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"Feigling" und "Lügnerin" streiten um jede Stimme

Experten sind einig: Der Machtkampf geht nach den Wahlen weiter

Von Detlef D. Pries *

Die Ukrainer haben am Sonntag (7. Feb.) die Wahl zwischen einem »Feigling« und einer »Lügnerin«. Jedenfalls wenn sie sich die Wertungen zu eigen machen, mit denen sich die beiden übrig gebliebenen Bewerber um das höchste Staatsamt im Wahlkampf bepflastert haben.

Als Viktor Janukowitsch am vergangenen Montag (1. Feb.) einem Fernsehduell mit der amtierenden Ministerpräsidentin Julia Timoschenko fernblieb, warf ihm die einstige Sirene der »Revolution in Orange« Feigheit vor. Sie müsse mit einem leeren Stuhl debattieren, wolle aber nicht, dass ein leerer Stuhl auch noch Präsident wird. Der so Gescholtene verkündete am gleichen Abend auf einem anderen Kanal, seine Kontrahentin verdrehe ständig die Fakten, die Wähler hätten ihre leeren Versprechungen längst satt.

Die Ausgangspositionen beider Bewerber stehen seit dem ersten Wahlgang am 17. Januar fest: Janukowitsch startet mit einer »Vornote« von 35,3 Prozent der Stimmen, seine Rivalin liegt fast zehn Prozentpunkte zurück. Dennoch wird ein knappes Resultat erwartet. Janukowitsch habe sein Wählerpotenzial am 17. Januar bereits nahezu ausgeschöpft, mutmaßen Beobachter, die erwarten oder hoffen, dass sich das zersplitterte einstige »orange Lager« geschlossen hinter Julia Timoschenko stellt.

Die Premierministerin warb denn auch verbissen um die Unterstützung der ausgeschiedenen Kandidaten. Vor allem Sergej Tigipko, der in der ersten Runde mit 13 Prozent der Stimmen ein überraschend gutes Ergebnis eingefahren hatte, konnte sich ihrer Angebote kaum erwehren. Der frühere Vizepremier, der ins Bankgeschäft gewechselt war, verhandelte jedoch auch mit Janukowitsch und legte sich nicht fest: Er könne sich vorstellen, neuer Regierungschef zu werden, egal unter welchem Präsidenten – wenn der ihm nur frei Hand ließe.

Als ziemlich sicher gilt, dass sich die Wählerschaft Tigipkos am Sonntag spalten wird. Und ob die Anhänger des viertplatzierten Arseni Jazenjuk (7 Prozent) und des amtierenden Präsidenten Viktor Juschtschenko (5,5 Prozent) Frau Timoschenko als »geringeres Übel« wählen oder gegen beide Kandidaten stimmen, ist ungewiss.

Festgelegt hat sich Petro Simonenko, der Vorsitzende der KP der Ukraine, der in der ersten Runde 3,5 Prozent der Stimmen sammelte. Er rief seine Anhänger auf, bei der Wahl zwischen zwei Übeln dem Vertreter des »nationalen Kapitals« – Janukowitsch – den Vorzug vor der Repräsentantin der »Kompradorenbourgeoisie« zu geben.

Entsprechend verhielten sich die KPU-Abgeordneten bei zwei Abstimmungen in der Werchowna Rada, die den Wahlkampf weiter anheizten. Zuerst wurde Innenminister Juri Luzenko mit den Stimmen der Janukowitsch-Partei der Regionen (PdR), der Kommunisten und des Litwin-Blocks abgewählt. Der Vorwurf: unzulässige Einmischung in den Wahlkampf. Umgehend ernannte Timoschenko ihren Vertrauten Luzenko jedoch zum Vizeminister, der die Geschäfte führt.

Und erst am Mittwoch (3. Feb.) beschloss eine Mehrheit aus PdR, KPU und einem Teil des ursprünglichen Juschtschenko-Blocks »Unsere Ukraine« Änderungen am Wahlgesetz. Die PdR argumentierte, der Timoschenko-Block müsse gehindert werden, den Urnengang durch Lahmlegung der Wahlkommissionen platzen zu lassen. Deshalb wurde die bisher für Entscheidungen der Wahlkommissionen erforderliche Zweidrittelmehrheit aufgehoben. Dies öffne Fälschungen Tür und Tor, wetterte Timoschenko daraufhin und drohte ihrem Widersacher, wenn er zu unsauberen Mitteln greife, mit Protesten, die selbst jene des Jahres 2004 in den Schatten stellen sollen.

