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Stadt, Land, Fluß

Träume und Wirklichkeit auf der ukrainischen Seite der Donau: Wie der Westen nach dem Ende der Sowjetunion langsam Einzug hält. Begegnungen in dem Dorf Liskij

Von Anita Müller *

Wenn gegen fünf Uhr in Liskij der Morgen graut, steht Volodja Syvak auf. Er macht sich schnell fertig: eine kalte Dusche, eine Tasse Tee, ein paar Scheiben Brot. Dann fährt er aufs Feld. Zu dieser frühen Stunde ist es noch lau und höchstens das Scharren eines Huhns oder Katzengezänk zerreißt die Stille auf den breiten Wegen des kleinen Dorfes. Liskij liegt im südlichen Zipfel der Ukraine, im Donaudelta. Das andere Flußufer gehört schon zu Rumänien.

Volodja Syvak ist Bauer und im Dorf Liskij der größte Unternehmer. Wer nicht bei ihm arbeitet – als Pflückerin, Techniker oder Kurier – ist wahrscheinlich Matrose. Das Schwarze Meer und ein kleiner Hafen sind nur zwölf Kilometer entfernt. Sonst gibt es kaum Wirtschaft in dieser ländlichen Gegend. Zu Sowjetzeiten gehörten alle Felder im Umkreis von Liskij zu einer Kolchose mit über 3000 Hektar. Auch nach dem Ende der Union blieb das Land Staatseigentum, wurde aber neu aufgeteilt, an Einzelpersonen verpachtet und von denen verwaltet. Volodja Syvak bewirtschaftet seine Felder privat, hat in Landmaschinen und holländisches Saatgut investiert und ist einer der wenigen, die sich selbständig gemacht haben trotz instabiler Wirtschaft.

Wenn Volodja morgens aufs Feld fährt, liegt noch eine hauchdünne Schicht Tau auf Erde und Gräsern. Sobald die Sonne aufgegangen ist, verwandelt sich der Sandboden in Staub. Schatten gibt es nirgendwo – bis zum Horizont streckt sich Ackerland. Die Dämme um die Donaukanäle, aus denen die Bewässerung der Felder gespeist wird, sind weit und breit die einzigen Erhebungen. Mittlerweile ist es hell. Einige Saisonarbeiterinnen werden auf einem Motorrad zur Arbeit gebracht. Fünf Frauen kauern in bunten, wehenden Schürzen, Proviantbeutel umklammernd, sich aneinander festhaltend, neben dem Fahrer auf dem Bretterpodest, mit dem die Motorräder hier statt eines Beiwagens ausgestattet sind. Die restlichen kommen auf dem Fahrrad oder laufen jeden Morgen vier Kilometer zu Fuß.

Hybridplan aus Holland

Ein kleiner Platz mit zwei Schuppen inmitten der Felder ist Volodjas Arbeitsplatz. Hier steht seine letzte stolze Errungenschaft: ein neuer, leuchtend blauer Traktor der Marke »Belarus«. Saisonarbeiterinnen verladen die Ernte auf einen Kleintransporter; Erdbeeren, Kartoffeln oder Tomaten, die zur Sammelstelle gefahren und an ukrainische Supermärkte verkauft werden. In einem der Schuppen lagern die Düngemittel – ohne einen ganz bestimmten Cocktail kommt die Agrikultur nicht aus, denn auch hier baut man Hybridpflanzen an. Das Saatgut kommt von einem holländischen Konzern. »Hybrid« bedeutet, daß die Pflanze genetisch so manipuliert wurde, daß sie sich nicht selbst reproduzieren kann, denn das Patent für die Züchtung besitzt der Konzern. In Westeuropa sind diese Pflanzen längst Standard.

In den ländlichen Gebieten der Ukraine, Rumäniens und wo sonst noch Absatzmärkte zu erschließen waren, haben inzwischen Vertreter von Agrarkonzernen das Hybridsaatgut beworben. Es verspricht höhere Erträge und ist resistenter gegen Schädlinge. Allerdings ist dafür eine genau abgestimmte Düngung notwendig, die mit der Aufbereitung des Ackers mit Round-up-Ready beginnt, einem dem »Agent Orange« chemisch sehr ähnlichen Unkrautvernichter. Der Bauer Volodja Syvak sieht inzwischen die Nachteile: teures Saatgut, Abhängigkeit von einem Konzern und hochgiftiger Dünger. Im vergangenen Jahr schließlich mußte noch mehr Geld für die Ware bezahlt werden, denn den Kredit hat die Bank nur mit erhöhten Zinsen gewährt.

