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Krisengespräche in der Ukraine

Demonstranten freigelassen / Delegation zur EU nach Brüssel *

Eine Rückkehr zum Dialog als Ausweg aus der Krise versuchten am Dienstag in der ukrainischen Hauptstadt Präsident Viktor Janukowitsch und seine drei Amtsvorgänger. Beim Treffen mit Viktor Juschtschenko, Leonid Kutschma und Leonid Krawtschuk kündigte Janukowitsch eine Freilassung von Demonstranten am gleichen Tage und die Entsendung einer Delegation nach Brüssel am Mittwoch an. Sie soll Verhandlungen über eine Assoziation der Ukraine mit der EU weiterführen. In Moskau wird derzeit über den Gaspreis und »strategische Fragen« gesprochen. »Die EU kann ruhig schlafen, wenn die Ukraine normale Beziehungen zu Russland unterhält«, versicherte Janukowitsch. Das Präsidententreffen sollte der Beginn von Beratungen an einem nationalen Runden Tisch sein. Nach Irritationen über Einladungen an die Opposition könnte das Gremium am Mittwoch zusammentreten.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton traf sich am Abend mit Präsident Janukowitsch. Sie verfolge »beunruhigt« die Informationen, nach denen die Polizei den »Sitz der größten Oppositionspartei erstürmt« habe, sagte sie zuvor. US-Vizepräsident Joe Biden forderte den ukrainischen Präsidenten zum Dialog mit der Opposition auf und zeigte sich in einem Telefonat besorgt über die Lage im Land. Die USA unterstützten das Streben der Ukraine nach Europa und begrüßten, dass Janukowitsch den Weg weiter beschreiten wolle. Die Europa-Abteilungsleiterin im US-Außenministerium, Victoria Nuland, traf sich in Kiew mit den drei Oppositionsführern Jazenjuk, Vitali Klitschko (UDAR) und dem Rechtsextremisten Oleg Tiagnibok (Swoboda). Am Mittwoch will der französische Außenminister Laurent Fabius Klitschko treffen. Etwa 200 Menschen protestierten vor der EU-Vertretung gegen eine »Einmischung« der Europäischen Union.

In der Nacht zu Dienstag waren im Kiewer Regierungsviertel Barrikaden beseitigt worden. Es gab ein Dutzend Verletzte. Der Tag verlief weitgehend ruhig. Auf dem Unabhängigkeitsplatz demonstrierten 2000 Menschen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Dezember 2013


Regierungsviertel in Kiew geräumt

Präsident Janukowitsch kündigte Freilassung von Demonstranten an / Verhandlungen über Gaspreis in Moskau

Von Klaus Joachim Herrmann **


In Kiew wurden am Dienstag Gespräche zur Entspannung der Krise aufgenommen. Nachts war das Regierungsviertel geräumt worden.

Rund 2000 Demonstranten harrten am Dienstag gegen Mittag auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz aus. Einige räumten mit Schneeschiebern die Umgebung des Denkmals der Unabhängigkeit. Die Miliz erklärte, sie wolle derzeit nicht das Gebäude der Stadtverwaltung stürmen. »Stab der Revolution« war dort neben dem Eingang mit schwarzer Farbe an die Wand gesprüht worden. Auch die Protestierer wollten bleiben. Sie hatten hier ihren Stab und medizinische Hilfe eingerichtet.

Zur gleichen Zeit berieten die Altpräsidenten Viktor Juschtschenko, Leonid Kutschma und Leonid Krawtschuk mit Staatschef Viktor Janukowitsch die kritische Lage. Offenbar als Zeichen der Bereitschaft zu einer gewissen Entspannung kündigte Janukowitsch dabei laut der Zeitung »Sewodnja« an, dass Inhaftierte, die sich bei den Protesten keiner größeren Vergehen schuldig gemacht hätten, am gleichen Tage freigelassen werden sollten. Das habe er am Vorabend dem Generalstaatsanwalt mitgeteilt. Rechtsverletzer beider Seien müssten sich aber verantworten, betonte er später im Fernsehen. Eine Blockade der Straßen und von Verwaltungsgebäuden müsse beendet und dürfe nicht wieder zugelassen werden.

Das Präsidententreffen sei als Auftakt zu einem nationalen Runden Tisch zu verstehen, hieß es. Dessen Beratungen zur Wiederherstellung politischer Stabilität des Landes sollten bereits um 14 Uhr Ortszeit im Nationalpalast »Ukraina« beginnen. Die Chefs der Oppositionsparteien UDAR, Wladimir Klitschko, und Oleg Tjagnibok von der rechtsextremen »Swoboda« klagten aber, sie hätten keine Einladungen erhalten. Später hieß es, der Runde Tisch solle am Mittwoch zusammenkommen.