Sicher ist vor dem Wahltag nur, dass beide Lager zumindest ihre propagandistischen und juristischen Geschütze bereits in Stellung gebracht haben. Und dass der ukrainische Machtkampf nach dem Sonntag andauern wird.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Februar 2010


Verlierer Juschtschenko bleibt nicht untätig

Heldenehrung ruft heftige Proteste hervor **

Die erste Wahlrunde am 17. Januar habe einen Verfall der demokratischen Werte gezeigt, klagte Viktor Juschtschenko nach seiner Niederlage: Ganze 5,5 Prozent der Wähler wollten dem derzeitigen Präsidenten eine zweite Amtszeit zubilligen.

Die Ukrainer hätten »Brot, Speck und tauben Blüten« den Vorzug vor der Demokratie gegeben, beschwerte sich der enttäuschte Held der »Orange Revolution« – getreu dem Motto: »Wer mich nicht wählt, ist kein Demokrat.« Der »zeitweilige Verlust« könne jedoch zum Impuls für eine »Konsolidierung der nationalen Kräfte« werden, hoffte Juschtschenko und ernannte tags darauf den höchst umstrittenen Nationalisten Stepan Bandera (1909-1959) posthum zum »Helden der Ukraine«. Bandera, der im Westen des Landes als Vorkämpfer der Unabhängigkeit gilt, wird im Osten als Nazikollaborateur und Verantwortlicher für die Ermordung zehntausender Menschen verachtet.

»Volk! Wisse! Moskau, Polen, Ungarn und Juden sind deine Feinde. Vernichte sie!« – Das war eine der Losungen, unter denen Milizen, geschaffen von Banderas Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), in den 30er und 40er Jahren in der Westukraine wüteten. Deren Hoffnung, unter dem Schirm der faschistischen Wehrmacht 1941 eine unabhängige Ukraine gründen zu können, erfüllte sich jedoch nicht. Hitler hatte ganz andere Interessen und ließ Bandera bis 1944 in Sachsenhausen einsperren.

Juschtschenkos Heldenerlass rief heftige Proteste nicht nur in Russland und Polen hervor, auch jüdische Organisationen, darunter das Simon Wiesenthal Center, verurteilten die Heroisierung Banderas scharf. Was den Präsidenten nicht hinderte, wenig später einen Ukas über die »Ehrung der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert« zu unterschreiben. Als solche erkannte er Angehörige der OUN, der Ukrainischen Aufstandsarmee und anderer Organisationen, die gegen die Sowjetmacht gekämpft hatten.

Die KP der Ukraine erklärte, Juschtschenko habe durch die Rehabilitierung faschistischer Helfershelfer, Mörder und Henker den Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges »in die Seele gespuckt«. Das Volk habe ihn zwar mit Schande verjagt, doch die Gefahr der »Juschtschenkowtschina als Form des ukrainischen Neonazismus und Nationalextremismus« bleibe.

Nicht ausgeschlossen ist, dass auch Juschtschenko selbst noch einige Zeit auf seinem Posten ausharrt. Dann nämlich, wenn das Ergebnis am Sonntag sehr knapp ausfällt, worauf wieder Massenproteste inszeniert und Gerichte angerufen werden könnten, um Nachzählungen oder eine Annullierung der Wahl zu erzwingen. Der alte Präsident bliebe so lange im Amt, bis ein neuer vereidigt ist. In der Politik will Juschtschenko ohnehin bleiben, wie er bereits erklärt hat. -ries

** Aus: Neues Deutschland, 6. Februar 2010


Moskau zeigt sich unparteiisch

Russland könnte sich mit beiden arrangieren

Von Irina Wolkowa, Moskau ***

Zwar gehören Viktor Janukowitsch Moskaus heimliche Sympathien. Denn er ist der Frontmann der Regionen im Osten und Südosten der Ukraine, wo Russen und russischsprachige Ukrainer die Mehrheit bilden. Aber anders als 2004, als Russlands Favorit in den Nachbeben der »Revolution« den Kürzeren zog, haben sich in Kreml und Außenamt diesmal die Realpolitiker durchgesetzt. Offizielle Rückendeckung oder gar wirtschaftliche Wohltaten für Janukowitsch gab es daher nicht. Zumal Moskaus allzu offene Sympathiebekundungen und Einflussnahmen nach Ansicht kritischer Beobachter die »Revolution der Orangen« erst richtig auf Touren brachten.

Überdies ist man in Russland inzwischen zu der Auffassung gelangt, das man sich auch mit Julia Timoschenko arrangieren könnte – solange dabei die eigenen wirtschaftlichen Interessen der einstigen Tankstellenkönigin und Gasprinzessin gebührend berücksichtigt werden. Denn Timoschenkos außenpolitisches Programm unterscheidet sich nur in Nuancen von dem Janukowitschs.