Volodja Syvak erzählt: »Wir haben das Saatgut letztes Jahr teurer eingekauft als sonst und weniger verkauft. So geht es zur Zeit sehr vielen Bauern und kleinen Unternehmen. Wir haben in dieser Saison fast zwanzig Prozent weniger Umsatz gemacht. Dazu kommen Schwierigkeiten mit dem Klima: In den vergangenen drei Jahren war es im Sommer enorm heiß und trocken. Obwohl wir viel mehr gewässert haben, drohten die Felder zu vertrocknen.« Am liebsten würde er ökologischen Landbau betreiben und bedauert, daß es dafür in der Ukraine noch keinen großen Absatzmarkt gibt. Allerdings ist er zuversichtlich, daß sich dieser auch hier entwickeln wird. »Bio«, weiß Syvak, sei ja in Westeuropa ganz große Mode.

Bestechung im Alltag

Möchte man in der Ukraine ein Geschäft aufziehen, gibt es noch eine andere Hürde. »Die Behördengänge am Anfang waren das Schwierigste. Man brauchte viele Genehmigungen, und je mehr offizielle Stellen involviert waren, desto teurer oder langwieriger wurde es. Bestechungen kommen oft vor.« Das berichtet Volodjas Frau Sveta. Es gebe zwar faire Gesetze, aber sie würden schlecht befolgt, bemängelt sie. Sveta Syvak vergleicht die faktischen Lebensumstände von jetzt mit denen von damals, hält selbst wenig von politischen Ideologien und spricht aus, was viele in der Ukraine denken. »Das kommunistische System hatte sicher seine Probleme, Zensur und sowas. Aber unser alltägliches Leben war einfacher und lief nach Regeln, auf die man sich verlassen konnte. Es gab keine Bestechung im Alltag, bei Bildung, Gesundheitswesen und Arbeitsplatz. Unsere Politiker nennen sich jetzt Demokraten, aber de facto braucht man oft Geld und Beziehungen.«

Wenn Sveta zum Arzt muß, sagt sie einer Freundin in der Hafenmetropole Odessa Bescheid, die eine Schwester im Krankenhaus gut kennt, die ihr einen Termin geben kann. Dann kommt sie relativ schnell dran, und der Arztbesuch ist preiswerter. Ohne Beziehungen bekomme man schwieriger einen Termin, sagt sie. Das Gesetz garantiert zwar freie medizinische Grundversorgung. Eine ernste Krankheit kann aber eine Familie in eine schwierige finanzielle Situation führen. Gute Medikamente und Technik sind vereinzelt vorhanden, nicht genug jedoch, um die Masse zu versorgen wie etwa in einem westlichen Staat. Gut ausgebildete Ärzte versuchen nach Möglichkeit, einen Job im Westen zu bekommen.

Vielleicht kennt deshalb fast jede Frau eine unüberschaubare Menge an Hausmitteln. Sie haben sich seit Generationen bewährt, sind billig, jeder kann sie sammeln oder auf dem Markt kaufen. So stehen auf dem großen Basar in der eine Million Einwohner zählenden Großstadt Odessa alte Dorffrauen und bieten Kräuter-Sträußchen, Wurzeln und Tee an. Zu jeder Mischung folgt in einem belehrenden Redeschwall, wofür – in der richtigen Zubereitung – die Pflanzen gut sind, was sie heilen, wie sie den Körper stärken oder die Seele reinigen. Etwas Naturverbundenes, Schamanisches schwingt mit. Trotz ihrer schwarzfurchigen, knochigen Hände und trotz der wettergegerbten Gesichter unbestimmbaren Alters strahlen diese Frauen, die zum Schutz Ikonenbildchen um den Hals tragen, eine schlaue Lebenskraft aus.

