EU setzt die Ukraine auf die lange Bank
Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wird verschoben
Von Manfred Schünemann *
In Kiew findet am heutigen Montag (19. Dez.) das diesjährige Regierungstreffen
Ukraine – EU statt. Die ursprünglich
geplante Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens
fällt allerdings
ins Wasser.
Nicht nur über die Unterzeichnung
des Assoziierungsabkommens
zwischen der EU und der
Ukraine, sondern auch über die
inhaltlichen Schwerpunkte und die
Verhandlungsebene des Kiewer
Treffens wurde lange debattiert.
Vor dem Hintergrund der politisch
motivierten Prozesse gegen die
ehemalige Regierungschefin Julia
Timoschenko und andere Oppositionspolitiker
in Kiew wollte die EU
eine politische Aufwertung des
Präsidenten Viktor Janukowitsch
und seiner Regierung unbedingt
vermeiden. Andererseits sollte die
Annäherung der Ukraine an die EU
nicht dauerhaft gestört werden.
Deshalb wird das Treffen zwar auf
präsidialer Ebene stattfinden, aber
die fertiggestellten Abkommen
über Assoziierung und Freihandel
werden nicht unterzeichnet. Selbst
eine Paraphierung der Vertragstexte
– als Zeichen des Abschlusses
der Verhandlungen – wurde
auf später verschoben.
Ob und wann die Abkommen
unterzeichnet und ratifiziert werden,
macht die EU-Seite von
»Fortschritten bei der Demokratisierung
in der Ukraine«, einer
»rechtsstaatlichen Überprüfung«
des Urteils gegen Julia Timoschenko
und der »Aufhebung des
Verbots der politischen Betätigung
« für die ehemalige Ministerpräsidentin
und andere Oppositionspolitiker
abhängig.
Jahrelang hatten Brüssel und
Kiew über den Inhalt der Abkommen
verhandelt. Auch während
der Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos
und der Regierungszeit
Julia Timoschenkos war man nicht
zu einem Abschluss gekommen.
Immer wieder wurde der Prozess
durch politische Entwicklungen in
der Ukraine und durch Krisen innerhalb
der Union verzögert. Der
eigentliche Hintergrund ist indes,
dass in der EU – insbesondere
auch in Deutschland – nach wie
vor Zweifel an der Integrationsfähigkeit
der Ukraine bestehen. Eine
Mehrheit hält einen ukrainischen
EU-Beitritt in absehbarer Zeit für
ausgeschlossen. Brüssel ging es in
den Verhandlungen folglich um die
Sicherung des ukrainischen Absatzmarktes
und um die vertragliche
Verpflichtung Kiews, die »europäischen
Grundwerte« –
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie,
Menschenrechte, Meinungspluralismus
– durchzusetzen. Um ihre
dauerhafte »europäische Orientierung
« zu beweisen, sollte sich
die Ukraine von russischen Bündnismodellen
wie dem Gemeinsamen
Wirtschaftsraum oder der
Eurasischen Union abgrenzen.
Der ukrainischen Führung ging
es dagegen vorrangig um eine verbindliche
Aufnahmezusage der
EU, die Abschaffung der Visumspflicht,
die Öffnung des EU-Markts
für ukrainische Waren und
Dienstleistungen und um einen erweiterten
Zugang zu EU-Förderund
Investitionsmitteln. Gerade
davon versprechen sich ukrainische
Oligarchen zusätzliche Profitquellen,
weshalb sie die »europäische
Orientierung« fördern und
in letzter Zeit immer stärker auf
den Abschluss der Abkommen mit
der EU drängen. Selbst Vertreter
der Rüstungsindustrie und des
Schwermaschinenbaus, die im
Gefolge Einschränkungen ihrer
Wirtschaftsbeziehungen zu Russland
befürchten müssten, befürworten
die »europäische Orientierung
«, weil sie darin Garantien
für ihre Selbstständigkeit und gegen
einen Aufkauf durch russische
Großkonzerne sehen.
Auch die Mehrheit der ukrainischen
Bevölkerung unterstützt
den Kurs der Annäherung und einen
künftigen Beitritt zur EU. Vor
allem die jüngere Generation verspricht
sich von der »Zugehörigkeit
zu Europa« völlige Freizügigkeit
im Reiseverkehr, uneingeschränkten
Zugang zum europäischen
Bildungs- und Arbeitsmarkt,
bessere Entwicklungsperspektiven
und höhere Einkommen.
Besonders in der Westukraine
sieht man in den Abkommen
mit der EU zugleich einen
Schutz vor der »neoimperialen
Politik Moskaus«.
Sowohl die EU als auch die politischen
Gegner von Präsident Janukowitsch
in der Ukraine stehen
damit vor einem Dilemma: Werden
die ausgehandelten Verträge
unterzeichnet, wäre der »Weg
nach Europa« für die Ukraine
endgültig frei und die ungeliebte
Janukowitsch-Regierung könnte
den politischen Erfolg an ihre
Fahnen heften. Wird der Assoziierungsprozess
dagegen vorläufig
gestoppt, liefert man Janukowitsch
angeblich einen Vorwand,
die Ukraine in die »offenen Arme
Russlands« zu drängen.
In der öffentlichen Diskussion
überhöhen beide Seiten bewusst
die Bedeutung der kommenden
Schritte. Denn weder eine rasche
Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens
noch eine längere
Verzögerung würde eine
»endgültige« Entscheidung über
die künftige politische und wirtschaftliche
Orientierung der Ukraine
vorwegnehmen. In jedem
Fall werden die Beteiligten weiterhin
nach Möglichkeiten suchen,
ihre jeweiligen Positionen durchzusetzen.
Die Europäische Union
wird ihr wirtschaftliches und politisches
Interesse an der Ukraine
ebenso wenig aufgeben wie Russland.
Auch jede ukrainische Führung
muss künftig sowohl in europäischer
Richtung als auch gegenüber
Russland offen bleiben.
Die Paraphierung der Abkommen
mit der EU wäre demnach
zwar ein wichtiger Schritt in europäischer
Richtung, aber keine
endgültige Entscheidung über die
künftige innere Entwicklung und
die außenpolitische Orientierung
der Ukraine. Auch wenn Brüssel
vor Inkraftsetzung der Verträge an
seiner Forderung nach grundsätzlichen
Korrekturen im politischen
System festhält, können Janukowitsch
und seine Anhänger
den faktischen Abschluss der Verhandlungen
vor den Parlamentswahlen
im kommenden Jahr als
ihren Erfolg verbuchen.
* Aus: neues deutschland, 19. Dezember 2011
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