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"Wir wollen runde Tische"

Ukraine soll nach Westen wie nach Osten offen bleiben und sich in keinen Block einbinden lassen. Westerwelle-Auftritt in Kiew löst "Erstaunen" aus. Ein Gespräch mit Wladimir Olejnik *


Der Parlamentsabgeordnete Wladimir Olejnik ist Vizevorsitzender des Rechtsausschusses der Werchowna Rada in Kiew.


Die Parlamentssitzung am Mittwoch war schon nach wenigen Minuten zu Ende. Die Opposition bedrängte das Präsidium und die Regierungsbank, es ging im Hohen Hause mal wieder zu wie auf einem Hühnerhof.

Wenigstens wurden die Abgeordneten von »Swoboda«, »UDAR« und »Batkiw­tschina« nicht handgreiflich, wie das auch schon geschah. Abgeordnete der Oppositionsparteien wollen offenkundig nicht akzeptieren, daß es Regeln gibt, die in jedem Parlament gelten. Ich kann mich nicht erinnern, daß sich etwa Abgeordnete im Bundestag auf offener Bühne geprügelt hätten, wenn ihre Anträge keine Mehrheit fanden. Wer so reagiert, hat das Wesen der Demokratie nicht begriffen.

Hat der Abbruch der Sitzung Folgen für die Ukraine?

Selbstverständlich. Wir haben noch immer nicht den Haushalt fürs Jahr 2014 beschlossen, und es liegen weitere Gesetze auf Eis, in denen es um Versorgung und Wohlfahrt der ukrainischen Bevölkerung geht, oder das Gesetz zur Generalstaatsanwaltschaft, worin u.a. die Voraussetzungen für die europäische Integration behandelt werden. Die Blockade der Parlamentsarbeit durch die Opposition ist Kalkül. Sie stiftet auf diese Weise Unruhe, um sich als politische Alternative zum vermeintlichen Chaos zu empfehlen. Die Opposition löst jedoch nicht die gesellschaftlichen Probleme, sondern ist maßgeblich für deren Verschärfung verantwortlich. Für mich ist ihr Auftreten Ausdruck von Verzweiflung und Ratlosigkeit. Mit dieser deutlichen Niederlage beim Mißtrauensantrag am Dienstag gegen den Ministerpräsidenten hatte sie offenkundig nicht gerechnet.

Wie stabil ist die Regierung?

Sie verfügt über 266 Mandate, die Opposition über 186. Zugegeben: Keine Mehrheit wie im Deutschen Bundestag, aber dennoch ausreichend. So waren im Übrigen die Verhältnisse auch schon vor den Protesten, die parlamentarische Mehrheit steht zu ihrer Überzeugung und wackelt nicht.

In den hiesigen Nachrichten dominieren Bilder aus Kiew und von Massenaufzügen. Sieht es auch im Land so aus?

Zunächst: Kiew ist unverändert die Hauptstadt der ganzen Ukraine und nicht die Hauptstadt der Opposition. Die Bilder vom Maidan und von den Blockaden der öffentlichen Einrichtungen sollen zwar den gegenteiligen Eindruck vermitteln, doch die zentralen Institutionen sind unverändert für alle Landesteile – für den Osten wie für den Westen – zuständig. Die Ukraine besteht nun mal nicht nur aus den westlichen Regionen, wo der Nationalismus und der Drang nach Westen besonders ausgeprägt sind. Nein, in weiten Teilen des Landes ist es bislang noch ruhig.

Wie man las, sollen ukrainische Nationalisten bereits an Washington appelliert haben, US-Truppen »zum Schutz der Ukraine vor der Diktatur« in Marsch zu setzen. Für die Prüfung eines solchen Hilferufs verlangt das Weiße Haus aber 100000 Unterschriften – bis zum Dienstag sollen angeblich bereits 14000 vorgelegen haben …

Worauf ein Kommunalpolitiker aus Sewastopol anregte, Putin um die Entsendung russischer Truppen zu ersuchen, die die Ukraine vor der Besetzung durch die NATO schützen sollen … Ja, ich kenne solche Meldungen auch, man sollte sie nicht überbewerten. Sie sind destruktiv. Wir müssen deeskalieren. Die regierende Partei der Regionen, der ich angehöre, hätte beispielsweise ihre Anhänger mobilisieren und nach Kiew bringen können, wie dies die anderen Parteien taten. Wir haben dies bewußt unterlassen. Wir brauchen keine Konfrontation, sondern suchen statt dessen den Dialog insbesondere im Ostteil des Landes, um das tief wurzelnde Mißtrauen gegenüber dem Westen – was ich verstehe – den Menschen zu nehmen. Wir sprechen mit den Betrieben, die Kooperationsbeziehungen mit Rußland unterhalten und so weiter. Wir wollen eine Ukraine, die offen ist nach Osten wie nach Westen und uns in keinen wie auch immer gearteten Block einbinden lassen. Das würde unsere Gesellschaft endgültig spalten. Wir wollen runde Tische, an denen die Probleme gemeinsam besprochen werden. Eine gespaltene Ukraine braucht weder die EU noch Rußland.