Für ihr Leben sind die Änderungen der vergangenen zwei Jahrzehnte Äußerlichkeiten. In der Sowjetunion hätten sie sich angesichts der kleinen Rente auch etwas dazu verdienen müssen. Wie heute die vielen armen Rentner im neuen System das Leben und Überleben meistern, ist nur schwer vorstellbar.

Ein Greis mit Partisanenabzeichen aus dem Zweiten Weltkrieg schlurft durch einen Park in Odessa: »Ist die Welt nicht verrückt?« fragt der alte Mann. »Von uns – Russen wie Ukrainer – sind zwanzig Millionen Leute verreckt, um die Welt vom deutschen Faschismus zu befreien. Ich war dabei, habe gekämpft und ein Leben lang gearbeitet. Jetzt bekomme ich eine winzige Rente, unser Land ist immer noch arm. Deutschland, das den Krieg angezettelt und verloren hat, ist wieder eines der reichsten Länder der Welt.« Nein, in seiner Stimme schwingt kein Neid. Vielmehr klingt eine erschütternde Nüchternheit durch, ein Verstehen der Machtzusammenhänge, denen er machtlos gegenübersteht.

Die jüngeren Generationen, Kinder und Enkel dieser Alten, erleben das Durcheinander, das das Ende des Sozialismus in der Ukraine kennzeichnete und aus dem der junge Staat nur mühsam herauskommt. Arina Syvak, Volodjas Tochter, hat das Dorf verlassen und studiert Journalismus in Odessa. Das ist eine Chance und auch Glück, denn die Plätze sind begrenzt, und ohne seine Landwirtschaft könnte ihr Vater nicht die Studiengebühren aufbringen. Arina interessiert sich sehr für Gesellschaft und Politik, kennt sich in Kultur, Literatur und Musik aus. Sie will später in der Ukraine arbeiten.

Nach der Kutschma-Ära

Die »orange Revolution« 2004 hat Arinas Weltbild stark geprägt. Es war der größte Umbruch seit 1990. Auch wenn sich fünf Jahr später immer noch nicht viel im Leben der Menschen verändert hat, so Arina, sei diese Entwicklung wichtig gewesen. Die Politik probiert sich noch aus, meint sie; alles ist möglich, alles kann noch werden. Arina Syvak hat Ideale und will daran arbeiten, veraltete Strukturen abzuschaffen, sie glaubt, daß es möglich ist, in ihrem Land eine friedliche Zukunft aufzubauen. Stabiler ist die Ukraine allerdings nach 2004 mit dem Präsidenten Viktor Juschtschenko nicht geworden. Es gibt nach wie vor viel Armut.

Bis 2004 hieß zehn Jahre hindurch der Präsident Leonid Kutschma. Die von ihm repräsentierte scheinbare Kontinuität mit einer engen Bindung an Rußland bewahrte die Ukraine nicht vor wirtschaftlicher Krise und Hyperinflation. Mit dem Ende der Kutschma-Ära kam eine neue Generation ukrainischer Politiker an die Regierung, die sich von Rußland »emanzipieren wollen« – und sich dem Westen zuwandten.

Mittlerweile hat es unter den drei großen Parteien – Block Unsere Ukraine, Block Julia Timoschenko und Partei der Regionen – verschiedene Koalitionen, Parlamentsauflösungen und meist vorgezogene Neuwahlen gegeben. Oft lähmt man sich in innenpolitischen Fragen gegenseitig. Ukrainische Politiker proklamieren, einen eigenen Weg zwischen EU und Rußland zu suchen. Doch scheint es schwer möglich, echte Unabhängigkeit zu erlangen, zumal diese von den starken Nachbarn vielleicht auch gar nicht gewünscht wird.

In diesem Jahr führte der Notkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), der vorgeblich der Bewältigung der Wirtschaftskrise dienen sollte, über Umwege zu Neuwahlen. Diese sollen am 25. Oktober stattfinden – ein halbes Jahr früher als vorgesehen. Wichtigster Grund ist der Streit zwischen Premierministerin Julia Timoschenko und Präsident Viktor Jusch­tschenko um die Verteilung der IWF-Gelder. Hauptsächlich flossen diese bisher in den Erhalt der Banken und damit in die Stabilisierung der Währung. Allerdings knüpfte der Währungsfonds Bedingungen an die Kreditvergabe: Unter anderem sollen Renten gekürzt und Steuern erhöht werden. Die ukrainische Bevölkerung wird das in der jetzigen Lage nicht nachvollziehen können.

