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Moskau wirbt nicht hoffnungslos

Der Eintritt der Ukraine in prorussische Strukturen könnte künftig auch andere Bewerber locken

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Während in Kiew gegen den Stopp der EU-Assoziierung protestiert wird, versucht Moskau der Ukraine den Beitritt zu Zollunion und Eurasischer Wirtschaftsgemeinschaft schmackhaft zu machen.

Russlands Vizepremier Igor Schuwalow stellte am Montag neben Nachlässen für russische Gasimporte auch langfristige zinsgünstige Darlehen in Aussicht. Russland hatte mit der Ukraine 2009 einen Vertrag mit langen Laufzeiten geschlossen. Seither muss sie 300 US-Dollar für 1000 Kubikmeter bezahlen, dazu hohe Strafen für Nichtabnahme, auch wenn gar kein Bedarf besteht. Auch deshalb steht Kiew bei Moskau mit fast 30 Milliarden US-Dollar in der Kreide.

Zwar haben EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) der Ukraine ebenfalls finanzielle Hilfe zugesagt. Aber entsprechende Darlehen sollten nur tröpfchenweise fließen, selbst wenn Präsident Viktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen in Vilnius unterzeichnet hätte. Zudem sind sie an harte Bedingungen geknüpft.

In Moskau kursieren Gerüchte, nach denen Janukowitsch bei Verhandlungen mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin Mitte Dezember in Moskau nachgeben werde. Die Mitgliedschaft in prorussischen Strukturen und gleichzeitig eine Freihandelszone mit der EU kommt für Moskau – wie auch für Brüssel – jedenfalls nicht in Frage. Russland müsse seine Produzenten schützen und dafür sorgen, dass die Arbeitslosigkeit niedrig bleibe, sagte Putin bei seinem Besuch in Italien vor einigen Tagen. Die Freihandelszone Russlands mit der Ukraine verliere daher automatisch ihre Gültigkeit, wenn eine der beiden Seiten mit Drittstaaten den freien Verkehr von Waren vereinbare.

Russische Experten, darunter auch sehr kritische, unterstellen Janukowitsch indes, er wolle auf beiden Seiten kassieren. Sobald Geld aus Moskau geflossen sei, würde er erneut eine Kehrtwendung Richtung EU vollziehen. Das wäre ein herber Rückschlag für Putins außenpolitischen Höhenflug der letzten Monate. Und Moskaus Drohpotenzial gegenüber dem kleineren slawischen Bruder hält sich in Grenzen. Die russische Schwarzmeerflotte ist nach wie vor im ukrainischen Sewastopol auf der Krim stationiert. Der Bau eines eigenen Militärhafens an der kaukasischen Schwarzmeerküste würde Moskau viel Geld und vor allem Zeit kosten.

Druck des Kremls könnte die Ukraine zudem veranlassen, ihren in der Verfassung festgeschriebenen Neutralitätsstatus aufzugeben. Der entlastet Russland an seiner Südwestflanke. Dies um so mehr, da die USA in Bulgarien und Rumänien Teile ihrer globalen Raketenabwehr stationieren wollen, durch die sich Moskau bedroht fühlt.

Andererseits macht der Beitritt der Ukraine zur Zollunion auch für UdSSR-Spaltprodukte mit bisher neutraler Außenpolitik wie Aserbaidshan einen Wechsel ins russische Lager attraktiv. Denn darin befände sich in solchem Fall ja auch die nach Russland bevölkerungsreichste ehemalige Sowjetrepublik mit der zweitstärksten Volkswirtschaft. Längerfristig und bei günstiger Konstellation wäre das sogar für die prowestlichen Republiken Moldau und Georgien interessant, die in Vilnius eigene Assoziierungsabkommen mit der EU paraphiert haben.

Doch paraphiert ist, wie das Beispiel Ukraine zeigt, nicht unterzeichnet und schon gar nicht ratifiziert. Moskau dürfte nichts unversucht lassen, um den Regierungen in Chisinău und Tbilissi klar zu machen, dass mit einer EU-Assoziierung deren Chancen auf eine Wiederherstellung ihrer staatlichen Einheit weiter sinken. Denn die Separatisten in der Dnjestr-Republik, in Abchasien und Südossetien sind von Moskau abhängig und widersetzen sich wie Russland energisch einer Assoziierung mit der EU.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 3. Dezember 2013


Streit um den "ukrainischen Bissen"

Vitali Atanasow über den Sinneswandel der Regierenden in Kiew und dessen Hintergründe **

Vitali Atanasow (33), Journalist in Kiew, beschäftigt sich vor allem mit sozialen Problemen und Analysen der ukrainischen Gesellschaft. Er selbst bezeichnet sich als linken Aktivisten. In Berlin, wo Atanasow Gast der Rosa-Luxemburg-Stiftung war, befragte ihn Detlef D. Pries zu den aktuellen Ereignissen in der Ukraine.


