiel dafür, »wie man Bildanalyse nicht durchführen solle« (»how not to do image analysis«).

Vergleich der Satellitenbilder mit Google Earth: Unzuverlässig

Als weitere Fehlerquelle der Bellingcat-Analyse führt Niggemeier den Vergleich mit Google Earth an. Bellingcat argumentierte, dieser Vergleich beweise, dass die russischen Satellitenbilder zu einem anderen Zeitpunkt als angegeben entstanden sein müssen. Man braucht nicht erst die Einschätzung eines Medienspezialisten, um zu wissen, dass die Google Angaben zu den Google Earth-Daten unzuverlässig sind.

Medienkrieg und Bildbearbeitung

All diese Hinweise auf unwissenschaftliche Verfahren und fehlerhafte Schlüsse der Bellingcat-Analyse zeigen, dass sie keine zuverlässige Untersuchung der russischen Satellitenbilder zum MH17-Absturz darstellt. Wie schnell einige der meistgenutzen Medien hierzulande trotzdem auf diesen Zug augesprungen sind, ist Ausdruck der Krisensituation, in der sich die Ukraine und mit ihr die EU und Russland befinden. Ebenso ist es aber Ausdruck der Probleme medialer Berichterstattung in Zeiten varoufakischer Stinkefinger und professioneller Bildbearbeitungsprogramme. Unklar bleibt, ob die Bilder des russischen Verteidigungsministeriums nun manipuliert wurden oder nicht - und wer die Maschine des Malaysia-Airline-Flugs MH17 abgeschossen hat. Klar ist nur, dass der Krieg in der Ukraine weiter von einem Medienkrieg begleitet wird. ek

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 03. Juni 2015


Mörder, Fälscher, Kickstarter-Aufklärer

Fast ein Jahr nach dem Abschuss von Flug MH17 bestimmen Mutmaßungen aus dem Internet die Schlagzeilen

Von René Heilig ***


Die Russen fälschten Satellitenbilder, um den Abschuss von Flug MH17 und damit den Mord an 298 Insassen der Ukraine anzuhängen. So verbreiten es zahlreiche Medien. Ohne kritische Distanz.

Eines ist sicher - der Berg der Lügen wächst weiter. Fast elf Monate sind seit dem Abschuss von Flug MH17 über dem Bürgerkriegsgebiet in der Ostukraine vergangen. Seit Wochenbeginn scheint - wieder einmal - auf der Hand zu liegen: Den Massenmord hat Moskau zu verantworten. Warum sonst fälschte man dort Satellitenfotos und präsentierte sie als Beweise gegen die Ukraine?!

Dass es so ist, will die Internet-Aufklärungsplattform »Bellingcat« herausgefunden haben. Die Mitglieder analysierten zwei Satellitenfotos des russischen Verteidigungsministeriums. Die hatte man eine Woche nach dem Abschuss in Moskau präsentiert. Sie lassen vermuten, dass Einheiten der ukrainischen Truppenluftabwehr am Tag des Absturzes nahe dem Rebellengebiet aktiv waren.

Die Mehrheit der europäischen Medien hatte sich schon so rasch wie unwissend der These verpflichtet, dass das Passagierflugzeug von einer Buk-Flugabwehrrakete getroffen worden ist. Die Initialinformation dazu hatten die USA gestreut, sich aber dann rasch wieder aus der Debatte zurückgezogen. Auf den von Russland präsentierten und nun von »Bellingcat« analysierten Bildern sollte zu sehen sein, dass am Mordtag mindestens eine mobile Buk-Startrampe der ukrainischen Armee nicht mehr auf einem Militärstützpunkt nördlich von Donezk stand. Das zweite Satellitenbild soll belegen, dass zwei Rampen und ein weiteres ukrainisches Militärfahrzeug südlich des Dorfes Zaroschinskoje in Stellung gegangen waren - und somit als Abschussverursacher infrage kommen.

