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Moskau sieht sich von Kiew und Brüssel brüskiert

Russisch-ukrainisches Verhältnis erreicht immer neue Tiefpunkte

Von Manfred Schünemann *

Das ukrainische Gasleitungssystem ist reparaturbedürftig. Keine Frage. Wird es nicht saniert, könnte der Gasfluss eines Tages nicht wegen Preisstreitereien, sondern wegen technischer Havarien versiegen. Doch auch dieses Problem ist ein hoch politisches, das allemal geeignet scheint, die ohnehin gespannten ukrainisch-russischen Beziehungen zu belasten.

In Brüssel unterzeichneten die Ukraine und die EU letzte Woche eine politische Deklaration zur Modernisierung des ukrainischen Gastransportsystems. Die Ukraine hatte Investitionen von etwa 5,5 Milliarden Dollar als notwendig erachtet, um künftig den Transport russischen Erdgases nach Westeuropa zu sichern. Verbindliche Zusagen gab es zwar nicht, Weltbank und europäische Investitionsbanken stellten jedoch Kredite in Höhe von etwa 2,6 Milliarden Dollar in Aussicht.

Wohlweislich bestand die EU darauf, dass sowohl Präsident Viktor Juschtschenko als auch Ministerpräsidentin Julia Timoschenko die Deklaration unterzeichnen. Auf diese Weise sollten beide – tief zerstritten – in die Verantwortung genommen werden. Ob dies genügt, bleibt zweifelhaft: Da der Deal zwischen der Ukraine und der EU mit einer Brüskierung Russlands einherging, sind neue Kontroversen auch in der Ukraine vorgezeichnet.

Entgegen früheren Absichtserklärungen war von einer russischen Beteiligung an der Rekonstruktion der ukrainischen Erdgasleitungen zunächst nicht die Rede. Aber kann man über die Erneuerung eines Leitungssystems entscheiden, ohne den Gaslieferanten einzubeziehen?

Russische Vertreter verließen vor Unterzeichnung der zweiseitigen Deklaration demonstrativ den Konferenzsaal und Energieminister Sergej Schmatko erklärte unmissverständlich, dass »jegliche Modernisierung des ukrainischen Gastransportsystems ohne Beteiligung Russlands unvernünftig« sei und dazu zwinge, »über die Zuverlässigkeit der traditionellen Absatzmärkte ernsthaft nachzudenken«. Das Moskauer Außenministerium ergänzte, jede nicht abgestimmte Maßnahme zur Modernisierung des Gastransportsystems könne »zu einem Anstieg der technologischen Risiken und eventuell zu Unterbrechungen der Erdgaslieferungen in die Ukraine und nach Europa führen«. Wie ernst es Russland ist, verdeutlichte Ministerpräsident Wladimir Putin: Es sei »einfach nicht seriös«, Fragen der Gasversorgung ohne den größten Gasversorger zu diskutieren. Prompt sagte er fällige russisch-ukrainische Regierungskonsultationen ab.

Die ohnehin frostigen Beziehungen zwischen Moskau und Kiew erlitten also einen weiteren Temperaturschock. Auf russischer Seite hat sich wegen des von Präsident Juschtschenko eingeschlagenen Westkurses, insbesondere aber wegen seiner nachdrücklichen Bemühungen um einen NATO-Beitritt, ein dauerhaftes Misstrauen gegenüber der ukrainischen Führung entwickelt. Geplante Treffen zwischen den Präsidenten wurden immer wieder verschoben, Regierungskontakte wurden auf ein Mindestmaß reduziert. Viktor Juschtschenkos Parteinahme für Georgien im Kaukasuskonflikt, die sich auch in Beschränkungen für die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol äußerte, führte zur weiteren Abkühlung des ukrainisch-russischen Verhältnisses. Verstärkt wird diese Entwicklung durch den andauernden Machtkampf in der Ukraine, dessen Akteure immer wieder auch die Beziehungen zum großen Nachbarn im Norden für ihren Streit missbrauchen. So wurde Ministerpräsidentin Julia Timoschenko vom Juschtschenko-Lager nach den Gaspreisverhandlungen mit Russland wiederholt des »Landesverrats« bezichtigt.

In einer von gegenseitigen Beschuldigungen und Misstrauen gekennzeichneten Atmosphäre weiten sich ukrainisch-russische Streitfragen zeitweilig zu ernsthaften Konflikten aus. Da geht es nicht nur um Gaspreise und -leitungen, sondern auch um den Flottenstützpunkt in Sewastopol, die Grenzziehung in der Meerenge von Kertsch, den Status des Asowschen Meeres und die Altschuldenregelung.

Alle diese Probleme ließen sich bei politischem Willen durchaus einvernehmlich lösen. Denn beide Länder sind nach wie vor eng verflochten. Beim Ausbau der Beziehungen könnte man sich auch auf die Meinung der Bevölkerungsmehrheit stützen. In Umfragen sprachen sich in der Ukraine jüngst zwei Drittel für ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland aus, knapp 20 Prozent sogar für eine staatliche Vereinigung. In Russland lagen die entsprechenden Zahlen bei etwa 55 und 15 Prozent. Angesichts der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, deren Auswirkungen sich in beiden Volkswirtschaften immer deutlicher zeigen, werden Forderungen nach einem Ausbau der traditionellen Wirtschaftskooperation wieder stärker. Nicht nur Politiker der Opposition, sondern auch Wirtschaftskreise der Ukraine äußerten deshalb ihr Unverständnis über das politische Ränkespiel im Zusammenhang mit der Modernisierung des Gastransportsystems. Auch die EU suchte die Wogen zu glätten: Niemand wolle Russland ausschließen. Nicht zuletzt deshalb lenkte Ministerpräsidentin Timoschenko nach der Brüsseler Konferenz rasch ein und erklärte, dass Russland »selbstverständlich an der Modernisierung und Rekonstruktion des ukrainischen Gastransportsystems beteiligt« sein werde. »Ungeachtet unserer politischen Unabhängigkeit bleiben wir (die Ukraine) außerordentlich abhängig von der Versorgung mit Energieträgern«, gestand sie. Fragt sich nur, ob ihr das nicht neuerlich Verratsvorwürfe aus dem Juschtschenko-Lager einbringt. Ohne innenpolitische Stabilisierung wird die dringend erforderliche Erneuerung der ukrainischrussischen Beziehungen kaum möglich sein.

*Aus: Neues Deutschland, 30.03.2009


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