Zwar will sie über einen NATO-Beitritt der Ukraine, den Janukowitsch ausschließt, per Referendum abstimmen lassen. Doch in Kiew wie in Moskau, das gegen einschlägige Pläne Sturm läuft, weiß man, dass das Vorhaben derzeit nicht mehrheitsfähig ist. Ebenso eine rasche und enge wirtschaftliche Anbindung an die EU, mit der Timoschenko in der Westukraine anschaffen ging.

Schon der erste Wahlgang hat nach Meinung russischer Experten die Westdrift der Ukraine gebremst. Auch weil viele Ukrainer sich vom Westen mit den Folgen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, die Kiew ungleich härter als Moskau trifft, allein gelassen fühlen. Auf der anderen Seite, im Westen, liegen manche Nerven wegen des Dauermachtkampfs in Kiew allmählich blank.

*** Aus: Neues Deutschland, 6. Februar 2010 Revolutionsspiele Streit um ukrainisches Wahlgesetz Von Werner Pirker ****

Noch bevor die Präsidentenstichwahl in der Ukraine überhaupt stattgefunden hat, wird ihr korrekter Ablauf bereits in Frage gestellt. Den Anlaß dafür bot eine Änderung des Wahlrechtes, die von der Parlamentsmehrheit am Mittwoch (3. Feb.) beschlossen wurde. Demnach sollen die von beiden Kandidaten paritätisch besetzten Wahlkommissionen auch dann handlungsfähig bleiben, wenn weniger als zwei Drittel der Kommissionsmitglieder anwesend sind. Damit soll verhindert werden, daß Anhänger der einen Seite in den Hochburgen des Gegners die Wahl durch Nichterscheinen sabotieren können. Sagen die Anhänger von Viktor Janukowitsch, dem Chef der Partei der Regionen und Führenden nach dem ersten Durchgang. Im Lager seine Gegenspielerin Julia Timoschenko heißt es hingegen, daß die neue Regelung die Janukowitsch-Leute ermutigen könnte, von der Konkurrenz gestellte Kommisionsmitglieder mit Gewalt am Erscheinen zu hindern. Während letztere Befürchtung ziemlich weit hergeholt zu sein scheint, erschien die durch die Wahlgesetzänderung aus dem Weg geräumte als ziemlich real.

Frau Timoschenko scheint jedenfalls für den Fall einer Wahlniederlage argumentativ gut gerüstet. Sie werde, sollte der Volkswille bei der Wahl nicht sichtbar werden, die Leute auf die Straße rufen, ließ sie wissen. Das läßt befürchten, daß die »Revolutionsheldin« von 2004 den Volkswillen nur für den Fall, daß er ihren Wahlsieg sichtbar macht, anerkennen will. Indem Timoschenko mit einer neuen Orangen-Revolution droht, beraubt sie diese des letzten Restes an Legitimation. Errungenschaften, die einer Revolution würdig gewesen wären, hat das Kiewer Massenspektakel ohnedies nicht hinterlassen. Der »Sturz der Oligarchie« erwies sich als Umgruppierung der Oligarchenmacht. Das »alte Regime« existierte im neuen weiter. Selbst der mit einem ungeheuren Aufwand an Menschen und Material vor einigen Jahren von der Macht verdrängte Viktor Janukowitsch ist im Spiel um die Macht wieder voll dabei. Genau darin, argumentiert die liberale Intelligenzija, liege die Haupterrungenschaft der »Revolution«: daß sich die Verlierer von damals heute wieder zur Wahl stellen können und der Kampf um die Macht nach rechtsstaatlichen, Wahlbetrug weitgehend ausschließenden Grundsätzen vor sich gehe. Genau das aber will Frau Timoschenko nicht gelten lassen. Während die Oligarchen längst zu einer Art »Konsensdemokratie« gefunden haben, reaktiviert sie die alte Konfliktsituation.

Der Kampf um Demokratie in der Ukraine ist tatsächlich noch nicht entschieden. Er muß sich gegen das orange Machtzentrum richten, das unbekümmert gegen Parlament und Bevölkerungsmehrheit regiert. Das schmähliche Abschneiden Viktor Juschtschenkos bei den Präsidentenwahlen bringt die breite Unzufriedenheit mit einer Politik zum Ausdruck, die nicht nur zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen geführt hat, sondern auch wegen ihrer Westorientierung massiv abgelehnt wird.

**** Aus: junge Welt, 6. Februar 2010


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