Der noch amtierende deutsche Außenminister Guido Westerwelle war am Mittwoch in Kiew und bekam kurz vor seinem Abgang in die Bedeutungslosigkeit noch ein paar schöne Fernsehbilder: Er inmitten der protestierenden Opposition. Offensichtlich achtete der FDP-Politiker aber sehr darauf, daß der Häuptling der rechtsextremen, antisemitischen »Swoboda« nicht mit aufs Foto kam – es muß sich also schon bis ins Auswärtige Amt herumgesprochen haben, was das für ein gefährlicher Verein ist. Wie bewerten Sie solche Visiten?

Um es diplomatisch-höflich zu formulieren: Es löst hier einiges Erstaunen aus, daß westliche Politiker einerseits an die ukrainische Administration appellieren, sich an europäische Standards zu halten, und andererseits bei verfassungswidrigen Handlungen – etwa bei der Besetzung öffentlicher Einrichtungen und der Blockade von Parlament und Regierungsgebäuden – alle Augen zudrücken. Dieses Vorgehen der Opposition hat wohl kaum etwas mit europäischen Standards zu tun. Rußlands Außenminister hat recht, wenn er von einer Einmischung in innere Angelegenheiten spricht. Oder wie soll man Aussagen von Westerwelle verstehen, der die Vorgänge in der Ukraine »eine zutiefst europäische Angelegenheit« nannte?

Warum folgen so viele Menschen den Wortführern der »Opposition« auf der Straße?

Unser Fehler war, nicht ausreichend erläutert zu haben, was eine Assoziierung mit der EU bedeutet. Die einfachen Leuten glaubten und glauben – und die prowestlichen Parteien sorgen unverändert dafür, daß diese Illusion bleibt –, daß unmittelbar nach der Unterzeichnung des Abkommens die Gehälter und sozialen Standards in der Ukraine auf EU-Niveau angehoben würden. Den Ukrainern würde es alsbald so gutgehen wie den Polen und den Deutschen. Weil wir die Unterschrift in Vilnius verweigerten, haben wir bei vielen diesen Traum von einem besseren Leben zerstört. Wir müssen noch viel Aufklärungsarbeit leisten, um allen bewußt zu machen, daß die Verbesserung der Lebensverhältnisse ein langwieriger Prozeß ist.

Der zudem von den Ukrainern selbst gestaltet werden muß. Die EU verschenkt nichts.

Natürlich. Der aktuelle Konflikt geht nicht um die Lösung unserer wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die auf der Tagesordnung stehen. Er geht um die politische Macht. »Wir werden das Parlament so lange blockieren, bis die Regierung zurückgetreten ist«, hat Arseni Jazenjuk von der Timoschenko-Partei »Vaterland« deutlich erklärt. Das ist echte Demokratie. Man ignoriert, daß es eine demokratisch legitimierte parlamentarische Mehrheit gibt, die die Interessen von 45 Millionen Menschen vertritt. Die meisten Ukrainer wollen einerseits nach Europa, das aber behutsam und nicht brachial. Es muß darum mit Brüssel ein moderater Weg besprochen werden. Wir lassen uns nicht alles von dort diktieren. Und andererseits müssen wir auch mit Moskau reden, denn viele ukrainische Unternehmen sind stark vom russischen Markt abhängig. Eine Opposition, die am inneren Frieden des Landes und an der Wohlfahrt der Menschen tatsächlich interessiert ist, würde eine solche Arbeit nicht hintertreiben, sondern konstruktiv daran mitwirken.

Wie sehen Sie die nächsten Tage und Wochen?

Ich halte die Protestcamps und Demonstrationen in Kiew für weniger dramatisch als die Gefahr, die entsteht, wenn wir landesweit Gehälter, Renten und Stipendien nicht rechtzeitig oder in voller Höhe werden zahlen können, weil, wie eingangs gesagt, die Gesetze nicht beschlossen sind. Das ist ein wesentlich stärkerer sozialer und politischer Sprengstoff, als wir gegenwärtig haben.

Interview: Robert Allertz

* Aus: junge welt, Freitag, 6. Dezember 2013


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