»Bellingcat« will jetzt herausgefunden haben, dass die von Moskau präsentierten Fotos nicht am Abschusstag, dem 14. Juli 2014, aufgenommen wurden, sondern bereits im Juni. Zudem habe jemand die Bilder manipuliert: Die Buk-Raketenrampen seien auf einem Bild entfernt und auf einem anderen hinzugefügt worden. Metadatenanalysen zeigten zudem, dass die Fotos mit Photoshop bearbeitet wurden. Auch die Beschaffenheit der Wolken sei verdächtig.

Bislang hatte der russische Militärgeheimdienst GRU nicht den Ruf, so schlampig zu arbeiten. Doch es kann ja so sein. Womöglich deckt Moskau die Schuldigen und wird dabei von westlichen Diensten unterstützt. Wer checkt die Behauptung von »Billingcat« gegen? Welches zweite Expertenurteil holten diejenigen ein, deren Schlagzeilen jetzt so eindeutig auf Moskau zeigen? Wie fachlich gediegen sind die Analysen der Internet-Rechercheure?

Gründer von »Bellingcat« ist ein Eliot Higgins (36). Er wollte mal Journalist werden. Das wurde nichts. Nun wird er als Finanz- und Verwaltungsfachmann bezeichnet, denn er absolvierte eine Kaufmannslehre. Higgins verbringt sein Leben am Computer, analysiert ins Internet gestellte Fotos und Videos aus Kriegsgebieten, speichert, katalogisiert, vergleicht. Durchaus erfolgreich lokalisierte er Örtlichkeiten, entdeckte dieselben Waffensysteme an verschiedenen Orten, versuchte so Herkunft, Besitz und Bewegung zu klären. Kein Zweifel, auch so muss man Indizien sammeln. Nachrichtendienste tun das seitdem es das Internet gibt. Doch die Geheimdienstfachleute wissen, dass die Internetsicht trügerisch sein kann, dass sie mit anderen Erkenntnissen gepaart werden müssen, bevor man daraus halbwegs sicheres Wissen ableiten kann. Von solcher Recherche ist »Billingcat« weit entfernt.

Seine Karriere als Netz-Aufklärer begann Higgins als Brown Moses - das Pseudonym stammt aus einem Frank Zappa Song. »Moses« kommentierte - auf Teufel komm raus - Meldungen und Artikel. Allein dem britischen »Guardian« soll er über 5000 Meinungsäußerungen angehängt haben. 2012 eröffnete er einen Blog zum Syrien-Krieg - freilich ohne etwas von Waffen oder Militärtaktik zu verstehen. Dass Diktator Assad das Giftgas Sarin mit selbstgebastelten Raketen verschoss, war der Welt dennoch klar. Higgins legte die »Beweise« vor. Natürlich gibt es inzwischen ein Team an seiner Seite, hört man.

2014 rief der Blogger mit Hilfe privater Spenden über die Crowd-Funding-Methode Kickstarter.com »Bellingcat« ins Leben. So ein privates Finanzierungssystem hat - neben vielen Vorteilen - einen entscheidenden Nachteil. Wer Geld wofür gibt, lässt sich recht gut verschleiern.

Eigentlich ist eine herkömmliche Untersuchungsbehörde damit beauftragt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wer schoss womit und warum die Boeing ab? Die Behörde heißt Onderzoeksraad voor Veiligheid - kurz OVV -, sitzt in den Niederlanden und hat eigentlich einen seriösen Ruf. Doch in knapp einem Jahr brachten die Experten nur einen dürren Zwischenbericht zustande. Darin wird festgestellt, dass »Objekte mit hoher Geschwindigkeit« von außen den Rumpf zerfetzten.

So sehr man die (ungenannten) politischen Gründe für die Expertenzurückhaltung auch begreifen mag - solange nicht endlich alle Fakten auf den Tisch kommen, bestimmt unter anderem »Bellingcat« Schlagzeilen. Unkontrolliert. Auch ungewollt?

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 03. Juni 2015


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