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Erst geht der Sicherheitschef - dann die ganze Regierung

Ukraine: "Der Präsident ist kein Kindermädchen" - Streit um die Wirtschafts- und Sozialpolitik

Die Situation in der Ukraine - neun Monate nach der Revolution in Orange - ist von Instabilität, Korruption und internen Machtkämpfen geprägt, wobei sich nun die die einstigen Verbündeten zunehmend in die Haare geraten. Im Folgenden dokumentieren wir Informationen und Hintergründe über die gegenwärtige Krise in der Ukraine.


Nur neun Monate hielt das Bündnis

Führer der »Revolution in Orange« konnten Gegensätze nicht länger unterdrücken

Von Manfred Schünemann und Detlef D. Pries


Ein Dreivierteljahr nach dem politischen Wechsel in der Ukraine sind die Widersprüche innerhalb des Regierungslagers offen zu Tage getreten: Am Donnerstag entließ Präsident Viktor Juschtschenko die Regierung unter Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und den Chef des Nationalen Sicherheitsrates, Pjotr Poroschenko.

Es könne nicht Aufgabe des Präsidenten sein, wie ein Kindermädchen täglich den Streit zwischen Regierung, Nationalem Sicherheitsrat und Präsidialverwaltung zu schlichten, schimpfte Viktor Juschtschenko, als er seinen Landsleuten den dramatischen Entschluss erklärte, die Führungen aller drei Gremien auszuwechseln.

Der Chef der Präsidialverwaltung, Oleksandr Sintschenko, war seiner Ablösung allerdings zuvorgekommen. Bereits am 3. September hatte er seinen Rücktritt eingereicht. Zwei Tage später wetterte er: »Oft ist die Korruption heute größer als früher.« Und nahm insbesondere Pjotr Poroschenko aufs Korn.

Poroschenko, bisher Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, ist in der Ukraine als »Schokoladenoligarch « bekannt. Sein Vermögen wurde jüngst auf 350 Millionen Dollar geschätzt, er gilt als einer der wichtigsten Geldgeber des Juschtschenko- Wahlkampfes und als erbittertster Rivale Julia Timoschenkos, deren Premierposten er wohl selbst gerne gehabt hätte. Timoschenko- Vertraute werfen ihm vor, eine Gegenregierung gebildet zu haben, deren Einfluss auf den Präsidenten in jüngster Zeit zugenommen habe.

Kurz: Jeder beschuldigt jeden, seine Machtposition zur Förderung eigener Geschäftsinteressen zu missbrauchen. So war die Scheidung des »Traumpaares der Orangen- Revolution« – Juschtschenko und Timoschenko – noch vor den Parlamentswahlen im März kommenden Jahres unvermeidlich.

Hauptgründe sind neben dem Machtstreben der hinter beiden Politikern stehenden Gruppierungen und dem Kompetenzgerangel zwischen den Institutionen prinzipielle Unterschiede in den Auffassungen über die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die von Timoschenko mit ungebremstem Elan verfolgte Kampagne gegen Korruption und Vetternwirtschaft bei der Privatisierung früherer Staatsbetriebe hatte zu wachsender Verunsicherung der betroffenen Finanz- und Wirtschaftsgruppierungen geführt und auch deren ausländische (darunter russische) Teilhaber beunruhigt. Folge war ein starker Rückgang der wirtschaftlichen Leistungskraft und der Investitionen im ersten Halbjahr 2005. Anders als versprochen, wurden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die finanzielle Absicherung der sozialen »Segnungen«, wie sie Juschtschenko im Wahlkampf 2004 versprochen hatte, verlor zusehends ihre Grundlage. Erst vor wenigen Tagen hatte Julia Timoschenko deutlich gemacht, dass vor weiteren Sozialmaßnahmen zunächst weitere Re-Nationalisierungen und harte Reformschritte in der Wirtschaft notwendig seien.

Mit der Ernennung Juri Jechanurows zum neuen Ministerpräsidenten macht Juschtschenko seinen wirtschaftspolitischen Kurs deutlich: Jechanurow hatte als Chefprivatisierer von 1994 bis 1997 einen Großteil jener Privatisierungen zu verantworten, die Timoschenko rückgängig machen wollte, um die betroffenen Unternehmen ein zweites Mal zu veräußern.

Die politischen Folgerungen des Machtkampfes zwischen den Anhängern des Präsidenten und der »Stimme der Revolution in Orange« Julia Timoschenko werden vor den Parlamentswahlen noch deutlich zu Tage treten. Timoschenkos Partei »Vaterland« erklärte am Freitag, sie werde im Hinblick auf die Wahl in Opposition zu Juschtschenko gehen. Damit wäre der Versuch des Präsidenten gescheitert, in der neuen Regierungspartei »Volksunion Unsere Ukraine« das bisherige Regierungslager zu vereinen. Dank ihrer seit Anfang des Jahres noch gewachsenen Popularität und ihrem engagierten Auftreten gegen die »neue« Korruption könnte Timoschenko bei den Wahlen zur chancenreichen Herausforderin des Präsidentenlagers werden.

