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Ukraine weiter hin- und hergerissen?

Am 16. Juli vor 20 Jahren wurde die Ukraine unabhängig

Von Valentin Rachmanow *

Dieses Jubiläum fiel fast mit einem anderen runden Datum zusammen - dem 60. Geburtstag des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Die GUS-Staatschefs gratulierten ihrem ukrainischen Amtskollegen und betonten, dass die ukrainische Regierung die schwierige Aufgabe habe, einen neuen Entwicklungsweg zu finden.

„Ich hoffe, dass sich die Ukraine unter Ihrer Führung als ein stabiler, gedeihender und starker Staat entwickeln und zuverlässige Partner haben wird wie beispielsweise diejenigen, die an diesem Tisch sitzen", sagte Russlands Präsident Dmitri Medwedew beim jüngsten GUS-Treffen auf der ukrainischen Halbinsel Krim.

Dieser Ton ist verständlich: Der Kurs der früheren Regierung endete in einer Sackgasse. Viele wirtschaftliche Probleme taten sich auf. Das Streben nach der Nato- und EU-Mitgliedschaft stieß im Westen nicht auf Gegenliebe, als es um prinzipielle Fragen ging. Mit Janukowitsch als Präsident ist ein neues Kapitel in der Geschichte der unabhängigen Ukraine geöffnet worden. Nach der Präsidentenwahl zum Jahresbeginn kam es zum Wechsel an der Staatsspitze. Auch viele Top-Beamte mussten ihre Posten verlassen.

Zu den Problemen, die Janukowitsch noch lösen muss, gehört nach wie vor die Frage, ob die Ukraine sich dem Westen zuwenden oder im Osten bleiben soll. Wie man nach den ersten Ankündigungen des ukrainischen Präsidenten schlussfolgern kann, ist diese Frage bereits zu Gunsten des Westens gelöst worden. Die Ukraine hat den Nato-Beitritt jedoch in den Wind geschrieben. Bei seinem ersten offiziellen Besuch in Brüssel verkündete Janukowitsch, dass der Kurs auf die Zusammenarbeit mit der EU Vorrang habe. Dennoch gibt es viele Widersprüche, die daran erinnern, dass nicht alles so eindeutig ist.

Für die ukrainische Wirtschaft ist es beispielsweise vorteilhafter, sich den postsowjetischen Staaten im Osten als der EU anzunähern. Die Ukraine hat eine größtenteils veraltete Industrie, die viel Geld und Energie verschlingt und auf dem europäischen Markt kaum eine Chance hätte. Die Handelskooperation mit dem Osten hat mehr Aussicht auf Erfolg, weil die wirtschaftlichen Seilschaften seit Sowjetzeiten erhalten geblieben sind. Zudem erfreuen sich die ukrainischen Waren in den GUS-Staaten der Nachfrage.

Russische und ukrainische Experten sehen die Sache unterschiedlich. „Der traditionelle Eurozentrismus unserer Politik lässt sich darauf zurückführen, dass wir dieselben Werte wie Europa haben", so der ukrainische Politologe, Direktor des Europäischen Instituts für Integration und Entwicklung, Dmitri Wydrin. „Das klingt zwar etwas banal, aber die Menschenrechte und die Einhaltung des Gesetzes sind das, was man anstreben sollte. Außerdem wurde der ukrainische Staat ursprünglich nach dem Vorbild der europäischen Länder aufgebaut."

„Es gibt den Standpunkt, dass es zwischen der europäischen und östlichen Richtung unserer Politik keine Widersprüche gibt. Aber was die Wirtschaft angeht, so gibt es auf diesem Gebiet keine Kompromisse. Wenn Sie eine Planwirtschaft haben, dann können sie nicht eng genug mit ‚kapitalistischen Ländern‘ zusammenarbeiten, um einen alten Begriff mal zu verwenden. So ist die Situation auch heute: Die Ukraine entwickelt ihre Wirtschaft nach dem europäischen Modell", sagte der Experte. „Obwohl ich durchaus einräume, dass die Ukraine nach dem WTO-Beitritt Russlands auch an anderen Vereinigungen unter dessen Beteiligung teilnehmen wird."

Nach Auffassung mancher Experten stimmt das wirtschaftliche Interesse der EU an der Ukraine nicht ganz mit deren nationalen Interessen überein. Die Ukraine könnte von einem großen Markt gerettet werden, zu dem sie freien Zugang hätte. Dies kann nur Russland (und die ganze GUS) bieten. Eine Alternative könnte die Türkei sein, doch der GUS-Markt mit seinen 200 Millionen Einwohnern ist größer.

Die Präsidentin der Wirtschaftsstiftung „Eurasisches Erbe", Jelena Jazenko, führt den jetzigen Eurozentrismus der Ukraine auf die jüngste Einigung der östlichen und westlichen Regionen des Landes zurück, sich der EU anzunähern. „Die ukrainischen Bürger befinden sich unter dem Einfluss der EU-Propaganda, verstehen aber nicht, dass ukrainische Erzeugnisse auf dem EU-Markt nicht konkurrenzfähig sind", konstatierte sie. „Damit die Ukraine in die EU aufgenommen werden könnte, müsste sie in irgendeinem Sinne für Europa interessant sein. Aber derzeit gibt es keine solchen Faktoren. Die Regierung weiß das, kann aber ihren EU-Kurs nicht sofort ändern, weil er sich bereits verankert hat", so Jazenko. Nach ihren Worten schließen sich der östliche und westliche Vektor gegenseitig jedoch nicht aus. Für die Ukraine sei es besser, die Kooperation in allen möglichen Richtungen zu entwickeln.

Der russische Politologe Jefim Piwowar, behauptet, dass die Ukraine „zwischen verschiedenen Staaten lavieren muss und sich um den Schutz ihrer nationalen Interessen bemüht." „Außerdem gibt es im ukrainischen Establishment Personen, die den postsowjetischen Raum prinzipiell meiden."

Einst war die Meinung geäußert worden, dass Kiew auch nur deswegen in die EU gehen sollte, weil die Ukraine als Gastransitland „auf der anderen Seite des Ladentisches" vom Energielieferanten Russland steht. Aber auch auf diesem Gebiet ändert sich die Situation. Bereits 2011 sollen die Pipelines South Stream und Nord Stream schrittweise in Betrieb genommen werden, die unter Umgehung der Ukraine gebaut werden. Nachdem die Ukraine seine Monopolstellung als Transitland verloren hat, muss sie nach einem anderen Sinn der Annäherung an die westlichen Gasverbraucher suchen.

Auf der einen Seite steht also der europäische Kurs der Ukraine, der unabhängig von der Regierung bewundernswert konstant bleibt. Auf der anderen Seite bleibt die wirtschaftliche Nützlichkeit der Annäherung an die GUS-Länder. Höchstwahrscheinlich ist die Frage, welche Richtung wichtiger ist, rein rhetorisch. Die neue ukrainische Führung sucht einfach nach einem adäquaten Weg, um beide Entwicklungswege zu kombinieren, aber die von der früheren Regierung festgelegten Richtungen sind immer noch spürbar. Zwischen Bündnissen wie die EAWG, der Einheitliche Wirtschaftsraum und die EU gibt es schließlich keine unüberwindbaren Widersprüche. Es ist nur etwas Zeit für die gegenseitige Anpassung erforderlich. Vielleicht sieht sich die jetzige ukrainische Regierung in diesem Sinne als Vermittler.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 16. Juli 2010; http://de.rian.ru



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