Waren Sie überrascht, als die ukrainische Regierung die Unterzeichnung des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der EU gestoppt hat?

In gewissem Sinne ja, denn anderthalb Jahre lang baute die ganze Werbestrategie der Regierung auf der kommenden Unterzeichnung dieses Abkommens auf. Es gab ja sonst nichts, dessen sie sich rühmen konnte: Die Wirtschaft stagniert, die soziale Ungleichheit nimmt zu, die Korruption ist ungebremst. Nur die mögliche Annäherung an die EU schien sich als Trumpf ausspielen zu lassen.

Was macht die EU-Assoziierung in den Augen vieler Ukrainer so anziehend?

Nach dem Fall der Sowjetunion war die Hoffnung groß, dass die unabhängige Ukraine ein blühendes, demokratisches Land wird. Daraus ist bis heute nichts geworden. Mit der EU-Assoziierung verbinden daher viele die Hoffnung auf Veränderungen zum Guten. Die ukrainische Politik wird sehr oft von Mythen beherrscht, von abstrakten Ideen, statt von den realen Problemen. Da wird über Nation, Sprache, Religion gestritten, aber das Wichtigste, die sozialökonomischen Probleme, unter denen die Mehrheit der Bevölkerung leidet, spielt in der öffentlichen Auseinandersetzung keine Rolle. Stattdessen streiten der Präsident und die Opposition darum, wer der größere »Eurointegrator« ist.

Verstehen Sie die Gründe, die zur Wende der Regierung und des Präsidenten geführt haben?

Man muss unterscheiden zwischen den öffentlichen Erklärungen und dem, was hinter den Kulissen abgelaufen ist. Der Präsident sagt, eine zu schnelle Annäherung an die EU könne die wirtschaftliche Lage erschweren. Damit spielt er auf den Druck der Russischen Föderation an, und tatsächlich spielt Russland für die Energieversorgung und die Exportwirtschaft der Ukraine nach wie vor eine bedeutende Rolle.

Dazu kommen andere Gründe: Offenbar hat sich Janukowitsch von den Mächtigen in der EU mehr versprochen. Er weiß, dass sie ihn nicht wegen seiner schönen Augen umarmen, sondern aus politischem und ökonomischem Interesse: Die EU selbst befindet sich in der Krise. Zwar ist die ukrainische Gesellschaft nicht sehr reich, dennoch ist der ukrainische Markt nicht zu verachten. Dafür, dass er diesen Markt für westeuropäische Unternehmen öffnet, wollte Janukowitsch offenbar mehr haben – gewisse Präferenzen, Garantien. Die hat er aber nicht bekommen.

Aus Sicht westlicher Medien schien zuletzt alles an der Freilassung Julia Timoschenkos zu hängen.

Ginge es nach einem Großteil der ukrainischen Bevölkerung, müssten alle Regierungschefs der letzten 20 Jahre ins Gefängnis – lebenslänglich. Und auch die europäischen Mächte waren offenbar bereit, diese Debatte zu vertagen, als Janukowitsch deutlich machte, dass er das Abkommen nicht unterschreiben werde. Sie schienen sogar bereit, ihre harten Forderungen nach Reformen, Bekämpfung der Korruption, Privatisierungen und dergleichen zu mildern. Das zeigt, wie wichtig ihnen die Ukraine ist.

Welche Rolle spielen soziale Forderungen in der gegenwärtigen Protestbewegung?

Der europäische Sozialstaat oder das, was davon unter dem Druck der neoliberalen Reformen übrig geblieben ist, wovon man sich also gewisse Verbesserungen für die Ukraine versprechen könnte, spielt in den Diskussionen eine sehr geringe Rolle. Als linke Gruppen mit der Forderung nach entgeltfreiem Gesundheits- und Bildungswesen auftraten, wurden sie gar als »Provokateure« diskreditiert. Das Problem ist, dass rechte und sogar ultrarechte Kräfte in Gestalt der nationalistischen Partei »Swoboda« die Proteste dominieren und jede linke Konkurrenz ausgrenzen. Obgleich es absurd scheint, dass Leute, die angeblich für »europäische Werte« streiten, sich für soziale oder Gleichstellungsfragen nicht interessieren.

Welches Gewicht haben linke Kräfte überhaupt in dieser Bewegung?

Offen gesagt, ein minimales. Das liegt auch daran, dass die außerparlamentarische Linke in der Ukraine zahlenmäßig schwach ist. Sie hat wichtige Ideen, aber sie kann sie nicht in die Gesellschaft tragen.

Die Kommunistische Partei der Ukraine befürwortet den Beitritt zur Zollunion mit Russland, schlägt aber ein Referendum über die Frage der Orientierung vor. Ist das eine Lösung?

Formal wäre das eine demokratische Prozedur, die erweisen könnte, was die Mehrheit wirklich will. Aber die KPU als Parlamentspartei unternimmt real sehr wenig, ein solches Referendum durchzusetzen. Mir scheint, dass sie ihre Idee selbst nicht ernst nimmt.

