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Kampf um Kiew

Vor EU-Gipfel in Vilnius verstärkt Rußland psychologischen Druck auf Ukraine. Deren Annäherung an Brüssel ist aber noch nicht ausgemacht

Von Reinhard Lauterbach *

Knapp vier Wochen vor dem Gipfel, auf dem die EU im litauischen Vilnius Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Moldawien und Georgien unterzeichnen möchte, verstärkt Moskau den psychologischen Druck auf Kiew. In den vergangenen Tagen haben russische Soldaten angefangen, die Grenze zur Ukraine mit einem Stacheldrahtzaun zu befestigen. Die Arbeiten begannen ausgerechnet nahe dem Gebiet Lugansk im »Fernen Osten« der Ukraine, 1000 Kilometer östlich von Kiew. Die heruntergekommene Industrieregion ist russischsprachig und eine der Hochburgen der »Partei der Regionen« von Staatspräsident Wiktor Janukowitsch.

Mit der Markierung der Grenze im Gelände erfüllt Rußland ironischerweise eine Forderung, die dessen prowestlicher Vorgänger Wiktor Jusch­tschenko vor Jahren erfolglos erhoben hatte, und auf der die EU als einer der Vorbedingungen für eine Assoziierung der Ukraine drängt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion war Moskau bisher nicht interessiert, die neu entstandenen Grenzen durch Markierung aufzuwerten. Daß es jetzt einen Schritt weitergeht und gleich einen Zaun zieht, ist wohl Ausdruck psychologischer Kampfführung. Die vielfach familiär mit Rußland verbundene Bevölkerung soll offenbar erschreckt und dazu veranlaßt werden, Druck auf die unteren Gliederungen der Janukowitsch-Partei auszuüben, sich nicht für die EU zu entscheiden, sondern für die von Rußland angeführte Eurasische Wirtschaftsunion. Die Ukraine hat lange Jahre versucht, zwischen Moskau und Brüssel zu lavieren. Von Rußland ließ sich Kiew billiges Gas liefern und einen zollfreien Absatzmarkt für ukrainische Industrieprodukte einräumen. Europa steht für die Hoffnung auf Modernisierung und Reisefreiheit. Doch seit dem Sommer scheint die Zeit dieser »multivektoriellen« Politik der Ukraine zu Ende zu gehen. Sowohl Rußland als auch die EU machten deutlich, daß sich die Ukraine entscheiden solle: Assoziierung mit Brüssel oder Freihandel mit Moskau. Im August führte Rußland vorübergehend schikanöse Zollkontrollen für ukrainische Produkte an der Grenze ein. Jetzt hat Gasprom die Gaslieferungen eingestellt – angeblich soll die Ukraine dem russischen Konzern seit dem Sommer fast 900 Millionen Dollar schuldig geblieben sein.

Der russische Druck hat die ukrainische Führung aber offenbar bisher eher darin bestärkt, die Annäherung an die EU zu suchen. Präsident Janukowitsch beklagte sich vor Funktionären seiner Partei über die erniedrigende Behandlung durch den Nachbarn im Nordosten. Und Ministerpräsident Mykola Asarow war vor kurzem in Rußland und besuchte unter anderem in Kaluga ein Montagewerk des französischen Autokonzerns Peugeot. Dort löcherte er die Gastgeber mit Fragen, was von den verarbeiteten Materialien und eingesetzten Maschinen aus russischer Produktion stamme. Als die nichts nennen konnten, resümierte Asarow, es gebe in Rußland offenbar keinen modernen Maschinenbau mehr. Auch auf der gesetzgeberischen Ebene schien die Ukraine zuletzt bereit, die ihr von Brüssel aufgegebenen »Hausaufgaben« abzuarbeiten. Eine Reihe von Reformgesetzen hat das Parlament bereits wie gefordert verabschiedet. In einem Punkt aber blieb Janukowitschs Regierung einstweilen stur: Die Freilassung der inhaftierten Exregierungschefin Julia Timoschenko komme nicht in Frage, erklärte dieser Tage die Justizministerin. Aber nach dem jüngsten EU-Gipfel in Luxemburg äußerten die Staats- und Regierungschefs ihrerseits, ohne eine freigelassene Timoschenko könne das Abkommen nicht unterzeichnet werden.

Um den Eindruck zu vermeiden, daß sich die EU damit ins eigene Knie geschossen hat, begannen inzwischen aber auch deren Vertreter, Kompromißformeln in den Raum zu stellen. Parlamentspräsident Martin Schulz und Erweiterungskommissar Stefan Füle erklärten zuletzt abweichend vom früheren Tenor, Kiew müsse sich keinesfalls abrupt zwischen Ost- und Westintegration entscheiden. Und während Rußland der Ukraine vorrechnet, daß ihre technologisch rückständigen Produkte auf dem EU-Markt keine Chance haben würden, versprach Schulz den Ukrainern sofort fühlbare Vorteile bei einer EU-Assozierung. Worin die bestehen sollen, ließ er offen. Denn eine Beitrittsperspektive für den zweitgrößten Stadt auf dem Kontinent wird in Brüssel nicht einmal theoretisch erwogen. Und selbst visafreien Reiseverkehr wollen die Kommandeure der Festung Europa den Ukrainern nicht gewähren.

* Aus: junge Welt, Montag, 4. November 2013


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