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Amtsinhaber chancenlos

Ukraine vor Präsidentschaftswahlen. Expräsident Viktor Janukowitsch liegt mit 28 Prozent in Umfragen vorn. Stichwahl mit Julia Timoschenko wahrscheinlich

Von Anita Müller *

Am kommenden Sonntag wählen die Ukrainer einen neuen Präsidenten. Amtsinhaber Viktor Juschtschenko kommt laut den letzten Umfrageergebnissen nur auf knapp fünf Prozent der Stimmen. Der derzeitige Oppositionsführer und ehemalige Präsident Viktor Janukowitsch liegt mit 28 Prozent vorn. Wahrscheinlich wird aber ein zweiter Wahlgang nötig werden, da Premierministerin Julia Timoschenko mit 21 Prozent in den Umfragen ebenfalls große Chancen eingeräumt werden müssen. Eine weitere Figur auf der politischen Bühne der Ukraine ist in diesem Winter der Finanzwirtschaftler und Exparlamentspräsident Arsenij Jatsenjuk, der in den Umfragen als drittstärkster Kandidat acht Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Die letzte Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 war von der westlich orientierten sogenannten orangen Revolution geprägt und brachte nach Aufruhr und Demonstrationen Viktor Juschtschenko ins Amt. Während seiner Regierung hat er allerdings das Vertrauen seiner Wähler kontinuierlich eingebüßt. Vor allem seine einseitige Fixierung auf EU und NATO hat den derzeitigen Präsidenten die Sympathie der politisch einflußreichen, rußlandfreundlichen Industriellen gekostet. Sie hat darüber hinaus zu starken innenpolitischen Machtkämpfen mit Timoschenko und Janukowitsch geführt und gezeigt, daß das Land tatsächlich vom Wohlwollen Rußlands und der eigenen Oligarchie abhängt.

Im Wahlkampf waren sowohl Favorit Janukowitsch als auch Timoschenko und der Newcomer Jatsenjuk sichtlich bemüht, die gesamte Bevölkerung anzusprechen und nicht zu polarisieren. Jeder von ihnen wirbt für gute Beziehungen zu Rußland und will sich gleichzeitig der EU annähern. Die Spaltung der Lager in »prowestlich« oder »prorussisch« scheint überholt, andererseits wird es schwierig, die politische Richtung der Kandidaten zu bestimmen. Es geht weniger um ideologische Feinjustierung, als viel mehr um den Machtkampf der Oligarchen und Lösungsansätze für ganz grundlegenden Probleme wie Armut der Bevölkerung und die Sicherung der Grundbedürfnisse.

Daß Timoschenko Mitte Dezember bessere Gasverträge mit dem Chef des russischen Staatskonzerns Gasprom, Alexej Miller, aushandelte, war ein Pluspunkt im Wahlkampf und ein Signal, daß unter ihrer Führung die chronisch frostigen Beziehungen zu Moskau endlich wieder auftauen könnten. Timoschenko fordert außerdem, hart gegen Korruption vorzugehen und eine unabhängige, direkt zu wählende Judikative zu installieren. Auch dem Volksentscheid als Mittel direkter Demokratie will sie mehr Platz einräumen. Viele soziale Ziele ihres Programms - über kostenlose medizinische Grundversorgung bis zu freiem Internetzugang für jeden Bürger - dürften dagegen eher als leere Wahlversprechen zu interpretieren sein. Allerdings trifft das auf die sozialpolitischen Absichtserklärungen ihrer Konkurrenten nicht minder zu.

Viktor Janukowitsch setzt auf kleine und mittelständische Unternehmer als Basis der Wirtschaft. In seiner »Partei der Regionen« allerdings sitzen Rinat Achmetow und andere ukrainische Oligarchen. Wahrscheinlich wird es diesen Unternehmern, die ihr Kapital einsetzen, um politisch Einfluß zu nehmen, nach einer gewonnen Wahl eher um die Durchsetzung eigener Wirtschaftsinteressen gehen als um die Förderung des Mittelstands.

Der gerade 35jährige Arsenij Jatsenjuk hat sich mit eigenen politischen Zielen bisher wenig profiliert. Seine Partei »Front der Veränderungen« besteht erst seit einem Jahr. Er war Vizepäsident der Nationalbank der Ukraine und hat sich danach über einen Posten als Wirtschaftminister unter Juschtschenko zum Präsidentschaftsanwärter hochgearbeitet.

Setzt sich der künftige ukrainische Präsident bzw. die zukünftige Präsidentin nicht entschieden für die Trennung von Politik und Kapital, für die Unabhängigkeit der Politik ein, könnte der Staat seine gewonnene Eigenständigkeit schnell wieder einbüßen. Diese Gefahr besteht auch, wenn sich die politischen Kräfte wie in den vergangenen Jahren weiter gegenseitig in Machtkämpfen lähmen.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2010


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