Würde ein Referendum die Spaltung der Ukraine womöglich gar vertiefen?

Es ist bekannt, dass in der Westukraine viele die Nationalisten unterstützen und paradoxerweise zugleich für die EU-Assoziierung eintreten. In der Ostukraine ist man mehr auf Russland orientiert. Insofern würde das Referendum nur bestätigen, was man schon weiß. Deshalb glaube ich nicht, dass ein Referendum der Ausweg wäre, aber es wäre ohne Zweifel demokratischer als eine einsame Entscheidung des Präsidenten.

Beide Seiten – die EU und Russland – stellen die Ukraine vor die Wahl: entweder mit uns oder mit denen. Ist das für die Ukraine eine realistische Alternative?

Die Ukraine ist ja kein einheitliches Ganzes. Janukowitsch und die Gruppe der Oligarchen, die er vertritt, haben eigene Interessen, deren oberstes der Machterhalt ist. Bei einer Wahlniederlage 2015 könnte Janukowitsch in Anbetracht der »Tradition«, den politischen Gegner vor Gericht zu stellen, selbst im Gefängnis landen. Andererseits weiß er, dass seine Macht bedroht ist, wenn seine Entscheidung – EU-Assoziierung oder Beitritt zur Zollunion – ungünstige Auswirkungen für die große Mehrheit hat.

Eigentlich steckt er in einer Sackgasse: Er braucht neue Finanzzuwendungen, wenn er der schwierigen Lage – hohe Staatsschulden, Haushaltsdefizit, Währungsverfall – entrinnen will. Der IWF fordert dafür, Renten und Löhne einzufrieren, Gas- und Stromtarife zu erhöhen. Wenn er darauf eingeht, ist das tödlich für seine Wiederwahl. Aber Russland verwöhnt ihn auch nicht: Der russische Kapitalismus verkauft der Ukraine, dem angeblichen »Brudervolk«, Gas zum Höchstpreis. Offensichtlich konkurrieren beide – die EU und Russland – sehr ernsthaft um den ukrainischen Bissen. Das Schicksal der Ukraine und ihrer Bevölkerung interessiert sie dabei am wenigsten.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 3. Dezember 2013


Die Braut vom Altar entführt

Aleksander Kwasniewski: Ukraine läuft uns davon

Von Julian Bartosz, Wroclaw ***


Polens Öffentlichkeit wird emotional proukrainisch und antirussisch aufgeladen. Sonderkorrespondenten aller Fernsehstationen berichten laufend über die Geschehnisse in Kiew, als ginge es um die Freiheit Polens.

Tatsächlich gilt an der Weichsel immer noch die »Prometheus-Ideologie«, die den Polen eine besondere Verantwortung für die Ukraine auferlegt, deren westlicher Teil jahrhundertelang zum polnischen Reich gehört hatte. Kurz, man verspürt in den regierenden Kreisen Warschaus eine Art Sendungsbewusstsein. In der Aufgabe, die Ukraine an die EU heranzuführen, fand das seinen Ausdruck. Das Scheitern der »Ostinitiative« beim EU-Gipfel in Vilnius, das einem Fiasko der polnischen Außenpolitik – aber nicht nur dieser – gleichkommt, ließ hier eine »überparteiliche« Allianz entstehen: Premier Donald Tusk lobte Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski für dessen Sonntagsrede in Kiew, wo dem PiS-Chef angenehme Jaroslaw-Rufe entgegenschallten.

Der kaum verborgene Unmut über Russland, das die Ukraine unter ökonomischen Druck setzte und damit die EU-Assoziierung vereitelte, ist eine logische Folge des Tauziehens zwischen westlichen und östlichen »Partnern« der Ukraine. Außenminister Radoslaw Sikorski twitterte: Putin hat die Braut vom Altar entführt. Gleichwohl fragte er Kaczynski, wie viele Milliarden der denn der Ukraine zuzuschanzen gedenke, um die finanziellen Verluste der Ukraine auszugleichen.

Aleksander Kwasniewski, der als EU-Beauftragter gemeinsam mit dem Briten Pat Cox die Assoziierung vorbereitet und den »Fall Timoschenko« zu klären versucht hatte, zeigte sich im Gespräch mit »Polityka« enttäuscht. Unter der Überschrift »Die Ukraine läuft uns davon« beklagte er, die EU sei gar nicht bereit gewesen, Kiew mit einem »ökonomisch-finanziellen Paket« in einer Übergangszeit unter die Arme zu greifen.

In den Berichten polnischer Korrespondenten wird eines unterschlagen: dass der Osten des Landes weder den Generalstreik noch den Janukowitsch-Sturz will. Diese Forderung kommt von Westukrainern, die den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera zum Helden erklärt und die an Polen in Wolhynien begangenen Massenmorde als nationale Aufgabe gutgeheißen haben.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 3. Dezember 2013


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