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Ukraine verschlepppt ihre Krise weiter

Hinter den Kulissen werkeln einstige Erzfeinde an einem neuen Regierungsbündnis

Von Manfred Schünemann *

Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, hat sich in die Sommerpause verabschiedet. Auch die letzte Sitzungswoche war nicht von konstruktiver Parlamentsarbeit, sondern - wie schon gewohnt - von gegenseitigen Blockaden und heftigen Auseinandersetzungen geprägt.

Vordergründig ging es zuletzt um den notwendig gewordenen Nachtragshaushalt, im Kern allerdings um das Schicksal des derzeitigen Regierungsbündnisses zwischen den Parteiblöcken von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (BJUT) und Präsident Viktor Juschtschenko (Unsere Ukraine - Selbstverteidigung des Volkes). Ein von der oppositionellen Partei der Regionen (PdR) eingebrachter Misstrauensantrag gegen die Regierung Timoschenko fand allerdings keine Mehrheit, da sich die Abgeordneten der Kommunistischen Partei (KPU) und des Litwin-Blocks nicht an der Abstimmung beteiligten und der Juschtschenko-Block, bis auf zwei Abweichler, der Ministerpräsidentin noch einmal das Vertrauen aussprach. KPU-Chef Petro Simonenko erklärte dazu, die Kommunisten wollten nicht »Steigbügelhalter« für eine »Große Koalition« des Juschtschenko-Blocks mit der Partei der Regionen sein. An einer solchen Koalition der einstigen Erzfeinde werde hinter den Kulissen fleißig gearbeitet.

Das Abstimmungsergebnis ist auch eine indirekte Niederlage für Präsident Juschtschenko, der noch kurz zuvor einen eigenen Vorschlag für den Nachtragshaushalt eingebracht hatte, womit er seine Koalitionspartnerin und Ministerpräsidentin offen düpierte.

Mit den Entscheidungen der Werchowna Rada wurde die politische Dauerkrise der Ukraine, deren Hauptmerkmale das Fehlen stabiler politischer Mehrheiten und die Zerstrittenheit des Regierungslagers sind, zunächst auf den Herbst vertagt. Die Regierung Timoschenko bleibt bis dahin im Amt, wenn auch ohne verfassungsrechtlich gesicherten Haushalt. Ob sie die Zeit nutzen kann, um die Koalition zu festigen, bleibt sehr fraglich.

Der Riss zwischen den Koalitionspartnern wird bei allen Sachentscheidungen sichtbar. Präsidialverwaltung und Regierung treten offen als Kontrahenten auf. Scharf kritisiert das Präsidentenlager die Wirtschaftspolitik Timoschenkos, vor allem »überzogene« Sozialmaßnahmen, darunter Lohn- und Rentenerhöhungen, durch die das Ansehen der Regierungschefin in der Bevölkerung weiter gewachsen ist. Abgeordnete der BJUT-Fraktion sprechen dagegen davon, dass der Chef der Präsidialverwaltung, Viktor Baloga, die Arbeit der Regierung hintertreibe, nur um eine neue Koalition mit der Partei der Regionen zu schaffen.

Gerade diese Lösung wird dem Präsidenten schon seit langem auch von westlichen Ratgebern nahegelegt, um innenpolitische Stabilität zu gewährleisten. In der Tat laufen etliche Bemühungen darauf hinaus. Intensiv wird daran gearbeitet, die Partei »Einiges Zentrum« als neue Präsidentenpartei zu etablieren. Deren Vorsitzender Igor Kril sprach sich gegen Neuwahlen aus, weil sich die Mehrheitsverhältnisse dadurch nicht ändern würden. Vielmehr könnte sich der größere Teil der jetzigen Fraktion Unsere Ukraine - Selbstverteidigung des Volkes der neuen Partei anschließen, um danach eine Parlamentsmehrheit mit der PdR zu bilden.

Die Partei der Regionen und deren Chef, der ehemalige Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, stehen solchem Spiel durchaus aufgeschlossen gegenüber, weil sie sich von einer Regierungsbeteiligung bessere Chancen bei kommenden Präsidentenwahlen versprechen. Julia Timoschenko und ihr Block streben dagegen nach vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahlen, um die gegenwärtige große Popularität der Regierung auszunutzen. Voraussetzung dafür wäre eine Selbstauflösung der Werchowna Rada, für die es momentan jedoch keine Parlamentsmehrheit gibt.