Weitere Sondereinheiten wurden nach Kiew verlegt. Insgesamt sollen 6000 Angehörige der Truppen des Innenministeriums und der Miliz in der Stadt sein. In der Nacht zu Dienstag und in den frühen Morgenstunden waren im Regierungsviertel durch die Sondertruppe »Berkut« (Steinadler) Barrikaden aus Mülltonnen, Baumstämmen und Stacheldraht geräumt, Blockaden und Zelte der Protestierer beseitigt worden. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften und insgesamt etwa einem Dutzend Verletzte auf beiden Seiten. Der regierungskritische Internetsender hromadske.tv berichtete, Provokateure hätten vorrückende Sondereinheiten mit Reizgas und Stöcken angegriffen. Am Dienstag lief in der Hauptstadt ein Ultimatum der Behörden an die Demonstranten aus, besetzte Regierungsgebäude zu räumen.

Unklar blieb eine Attacke auf das Hauptquartier der Vaterlandspartei der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko am Montagabend. Keine Behörde wollte dafür die Verantwortung übernehmen, dass mit Maschinenpistolen bewaffnete und vermummte Uniformierte in die Zentrale eingedrungen und Computer an sich gebracht hatten. Allerdings ermittelt der Geheimdienst gegen die Opposition wegen versuchten Staatsstreichs.

Weiterhin hofft die Regierung der Ukraine auf ein Einlenken Russlands beim Gaspreis. Der bisherige sei wirtschaftlich nicht vertretbar, meinte Präsident Janukowitsch nach dem Treffen mit den früheren Präsidenten. »Wir müssen in erster Linie die nationalen Interessen der Ukraine schützen«, sagte er. Russland sei aber »im Prinzip bereit«, über die Verträge zu sprechen. Dies auch deshalb, weil auch Moskau selbst Schaden bei einem Verlust des ukrainischen Marktes erleiden würde.

Der für Energie zuständige Vizepremier Eduard Stawizki erklärte, dass entgegen Informationen im Internet, Verträge mit Russland noch nicht unterzeichnet wurden. Sie würden derzeit überarbeitet. »Ich hoffe auf eine Übereinkunft«, sagte er. Eine Delegation unter Leitung des Vizepremiers Viktor Boiko kläre dazu in Moskau »strategische Fragen«.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Dezember 2013


Keine Verhandlungen

Ukraine: Opposition schlägt Angebot der Regierung aus

Von Reinhard Lauterbach ***


In Kiew hat Präsident Wiktor Janukowitsch am Dienstag mit seinen drei Amtsvorgängern Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma und Wiktor Juschtschenko über die innenpolitische Lage beraten. Nach dem Treffen lud Krawtschuk, der erste Präsident nach der Unabhängigkeit des Landes, die Opposition für morgen zu einem »Runden Tisch« mit der Regierung ein. Die aber lehnte ab. Der Chef der rechtsextremistischen Partei »Freiheit«, Oleg Tjagnibok, nannte den Vorschlag eine abgekartete Komödie; Arsenij Jaceniuk von der Partei »Vaterland« forderte, zu diesen Gesprächen auch »unsere europäischen Partner« hinzuzuziehen; es wird interessant sein, wie die EU auf diesen Vorschlag reagiert, nachdem sie Janukowitschs Vorschlag für gemeinsame Gespräche mit Rußland über die wirtschaftliche Situation der Ukraine Ende November entrüstet abgelehnt hat. Den Vormittag verbrachten die Oppositionsführer in »Konsultationen« mit einer Staatssekretärin des amerikanischen Außenministeriums in der nach wie vor besetzten Kiewer Stadtverwaltung. Auch Lady Catherine Ashton von der EU hatte ihr Kommen angekündigt.

Die Demonstrationen im Kiewer Stadtzentrum hielten auch am Dienstag an. Nachdem sie in der Nacht die im eigentlichen Regierungsviertel errichteten Straßensperren und »Kontrollpunkte« der Opposition geräumt hatte, ließ die Polizei die auf dem Unabhängigkeitsplatz versammelten EU-Anhänger bis auf weiteres gewähren. Bei der Räumung wurden etwa zehn Anhänger der »Freiheits«-Partei verletzt; Oleg Zarjew, Abgeordneter der regierenden Partei der Regionen, berichtete gegenüber einem russischen Nachrichtenportal, er habe in den Krankenhäusern von Kiew mehrere Dutzend bei den Auseinandersetzungen mit den Faschisten schwer verletzte Polizisten besucht. Er nannte die Vorgänge auf dem Maidan eine »oligarchische Revolution«, die auf Umverteilung unter den herrschenden Wirtschaftsclans abziele. Tatsächlich war der »Schokoladenkönig« Petro Poroschenko vor einigen Tagen als erster Großunternehmer des Landes auf dem Unabhängigkeitsplatz aufgetreten. Poroschenko hatte auch schon die »orange Revolution« vor neun Jahren gesponsert.

