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Verrat oder nationales Interesse

Die Ukraine sollte nicht zwischen den neuen Blöcken wählen müssen

Von Kai Ehlers *

Weder eine einseitige Orientierung auf Russland, noch eine einseitige auf den Westen können eine zukunftstragende Lösung für die Ukraine sein.

Aufruhr in der Ukraine. Rufe nach Fortsetzung der »orangenen Revolution« von 2004. Julia Timoschenko, inhaftierte Galionsfigur der ukrainischen Opposition schrieb aus der Haft einen Brief an den Präsidenten. Darin wirft sie ihm vor, mit »Neutralität zwischen EU und Russland« das Assoziierungsabkommen zu zerstören. Der Preis dafür werde der »Verrat der nationalen Interessen der Ukraine« sein. Sie erteilt dem Präsidenten einen Rat: » Unterzeichnen Sie ein Abkommen und die westliche Welt wird Ihnen alles geben.« Für die ganze demokratische Welt werde es eine Ehrensache, die ukrainische Gesellschaft in der europäischen Entwicklungsrichtung nicht zu enttäuschen. Der »zweite Rat« ähnelt dem ersten allzu sehr: »Wenn sie die finanzielle, geistige und politische Unterstützung der ganzen Welt wollen, unterzeichnen Sie den Vertrag ohne demütigende und ungeschickte Versteigerung. Sie bekommen alles ohne Zweifel und Zögern.«

In zigtausendfacher Variation war dieser Tenor, unterfüttert mit Forderungen nach Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes, während des Straßenprotestes zu hören. Aber muss man erst Wikipedia bemühen, um die Geschichte der Ukraine als die eines gespaltenen Landes zu erkennen? Muss man erst an den US-Strategen Zbigniew Brzezinski erinnern, der die Ukraine zum Dreh- und Angelpunkt erklärte, von dem aus Russland auf dem eurasischen Kontinent kleingehalten werden könne und müsse?

Muss man schließlich erst an den Georgienkrieg von 2008 erinnern, bis zu dem die NATO- und EU Erweiterungsrunden eskalierten, wo sie dann strandeten? Muss man erst die Konkurrenz beschreiben, die sich seitdem zwischen Europäischer Union und der entstehenden Eurasischen Union entwickelt? Muss man aufzeigen, dass nicht nur Russland Druck auf die Ukraine ausübt, sondern die Europäische Union nicht minder?

Russland ließ durch nadelstichartige Handelsbeschränkungen erkennen, was geschehen könnte, wenn die Ukraine sich einseitig für die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone entschiede. Die Europäische Union bestand ihrerseits darauf, dass die Ukraine sich zwischen der eurasischen und der europäischen Zollunion entscheiden müsse.

Auch die in das Assoziationsabkommen eingeschlossenen Bedingungen des IWF, nach denen die Ukraine u. a. ihre kommunalen Strukturen kapitalisieren müsse sowie die Koppelung der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens seitens der EU an die Haftentlassung Julia Timoschenkos gehören in diese Kataloge des Drucks, der auf die Ukraine ausgeübt wurde.

Das alles hilft zu verstehen, warum die Ukraine seit sie 1991 die Sowjetunion verlassen hat, keine neutrale Politik betreiben konnte, die ihrer Lage zwischen den entstehenden Regionalmächten Russland, Europäische Union und Türkisch-kleinasiatischem Raum entspräche – oder sich eindeutig einer der Mächte anzuschließen. Von Selbstbestimmung jedenfalls keine Spur! Um so empfänglicher ist natürlich die Ukrainische Bevölkerung, ihr Leben und ihre Zukunft selbst bestimmen zu können!

Der Vorwurf des »Verrats nationaler Interessen« ist in der heutigen Ukraine nichts anderes als eine Luftblase, wenn nicht gar Demagogie, mit der wirtschaftliche oder sonstige Sonderinteressen dieser oder jener Oligarchenclique oder Seilschaft verschleiert werden. Die Masse der Bevölkerung hat andere Sorgen, z. B. visafreien Verkehr, um im Ausland Arbeit zu finden. Das macht das Assoziierungsabkommen mit der EU natürlich attraktiv, aber auch den freien Zugang zu Russland.

Das einzige »nationale« Interesse, das der Geschichte und der heutigen Situation des Landes entspräche, bestünde in der Erkenntnis, dass es dieses »nationale« Interesse nicht gibt. Dagegen gibt es den dringenden Bedarf eines innenpolitischen und ins Außenpolitische reichenden Konsenses zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen, wirtschaftlichen und kulturellen Teilen der Bevölkerung – wenn die Ukraine nicht zum permanenten Kampfplatz oder gar zum Schlachtfeld zwischen den sich seit dem Ende der Sowjetunion neu formierenden Blöcken werden soll.

