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Mit 100 Gramm Wodka herunter spülen

Präsidentenwahl in der Ukraine: "Schreckliche Wahlen" hatte der bisherige Staatschef Leonid Kutschma dem Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko prophezeit

Von Martin Leidenfrost

Wieder einmal steht die Ukraine mit den Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober vor einer "schicksalsschweren Entscheidung", wie es heißt. Der scheidende Staatschef Leonid Kutschma hat seit 1994 eine pro-russische Politik verfolgt und ein autoritäres Präsidialsystem aufgebaut, das loyale Oligarchen protegierte. Viktor Janukowitsch, der allseits unterstützte Kandidat des Kiewer Establishments, soll diesen Kurs fortsetzen - Viktor Juschtschenko, der aussichtreichste Bewerber der Opposition, will einen radikalen Wandel, um sich dem Westen als Partner anzubieten.

Der Mann hat als jugendlicher Bandenführer zwei Haftstrafen abgesessen, ist zwei Meter groß, massiv, weder sympathisch noch rhetorisch begabt - und er führt in den Umfragen. "Das kann doch nicht wahr sein, das ist doch schmutzige Polittechnologie", lässt Anja ihrer Verzweiflung freien Lauf. Seit Wochen verteilt die Zwanzigjährige selbstkopierte Flugblätter auf dem Kreschtschatyk, dem Kiewer Prachtboulevard aus der Ära der Stalinschen Klassik. "Der Typ kann doch nicht Präsident werden! Soll das ganze Land der Donezker Mafia gehören?"

Am 31. Oktober wählt das 47-Millionen-Land seinen Präsidenten, seit dem 15. Oktober dürfen keine Umfragen mehr veröffentlicht werden. Nachdem der westlich orientierte Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko jahrelang jede Beliebtheitsskala angeführt hat, sitzt der Schock nicht nur bei Anja tief: 34 Prozent für den amtierenden Premier Viktor Janukowitsch und nur noch 31 Prozent für Juschtschenko, den einstigen Nationalbankchef und Ministerpräsidenten. v Anja streift sich das letzte Laub von den Füßen, der Herbst geht in Kiew schon zu Ende. "Diese Banditen haben Juschtschenko vergiftet", glaubt die blonde Jurastudentin. Für das Absacken ihres Idols hat sie ihre eigene Theorie: "Kein Politiker hat so gut ausgesehen, und jetzt gefällt er den Frauen einfach nicht mehr. Er sieht wirklich schrecklich aus, ganz totenbleich, hat seltsame Pusteln auf den Wangen, und manchmal kann er nur das halbe Gesicht bewegen."

Die Befunde der Soziologen sind nüchterner: Vier Prozent hat sich Janukowitsch bei den verarmten Pensionisten abgeholt, deren Renten er exakt einen Monat vor der Wahl kräftig erhöht hat. Das geht zu Lasten des kommunistischen Bewerbers Pjotr Simonenko, der 1999 noch gegen Präsident Leonid Kutschma in die Stichwahl gelangte und nun mit einer Prognose von sechs Prozent in die Bedeutungslosigkeit gestürzt ist. "Eine Chance, die mir das Leben hinstellt, will ich maximal ausschöpfen", erläutert Janukowitsch lapidar.

Weitere zwei oder drei Prozent gewann er mit dem Versprechen, Russisch zur zweiten Staatssprache neben Ukrainisch zu erheben. Dieses Verlangen taucht regelmäßig vor Wahlen auf und findet stets einigen Anklang, da sich etwa zwei Drittel der Bevölkerung im Alltag des Russischen bedienen. Ähnliches versprach Kutschma vor zehn Jahren, als er zum ersten Mal gewählt wurde, doch erfüllte er lediglich ein anderes Versprechen - innerhalb eines halben Jahres Ukrainisch zu lernen.


Das Ergebnis des ersten Wahlgangs:
Bei der ukrainischen Präsidentenwahl haben sowohl Regierungschef Viktor Janukowitsch als auch Oppositionsführer Viktor Juschtschenko die absolute Mehrheit verpasst. Janukowitsch erreichte 40,1, Juschtschenko 39,2 Prozent. Die beiden Kontrahenten treten nun am 21. November zu einer Stichwahl um die Nachfolge Leonid Kutschmas an. Westliche Wahlbeobachter kritisierten zahlreiche Wahlrechtsverstöße. Die Wahl sei auf dem ukrainischen Weg zur Demokratie ein "Schritt zurück", urteilte eine OSZE-Delegation.
(dpa, 1. Nov. 2004)


Nach zehn skandalumrankten Jahren scheidet mit dem jetzigen Präsidenten ein Mann aus dem Amt, der es geschickt verstanden hat, zwischen den herrschenden regionalen Clans zu vermitteln. Selbst seine offenkundige Verwicklung in die Ermordung des regimekritschen Journalisten Georgij Gongadse konnte den versierten Strippenzieher nicht erschüttern, brachte das Land aber an den Rand einer Staatskrise. Nach langem Zögern, ob er selbst noch einmal antreten sollte, hat Kutschma den Donezker Clanchef Janukowitsch als Nachfolger bestimmt.