Svetlana Syvak sagt: »Wie kann der Währungsfonds unserer Regierung vorschreiben, welche Gesetze sie zu machen hat! Daß man bei uns das Rentenalter auf 60, 65 Jahre anheben soll wie in Westeuropa? Dabei kann man die Arbeit oftmals gar nicht vergleichen – eine Frau kann hier vielleicht gar nicht jeden Tag bis zu ihrem sechzigsten Lebensjahr auf dem Feld schuften.« Stimmenverluste drohen beiden Hauptprotagonisten des Westens, und da sich Präsident und Parlament seit Monaten gegenseitig in der Entscheidungsfindung blockieren, soll die Neuwahl die Situation retten. Am Grundproblem der Abhängigkeit und des Diktats von außen wird sie kaum etwas ändern.

Kein Visum für Arina

Auch Arina Syvak hat im Alltag erfahren, daß ihre Ideale mit der Realität kollidieren. Sie sieht selbst: Die Studienplätze in den besonders begehrten Fächern werden oft nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, von Schülern mit den besten Noten besetzt, sondern von Kindern der reichsten Eltern. Arina kritisiert die Wohnbedingungen im Studentenwohnheim, das wahrscheinlich seit dem Bau vor Jahrzehnten nicht renoviert wurde. Dort teilen sich die jungen Leute pro Gang eine Küche und eine Toilette, pro Wohnblock eine Dusche. So kennt es ihre eigene Mutter noch, nur waren die Blöcke damals neu.

Arina Syvak würde gern mit ihrem Mann mal über die Donau fahren, die das Heimatdorf Liskij von Rumänien und damit von der EU trennt – aber ein Visum zu bekommen ist für eine junge Ukrainerin so unrealistisch wie ein Lottogewinn. Für einen Visaantrag muß sie Bekanntschaften im Wunschland vorweisen, mehrmals zu »Interviews« fahren und detaillierte Auskünfte über ihr Privatleben machen. »Wenn ich mir durchlese, was wir für ein EU-Visum nachweisen müssen, fühle ich mich wie eine Verbrecherin und will schon gar nicht mehr dorthin. Was soll ich dort, wo man mich anschaut wie eine Nutte oder einen Dealer? Nur weil ich aus einem Land komme, das weniger reich ist.« Arinas Generation fühlt sich irgendwie ausgesperrt. Tatsächlich ist die Reisefreiheit für Ukrainer immer noch ein Traum.

Arinas Mutter Sveta erinnert sich noch, daß bis 1990 Stacheldraht auf dem Damm den Zugang zum Donaustrand versperrte. Damals hörte genau hier, am Donauarm in Liskij, die UdSSR auf. Militär kontrollierte diese Grenze, die sich vom Schwarzen Meer durch das Delta erstreckte. Der Fluß war Sperrgebiet, man konnte ihn sehen und hören. Damals badeten sie in den kleinen Bewässerungskanälen zwischen den Feldern, einem Biotop, das sie sich mit Blutegeln und Mücken teilten. Oder sie fuhren die zwölf Kilometer zum Schwarzen Meer, wo sie in Bungalows der Kolchose bei Vollverpflegung Urlaub machen konnten. Oder sie campten wild am Strand, unter samtenem südlichen Sternenhimmel. Sie waren Meister der Improvisation und verstanden, das Leben zu genießen.

Heute, zwanzig Jahre später, stehen noch einzelne Betonpfeiler auf dem Donau-Damm, von denen sich ein paar Schlingen verrosteter Stacheldraht ringeln. Ein Schild »Uwaga! Hranice!« (Achtung! Grenze!) hängt schief, verbeult an einem der Pfeiler, neben der sandigen Stelle, an der die Kinder baden gehen.

* Aus: junge Welt, 5. September 2009


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