Die bisherige Opposition fordert indes erneut die Einschränkung der Macht des Präsidenten. Das Parlament und nicht der Präsident müsse künftig über die Zusammensetzung der Regierung entscheiden, sagte ein Sprecher der Vereinigten Sozialdemokraten. Deren Fraktionschef Leonid Krawtschuk, erster Präsident der Ukraine, sprach Juschtschenko schlicht die Fähigkeit zu effektiver Staatsführung ab und riet ihm, sich auf vorfristige Neuwahlen einzustellen.

Juschtschenko selbst beschwor zwar erneut die »Werte der Revolution«, doch sein Ansehen im Volk hat arg gelitten. Nachdem Sohn Andrej durch verschwenderischen Lebensstil aufgefallen war, hatte ein Journalist den Präsidenten gefragt, ob er es für moralisch halte, »in so einem Land über solche Mittel zu verfügen«. Daraufhin beschimpfte Juschtschenko den Fragesteller unflätig als »gedungenen Killer« und verdarb es sich dadurch auch noch mit ganzen Journalistenscharen.

Aus: Neues Deutschland, 10. September 2005


Privatisierer Juri Jechanurow

Der Burjate will als neuer Regierungschef der Ukraine »Stabilität garantieren«.

Innerhalb einer Woche – so die Anweisung des Präsidenten – soll Juri Jechanurow eine neue Regierung bilden. Der 57-Jährige ist seiner Nationalität nach Burjate und wurde im fernöstlichen Jakutien geboren. Er besuchte eine Baufachschule in Kiew und stieg anschließend vom Vorarbeiter zum Direktor einer Stahlbetonfabrik auf. In der unabhängigen Ukraine machte er sich als Vorsitzender des Fonds für Staatseigentum einen Namen. Zwischen 1994 und 1997 wurde unter seiner Leitung jedes zweite Industrieunternehmen des Landes privatisiert, um – wie Jechanurow einmal sagte – »die Wiedergeburt des Kommunismus zu verhindern«. Ironie der Geschichte: Mit dem Vorwurf der Verschleuderung des Staatseigentums an Günstlinge des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma wurde später die »Orangen-Revolution« angeheizt.

1997 zum Wirtschaftsminister berufen, wurde Jechanurow während der Regierungszeit Viktor Juschtschenkos (1999-2001) dessen erster Stellvertreter und führte die Verhandlungen der Ukraine mit dem Internationalen Währungsfonds. Auch nach der Entlassung Juschtschenkos durch Präsident Kutschma blieb Jechanurow seinem vormaligen Dienstherrn treu. Als Abgeordneter des Juschtschenko-Blocks »Unsere Ukraine« leitete er im Parlament der Ukraine den Ausschuss für Wirtschaftspolitik und Unternehmertum. Immerhin hatte er zuvor zeitweilig selbst dem Unternehmerverband vorgesessen.

Juschtschenko wechselte, als er Anfang dieses Jahres das Präsidentenamt übernahm, umgehend die Gouverneure der Regionen aus. Seinen Getreuen Jechanurow machte er zum Verwaltungschef des Gebietes Dnjepropetrowsk, einer Hochburg der Juschtschenko-Gegner. Jetzt aber soll der als »rational, pragmatisch und tolerant« bezeichnete Politiker nichts weniger als »die Stabilität der Ukraine gewährleisten«. Zumindest wird er wohl – anders als seine Vorgängerin – die Autorität des Präsidenten nicht anfechten.

Detlef D. Pries

Aus: Neues Deutschland, 10. September 2005


K o m m e n t a r

Alte Cliquen

Die Orange-Revolution der Ukraine hat nicht ihre eigenen Kinder verschlungen. Sie hat gar nicht richtig stattgefunden. Die Revolutionäre haben sich in ihrem Subjekt geirrt. Was in ihrem Namen seit den beeindruckenden, mitreißenden Kundgebungen auf dem Kiewer Maidan, also seit zehn Monaten, stattgefunden hat, war ein Elitenwechsel innerhalb einer Elite.

Auf den ersten Blick hat Präsident Viktor Juschtschenko den Streit zwischen mehreren Mächtigen dadurch beendet, dass er alle hinauswarf oder aus eigenem Entschluss kündigen ließ. Dem Ruch der Korruption, der Verfolgung eigener Interessen, der Günstlingswirtschaft konnte schließlich keine und keiner der Beteiligten entgehen. Alle hatten sich Spielregeln gebeugt, die der auf dem Maidan scheinbar entstandenen Zivilgesellschaft nicht entsprechen.