Was der zum Sieg noch brauchen könnte, wäre die nicht nur klammheimliche, sondern offensive Unterstützung des russischen Präsidenten Putin, der zwischen Schwarzem Meer und Karpaten als das Ideal eines nationalen Führers gilt.

Ein diskretes Dinner mit dem Geheimdienstchef

Strategisch kommt Putin ein Präsident Janukowitsch entgegen, da dieser die Gründung eines Einheitlichen Wirtschaftsraumes zwischen Russland, der Ukraine, Belarus und Kasachstan vorantreiben dürfte, während Juschtschenko nichts riskieren wird, was einem allfälligen EU-Beitritt im Wege stehen könnte. Als bei weitem potentestes Land unter den ehemaligen Sowjetrepubliken ist die Ukraine der Schlüsselstaat russischer Nachbarschaftspolitik: Verbindet sich die Ukraine mit der Russischen Föderation, wird die wieder zum Imperium; geht die Ukraine eigene Wege, kann der große slawische Bruder jede imperiale Ambition begraben.

Nach den Umfragewerten im Sommer schien Juschtschenko der Sieg am 31. Oktober nur noch mit Wahlfälschung zu nehmen, als er plötzlich Mitte September mit Symptomen einer akuten Entzündung der Bauchspeicheldrüse in die Wiener Privatklinik Rudolfinerhaus eingeliefert wurde. So sehr spekulierte die ukrainische Politik zu diesem Zeitpunkt auf einen Wahltriumph Juschtschenkos, dass die Regierung im Parlament schon ihre Mehrheit verloren hatte, weil sich einige kleine Fraktionen vorsorglich für regierungsunabhängig erklärten. Die mysteriöse Erkrankung Juschtschenkos, die in einem unerwarteten zweiten Schub auch den Rücken befiel, setzte ihm zunächst dem geballten Spott der Regierungsseite aus: Es wurde ihm empfohlen, auf exotische Speisen wie Sushi zu verzichten oder das Essen grundsätzlich mit hundert Gramm Wodka herunter zu spülen.

Aus Wien zurückgekehrt, trat der Kandidat im Parlament auf und sprach seine Gegner direkt an: "Wenn Sie eines Tages dieser Regierung unangenehm werden, wenn Sie zu einer kleinen Bedrohung werden, wird man Sie wegschmeißen wie einen nutzlosen Zettel, und die Diät, die Sie mir empfehlen, wird Ihnen nichts nützen."

Ein Zeichen dafür, dass Juschtschenko entschlossen schien, seinen Wahlkampf zu radikalisieren und ganz auf den Sturz der "Banditenmacht" auszurichten, was ihm inzwischen Teile der Opposition zum Vorwurf machen. Juschtschenko erreicht seine Wähler nur über wenige Zeitungen und einen einzigen Fernsehsender, der zudem aus vielen Kabelnetzen verschwunden ist. Für die anderen Kanäle, die größtenteils von Kutschmas Schwiegersohn Viktor Pintschuk und dem Chef der Präsidialadministration Viktor Medwedtschuk kontrolliert werden, sind die Bilder des kranken Juschtschenko ein gefundenes Fressen: Wenn er nicht totgeschwiegen wird, stellen sie ihn als hysterischen, wehleidigen Nationalisten dar, der die nahende Niederlage nicht erträgt und zum blutigen Umsturz rüstet.

Juschtschenko ist in Wirklichkeit kein geborener Oppositioneller, vorsichtig und zaudernd ging er seinen Weg vom Kiewer Establishment in die Opposition. Und es erscheint symptomatisch, dass er den gesundheitlichen Zusammenbruch ausgerechnet nach einem diskreten Abendessen mit dem amtierenden Geheimdienstchef Igor Smeschko erlitt. Dabei hatten die Wiener Ärzte zunächst den Verdacht geäußert, ihr Patient sei durch Substanzen der biologischen Kriegführung aus dem Wahlkampf expediert worden, distanzierten sich aber später wieder von dieser Theorie - der Fall blieb ungelöst. Ein Mitglied der parlamentarischen Untersuchungskommission, das wie viele andere ukrainische Abgesandte im Wiener Rudolfinerhaus vorstellig wurde, streute zuletzt das Gerücht, Juschtschenko könnte durch einen misslungenen Eingriff im Zuge einer Verjüngungskur erkrankt sein.