Auch in einer anderen Frage sind die bisherigen Koalitionäre tief zerstritten. Während der Timoschenko-Block durch eine Verfassungsreform die Kompetenzen von Regierung und Parlament konkretisieren will, tritt das Juschtschenko-Lager für eine neuerliche Stärkung der Macht des Präsidenten ein. Beide Blöcke haben der Verfassungskommission aber noch keine detaillierten Vorschläge gemacht - auch um das Koalitionsklima nicht weiter zu verschlechtern. Die Partei der Regionen dagegen legte Anfang Juli ihre Vorschläge zur Verfassungsänderung vor. Demnach soll Russisch zur zweiten Amtssprache werden, die Ukraine soll sich in der Verfassung zur Blockfreiheit bekennen, das Verfahren für die Amtsenthebung des Präsidenten würde vereinfacht und die stärkste Parlamentsfraktion erhielte das Recht zur Regierungsbildung. Doch weder im jetzigen Parlament noch in der möglichen künftigen Koalition von Juschtschenko-Block und Janukowitsch-Partei fände sich für diese Vorschläge eine Mehrheit.

So dauert der innenpolitische Streit in der Ukraine an - ungeachtet wachsender wirtschaftlicher Probleme. Zwar wuchs das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr noch um 6 Prozent, aber steigende Produktionskosten, eine Inflationsrate von etwa 15 Prozent im Jahresdurchschnitt und ein wachsendes Außenhandelsdefizit gefährden die Entwicklung. Die von der Regierung Timoschenko ergriffenen Gegenmaßnahmen - staatliche Preiskontrolle, Regulierung des Energiesektors, Neuverkauf renationalisierter Betriebe - erweisen sich als weitgehend wirkungslos. Durch populistische Versprechungen und einseitige Orientierungen seit dem politischen Machtwechsel 2005 wurden die Probleme, die unter anderem aus steigenden Energiekosten, mangelhafter Infrastruktur und erheblicher Staatsverschuldung resultieren, stattdessen weiter zugespitzt. Besonders deutlich wird das im Energiebereich. Noch immer fehlen ein Programm zur Energieeinsparung und langfristige Vereinbarungen über Öl- und Gaslieferungen aus Russland, die für die Ukraine noch lange Zeit von existenzieller Bedeutung bleiben werden.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juli 2008

Zwei Meldungen zur Energieversorgung der Ukraine

Gazprom deckt ukrainischen Gasbedarf 2008 vollständig

In diesem Jahr wird der Gasbedarf der Ukraine vollständig gedeckt. Darum ging es bei Verhandlungen des ukrainischen Gasversorgers Naftogas mit dem russischen Energiekonzern Gasprom, die am Montag und Dienstag in Moskau stattfanden.

Wie Naftogas am Dienstag (15. Juli) mitteilte, wurde bei den Verhandlungen bestätigt, dass die Ukraine in diesem Jahr aus Russland den bestellten Gasumfang von 55 Milliarden Kubikmetern vollständig bekommen wird. Dadurch würde der eigene Bedarf gedeckt und der unterbrechungsfreie Transit nach Westeuropa gesichert.

Der Gasverbrauch in der Ukraine ist in diesem Jahr mit 75 Milliarden Kubikmeter geplant. Etwa 20 Milliarden Kubikmeter davon sollen aus der Eigenproduktion und der Rest durch Importe gedeckt werden.

Der Streit um den Gaspreis zwischen Gazprom und der Ukraine hatte beim Jahreswechsel 2005/2006 zu Unterbrechungen der Lieferungen geführt und die Gasexporte nach Westeuropa kurzfristig beeinträchtigt. Damals hatte die Ukraine unerlaubt das für Europa bestimmte Gas angezapft. Schließlich musste Gazprom das nicht nach Europa gelangte Gas nachliefern.

Ukraine fordert Zugriff zu russischen Pipelines

Der WTO-Neuling Ukraine will seine Mitgliedschaft bei der Welthandelsorganisation nutzen, um Zugriff auf russische Öl- und Gaspipelines zu erreichen.

Am Dienstag (15. Juli) kündigte der ukrainische Wirtschaftsminister Valeri Pjatnizki an, der Zugang zu russischen Rohrleitungen sei eine Bedingung für die Zustimmung der Ukraine für den russischen WTO-Beitritt.

Die Ukraine ist seit 16. Mai dieses Jahres WTO-Mitglied und darf seither Forderungen an die Beitrittskandidaten stellen. Russland will Ende 2008 oder spätestens 2009 der Organisation beitreten und hat bereits von den meisten WTO-Staaten grünes Licht bekommen.

"Uns interessiert der Zugang zu russischen Pipelines, um einen freien Gas- oder Öltransit aus Zentralasien zu gewährleisten", sagte Pjatnizki in Kiew. Die Ukraine sei bereits der zuständigen WTO-Arbeitsgruppe beigetreten, die die Beitrittsbedingungen mit Russland abstimmt.

Quelle, Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 15. Juli 2008




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