Juschtschenko hat mit der Ernennung eines Interims-Premiers logisch gehandelt - seiner Logik folgend. Der neue Mann stammt aus Russland und vertritt den zuletzt im innenpolitischen Kampf unterlegenen Osten. Soll und kann das Versöhnung stiften? Wessen Versöhnung mit wem, wenn nicht nur innerhalb der alten Machtcliquen? Das Volk, das im Winter ziviles Selbstbewusstsein gefunden und artikuliert hat, muss noch einmal von vorn anfangen. Das ist die Kiewer Tragödie.

Karl Grobe

Aus: Frankfurter Rundschau, 9. September 2005


Juschtschenkos Doppelschlag

Von Konrad Schuller, Warschau

( A u s z u g )

(...) Die Konkurrenz zwischen Poroschenko und Timoschenko hatte die neue ukrainische Führung seit ihrem Sieg Ende vergangenen Jahres belastet. Beide waren für Juschtschenko während der Revolution unersetzlich: Julija Timoschenko schlug mit ihrem Charisma die Massen auf den Straßen und Plätzen in Bann, Poroschenko aber, einer der reichsten Männer der Ukraine, stellte Geld sowie den Fernsehsender „Kanal 5” zur Verfügung, durch den die Revolution vom Kiewer Unabhängigkeitsplatz in die Wohnzimmer der Nation übertragen wurde.
Nach dem Sieg Juschtschenkos galten beide als Anwärter auf das Amt des Ministerpräsidenten. Juschtschenko versuchte, ihren Ansprüchen gerecht zu werden, indem er zwar Timoschenko die Regierung übertrug, Poroschenko aber zum Sicherheitsberater berief und seine Kompetenzen so gestaltete, daß sein Amt aus der Sicht mancher Kritiker zuletzt einer „Gegenregierung” gleichkam.

Der persönlichen Konkurrenz hat eine Konkurrenz der Konzeptionen entsprochen. Stein des Anstoßes war dabei die „Reprivatisierungspolitik” - der Versuch, den Oligarchen der Ukraine, jener Handvoll Milliardären, die zur Zeit des korrupten Regimes Kutschma große Staatsbetriebe zu Schleuderpreisen erworben hatten, ihre Beute wieder zu entreißen.

In dieser Frage haben sich von Anfang an deutliche Unterschiede zwischen der radikaleren Timoschenko - sie wollte etwa 3.000 „erschlichene” Unternehmen wieder einziehen und abermals privatisieren - und der vorsichtigeren Präsidialkanzlei mit Juschtschenko und Poroschenko gezeigt.
Juschtschenko fürchtete, eine so weitgehende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse könnte über Jahre hin ausländische Investoren abschrecken. Der Präsident sprach deshalb von „etwa 30” betroffenen Unternehmen.
(...)
Um die Auswahl der Fälle, an denen ein Exempel zu statuieren wäre, tobt nun schon seit Monaten bitterer Streit. Nach dem Streit über die Zahl der vorübergehend wieder zu verstaatlichenden Firmen begann die Regierung, Fall für Fall auf dem Gerichtswege abzuarbeiten. Der erste Erfolg dieser Methode war die Rückverstaatlichung des Stahlwerks Kriworosch-Stahl, das Viktor Pintschuk, ein Schwiegersohn des früheren Präsidenten Kutschma, vergangenes Jahr für einen Bruchteil seines Wertes ersteigert hatte.
(...)
Eskaliert ist der Konflikt nun an der Stahlhütte in Nikopol, die bisher ebenfalls zum Imperium Pintschuks gehört. Juschtschenko hat in diesem Fall deutlich gegen den Reprivatisierungsvorstoß Timoschenkos Stellung genommen, nachdem Mutmaßungen geäußert worden waren, die Neuausschreibung werde einen angeblichen Verbündeten der Ministerpräsidentin begünstigen.
(...)
Poroschenko, so der Tenor, lege der Ministerpräsidentin bei der Privatisierung des Stahlwerks in Nikopol nur deswegen Steine in den Weg, weil er dadurch seinerseits bestimmte „Freunde” begünstige. Tomenko begründete seinen Rücktritt am Donnerstag mit den Worten, gegenwärtig gebe es in der Ukraine „zwei Regierungen”: die eine sei eine Oligarchie unter Poroschenko, die andere, das Kabinett der Ministerpräsidentin, sei rechtmäßig vom Parlament gewählt. (...)

Auszüge aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. September 2005


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