"Die Ukraine ist noch nicht gestorben", beginnt die Nationalhymne

"Was hat dieser Faschist schon für mich getan", schimpft die siebzigjährige Warwara Timofejewna über Juschtschenko. Tagaus, tagein sitzt die Pensionistin, die eine Rente von 30 Euro bezieht, am Ausgang einer Kiewer Metrostation und verkauft schwarze Samen, die gern von Spaziergängern gekaut und ausgespuckt werden. "Ich kenne diesen Janukowitsch nicht, stehlen tun sie alle. Mag er alles, was er hat, zusammengestohlen haben - jetzt habe wenigstens ich auch was davon."

Die oft gesehene Parole "Naschisti gleich Faschisti", die den Namen von Juschtschenkos Partei Nascha Ukraina auf Faschisten reimt, verfängt bei älteren Menschen durchaus. Der Faschismusvorwurf ist hanebüchen, auch wenn sich am Rand von Juschtschenkos Bewegung tatsächlich Antisemiten und radikale Nationalisten tummeln. Sehr viel schwerer, als sich dieser Angriffe zu erwehren, fällt es Juschtschenko, gegen das Misstrauen anzugehen, das ihm wegen seiner Frau entgegenschlägt. Die stammt aus einer ukrainischen Exilantenfamilie und besitzt nach wie vor einen amerikanischen Pass. Ob er nicht ein amerikanischer Spion sei, wurde Juschtschenko auf Wahlkampfveranstaltungen immer wieder gefragt, der dem entgegenzutreten suchte, indem er den Abzug der Ukraine aus dem Irak versprach, die dort eines der größten Truppenkontingente stellt. Gezündet hat dieses Thema allerdings nicht.

Die Wirtschaftsprogramme der beiden Kandidaten, die im Verlauf der Kampagne alle anderen Bewerber zu Statisten degradiert haben, spielten im aufgeheizten Klima des Wahlkampfs keine Rolle. Nachdem das Land in den Neunzigern eine Phase schweren ökonomischen Verfalls durchleiden musste, hat die Produktion kräftig angezogen, die Stahlkonjunktur hilft, das Wachstum geht in den zweistelligen Bereich. Aber darüber hat kaum jemand ein Wort verloren, zu bitter tobt der Kampf um den Kurs des Landes, das der ukrainische Essayist Jurij Andruchowytsch als "das letzte Territorium" bezeichnet. Es ist der Kampf eines Volkes, das zu begreifen beginnt, dass zwischen dem Liberalismus Europas und dem Autoritarismus, der sich in den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion durchgesetzt hat, kein Lavieren mehr möglich ist.

"Die Ukraine ist noch nicht gestorben", so beginnt die Hymne einer geprüften Nation. Doch Krokodilstränen um den Zustand der ukrainischen Demokratie möge man sich in Europa sparen: Manch einer in Brüssel wird insgeheim froh sein, sollten die mafiotischen Seilschaften um Kutschma und Janukowitsch die Wahl für sich entscheiden. Dann kommen die Europäer nicht in die Verlegenheit, dem europäischen Land Ukraine die Tür vor der Nase zuzuschlagen, sollte es um Einlass bitten.



Viktor Juschtschenko
Jahrgang 1954, Chef der größten Oppositionspartei Unsere Ukraine, 1997-2000 Nationalbankchef, 1999-2001 Premierminister. Hochburg: Galizien, West- und Zentralukraine.Wahlversprechen: Abzug der ukrainischen Truppen aus dem Irak, Annäherung an Europa.Auffällige Merkmale: Verheiratet mit einer Amerikanerin ukrainischen Ursprungs.

Viktor Janukowitsch
Jahrgang 1950, Premierminister seit 2002, 1997-2002 Verwaltungschef des Donezker Gebietes, Hochburg: Donezk, Ost- und Südukraine.Wahlversprechen: Russisch soll zweite Staatssprache werden, Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes mit Russland. Auffällige Merkmale: Verbüßte in den siebziger Jahren zwei Haftstrafen, unter anderem wegen Raubes.



Umfragewerte zu den ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom Mai (Angaben in Prozent)

KandidatenPrognose erster WahlgangPrognose* zweiter Wahlgang
Viktor Juschtschenko
Bündnis "Unsere Ukraine"
21,836,4
Viktor Janukowitsch
Partei der Regionen
Premierminister
16,432,8
Pjotr Simonenko
Kommunistischen Partei der Ukraine
10,3-
Olexander Moros
Sozialistischen Partei der Ukraine
4,8-
Bohdan Bojko
Partei der Volksbewegung der Ukraine
3,5-
Andere29,7-
Unentschieden13,513,5

(*) Erreicht am 31. Oktober keiner der Bewerber die absolute Mehrheit ist nach 14 Tagen ein zweiter Wahlgang erforderlich.

Quelle: Kiew Internationale Institute / Sozis-Center

* Aus: Freitag 45, 29. Oktober 2004


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