Als kontraproduktiv hat sich die Forderung an die Ukraine erwiesen, zwischen der europäischen oder der eurasischen Zollunion zu entscheiden. Ein solches Entweder-oder kann die Ukraine allenfalls spalten. Mit tödlicher Sicherheit würde eine solche Entwicklung unter heutigen Bedingungen jedoch eine deutliche Blutspur hinter sich herziehen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Dezember 2013


Westen hinter den Protesten **

Der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow versicherte am Donnerstag bei der Eröffnung eines Treffens der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Kiew, seine Regierung sei »bereit für Dialog« mit der Opposition. Über die Zukunft des Landes könne nur in demokratischen Wahlen entschieden werden.

Protestkundgebungen gab es vor dem Parlament und dem Regierungssitz, auch das Rathaus der Stadt ist weiterhin besetzt. Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko forderte den Westen auf, »gezielte Sanktionen« gegen Präsident Viktor Janukowitsch und seine Familie zu verhängen.

Westliche Politiker stellten sich demonstrativ hinter die Bewegung gegen Präsident Janukowitsch. Der amtierende Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) warnte vor dem Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten. Am Mittwochabend hatte er mit Oppositionsführer Vitali Klitschko die Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz besucht. Ein Treffen mit Premier Asarow wurde für den Abend abgesagt. Für die US-Regierung versicherte Europabeauftragte Victoria Nuland: »Wir stehen hinter den Menschen in der Ukraine, die ihre Zukunft in Europa sehen.«

Russlands Außenminister Sergej Lawrow warf der Europäischen Union eine Überreaktion vor. Es gebe »Hysterie bestimmter Europäer«, nachdem die Ukraine entschieden habe, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterschreiben, sagte Lawrow

Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland aus Norwegen, hat die Einrichtung einer Expertengruppe zur Aufklärung der Ausschreitungen bei einer Großdemonstration gegen die ukrainische Regierung vorgeschlagen. Ziel sei es, das Vertrauen der ukrainischen Bürger in die Politik und in das Rechtssystem ihres Landes wiederherzustellen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Dezember 2013


Urgestein

Von Klaus Joachim Herrmann ***

Das jüngste Misstrauensvotum dient dem ukrainischen Ministerpräsident zur Bestätigung in seinem Amt. Da die Opposition mit ihrem Vorstoß sogar deutlicher als erwartet scheiterte, leitet Mykola Asarow daraus logisch einen Vertrauensbeweis der gewählten Volksvertretung ab. Seit März 2010 ist er Chef des Kabinetts. Der heute 65-Jährige reichte zwar am 3. Dezember 2012 seinen Rücktritt ein, wurde aber zehn Tage später wieder gewählt. Er war zeitweilig auch Vorsitzender der (Regierungs-)Partei der Regionen, ist nun aber, auch um dem Vorwurf einer Ämterhäufung vorzubeugen, zweiter Mann hinter Präsident Viktor Janukowitsch.

Der aus dem russischen Kaluga gebürtige und 1984 in die Ukraine gewechselte Sohn einer Russin und eines Esten ist also mit Turbulenzen vertraut. Gelassenen Umgang damit könnte der Professor mit den Spezialgebieten Mineralogie und Geologie während seines beruflichen Werdeganges gelernt haben. Der führte ihn zu Leuten, die in kritischsten Situationen Ruhe bewahren. Asarow war Chefingenieur eines Bergwerkes, später Institutschef im Bergbauzentrum Donezk. Er gilt als »Urgestein« des politischen Kiew.

Anscheinend ungerührt schilt er die Besetzer und Blockierer von Präsidenten- und Regierungssitzen »Extremisten«, sah bei den Zusammenstößen auf dem Maidan keine Studenten, sondern »gut ausgebildete Provokateure«. Doch sei das Vorgehen der Miliz nicht gerechtfertigt gewesen.

Präsident Janukowitsch hatte seinen Vertrauten zur Begründung des Abbruchs der Verhandlungen mit der EU vorgeschickt. Asarow machte zwar Taktik und wirtschaftliche Zwänge geltend, zog sich aber den besonderen Zorn der EU-Anhänger zu.

Seit Mittwochabend ist der Premier zum Runden Tisch mit der Opposition und gesellschaftlichen Kräften sowie dazu bereit, deren Vertreter mit nach Brüssel zu nehmen – wenn die Blockaden aufgehoben werden. Das wird schwierig. Aber auf sein Gespräch musste der Maidan-Demonstrant und amtierende Bundesaußenminister Guido Westerwelle ja auch erst einmal warten.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Dezember 2013


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