Inzwischen scheint in der Kiewer Bevölkerung ein gewisser Überdruß über die Dauerdemonstrationen zu herrschen. Die BBC zeigte Passanten, die sich über das »Dauerchaos« und die Straßenblockaden beschwerten. Auch in der Westukraine, der zweiten Hochburg der Pro-EU-Proteste, schalten die Demonstranten offenbar einen Gang zurück. Sie kehrten an ihre Arbeits- und Studienplätze zurück und wollen nur im Notfall wieder auf die Straße gehen. Die Ost- und Südukraine hatten sich an den Protesten ohnehin kaum beteiligt.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. Dezember 2013


Schritt für Schritt Richtung Osten

Jörg Kronauer über die ukrainische Protestbewegung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union und den Einfluss Deutschlands auf den »Oppositionsführer« Vitali Klitschko ****

Vitali Klitschkos Forderung steht fest: Die ukrainische Regierung muss zurücktreten. Der Mann, der noch vor nicht allzu langer Zeit außerhalb der Ukraine nur als Box-Champion bekannt war und nun plötzlich als »Oppositionsführer« weltweit über die Bildschirme flimmert, gibt sich unerbittlich.

Auslöser für die Proteste ist bekanntlich die Entscheidung der ukrainischen Regierung vom 21. November gewesen, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis zu legen. Kiew hatte gute Gründe dafür. Zum einen hätte das Abkommen, wie es in einem Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik heißt, »scharfe und zum Teil sozial äußerst schmerzhafte Anpassungen« von der Ukraine verlangt; die EU war nicht bereit, sie finanziell abzufedern. Zweitens wären schwere wirtschaftliche Verwerfungen im Verhältnis zu Russland, mit dem die Ukraine eng verbunden ist, wohl kaum zu vermeiden gewesen. Um dem Dilemma zu entkommen, forderte Präsident Viktor Janukowitsch die EU auf, gemeinsam mit der Ukraine und Russland nach einer Lösung zu suchen. Daran aber hatten weder Berlin noch Brüssel ein Interesse.

Vor allem für Deutschland hat die Ukraine einen besonderen Stellenwert. Die Bundesrepublik hat seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten ihre Einflusssphäre Schritt für Schritt in Richtung Osten ausgedehnt. Zunächst begannen ab 1990 deutsche Geschäfte mit Osteuropa zu boomen; inzwischen hat die deutsche Wirtschaft dort längst eine dominierende Position. Dann wurden mehrere Staaten Osteuropas mit der Erweiterung der Europäischen Union fest in das deutsche Bündnissystem integriert. Als nächstes stellte sich die Frage, an welchem Machtzentrum sich denn eigentlich die Länder orientieren, die zwischen der erweiterten EU und Russland liegen – an Berlin oder noch an Moskau? Die EU startete die »Östliche Partnerschaft« und bemühte sich, mit ihr die »Zwischenländer« anzubinden – mit Assoziierungsabkommen. Ein »großes geopolitisches Spiel« sei das alles, schrieb unlängst »Zeit«-Herausgeber Theo Sommer. Und weil Berlin und Brüssel meinen, dabei am längeren Hebel zu sitzen, sind sie an einem Vergleich mit Moskau nicht interessiert.

Ganz im Gegenteil. Als die ersten Ukrainerinnen und Ukrainer auf die Straße gingen, um für die Anbindung an die Union zu demonstrieren, da ging es ihnen wirklich nur um das Abkommen, nicht um mehr. Es folgte das Gipfeltreffen in Vilnius, an dem auch drei führende Oppositionspolitiker aus der Ukraine teilnahmen, um sich mit den EU-Staaten über das weitere Vorgehen abzustimmen. Nach ihrer Rückkehr hätten sie »intern vorgetragen«, ihr »Ziel sei ein politischer Machtwechsel«, berichtete die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Mittlerweile hat sich die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung in Kiew mehr oder weniger durchgesetzt. Gelänge es, Janukowitsch zu stürzen, dann könnte es gelingen, eine Regierung in der Ukraine ins Amt zu bringen, die sich allein an Brüssel orientiert – und die bereit ist, dafür sozial äußerst schmerzhafte Anpassungen und schwere Verwerfungen mit Russland in Kauf zu nehmen.

Der richtige Mann dazu wäre Klitschko. Glaubt man dem CDU-Politiker Werner Jostmeier, dann ist Klitschko einst »von der Konrad-Adenauer-Stiftung damit beauftragt« worden, »in der Ukraine eine christlich-konservative Partei (...) zu etablieren«. Seine Partei UDAR, am 24. April 2010 offiziell gegründet, wird von der Stiftung systematisch hochgepäppelt. Auch das Auswärtige Amt bemüht sich um Klitschko: Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hat sich allein zwischen November 2012 und Oktober 2013 mindestens dreimal offiziell mit ihm getroffen, um über die Vorgänge in der Ukraine zu beraten. Der »Spiegel« meldete jüngst, Berlin wolle ihn zum »Oppositionsführer und Gegenkandidaten« zu Janukowitsch aufbauen und gewähre ihm daher publikumswirksame Auftritte etwa an der Seite des deutschen Außenministers.

Klar: In dieser Situation beharrt Klitschko auf dem Rücktritt der Regierung. Schließlich geht es vorrangig nicht darum, die beste Lösung für das Land zu finden – dazu müssten alle Beteiligten miteinander verhandeln –, sondern um einen Machtkampf darum, welche äußere Macht in Kiew das Sagen hat. Allein Klitschkos Inthronisierung würde das ganz im Sinne des Westens entscheiden.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Dezember 2013 (Gastkommentar)


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